De/Realität des Terrors

Eine stadträumliche Dokumentation von Blickachsen an ehemaligen Lebensmittelpunkten der Opfer des NSU Terrors

Lee Hielscher

Eine kürzere Version dieser Bilddokumentation ist in der Druck-Ausgabe von movements erschienen und kann hier (PDF) heruntergeladen werden.

Auch heute heißt es noch verbreitet: Der NSU Terror traf Zufallsopfer. In meinen Augen bedeutet von Zufallsopfern zu sprechen, eine Reduktion auf die Täter*innen. Denn damit wird implizit gesagt, dass der blanke Hass der Täter für die Auswahl der Opfer entscheidend war und es keiner weiteren Erklärung bedürfe.

Die Opfer des NSU werden so geschichts- und ortlos gemacht. Die Verbrechen des NSU wurden aber nicht irgendwo und an irgendwem begangen, sondern an ganz konkreten Menschen, mit vielschichtigen Biographien, die innerhalb und außerhalb Deutschlands gelebt wurden. Die Opfer wurden nicht an zufälligen Orten ermordet, sondern an zentralen Orten ihres Lebens, in Nachbarschaften wo man sie kannte und schätzte für das, was sie bis zu ihrer Ermordung waren und taten.

Im Zuge meiner Beschäftigung mit den Morden des NSU und den Perspektiven von Opfern und Hinterbliebenen habe ich angefangen, die Orte, an denen die Menschen umgebracht wurden, zu besuchen. Nicht als zusammenhängende, systematische Recherche, wie es die Kuratorin Birgit Maier gemacht hat, sondern aus dem Wunsch heraus, mir die Orte dieser schrecklichen Morde vergegenwärtigen zu wollen. Während der Recherche war ich immer wieder sprachlos, welche Personen und welche Orte sich die Täter*innen für ihre Morde ausgesucht hatten. Geschäfte, die an stark befahrenen und eng bewohnten Straßen lagen und die in das soziale Gefüge einer Nachbarschaft eingebunden waren. Und die über den schrecklichen Mord hinaus ein großes Echo aussendeten an alle in ähnlicher Lage, in ähnlichen Vierteln: Ihr seid nirgendwo sicher.

Beim Besuch von Tatorten versuche ich seither, die Viertel und die Sichtachsen auf die Geschäfte der Ermordeten zu dokumentieren. Es ist eine stadträumliche Recherche über die Realität des rassistischen Terrors, der ganz gezielt seine Wirkung entfaltet hat. Alle (ehemaligen) Läden zeichnen sich durch ihre Öffentlichkeit aus. Es sind keine Kellerräume, mit Eingängen in blickabgewandter Seite, sondern es sind gut einsehbare, von zufälligem Personenverkehr stark frequentierte Geschäfte in Wohnvierteln. Wer dies nicht wahrnimmt, muss es gezielt übersehen.

Im Folgenden wird ein erster Zwischenstand meiner Ortsbesuche dokumentiert. Die Ortsgeschichten der weiteren Ermordeten – Enver Şimşek, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat – werden nach Weiterführung meiner Arbeit ergänzt.

Abdurrahim Özüdoğru | 1952 - 2001 | Nürnberg

Abdurrahim Özüdoğru wird am Abend des 13. Juni 2001 in seiner Änderungsschneiderei an der Nürnberger Siemensstraße Ecke Gyulaer Straße als zweites Opfer des NSU ermordet. Es handelt sich nicht um seinen Arbeitsplatz, sondern eher sein Hobby hier zu arbeiten. Den Laden hatte er gemeinsam mit seiner Ex-Frau aufgebaut, er entwickelte sich schnell zu einer sozialen Institution.

Der Laden liegt in einem ruhigen, aber eng bebauten Viertel in der Nürnberger Südstadt. Zwei Jahre zuvor hat der NSU nur wenige Fußminuten von hier entfernt einen ersten Anschlag mit einer Taschenlampenbombe durchgeführt. Im Gegensatz zur Todesstelle Enver Şimşeks ist dieser Ort keineswegs abgelegen, sondern befindet sich mitten im Herzen der Südstadt. Die Straße hat direkten Zugang zur U-Bahn Station und ist daher auch von Fußgänger*innen stark frequentiert. Davon profitieren auch die zahlreichen Läden. Das Geschäft Özüdogrus befindet sich in einem Eckhaus, ist gleich von zwei Seiten von der Straße und den engstehenden Mietshäuser sichtbar und einsehbar. Es ist zu allen Seiten hin verglast. Die damalige Fenstergestaltung ist noch erhalten. Es heißt, der Laden ließe sich schlecht vermieten. Erst um 2015 herum hat sich ein Nachmieter gefunden, der den Laden nun renoviert hat. Der Fußweg zur U-Bahn führt direkt am Geschäft vorbei, ebenso befinden sich mehrere Parktaschen vor dem Gebäude. Wer einparkt schaut auch direkt auf den Laden. Dies stellte für die Täter scheinbar kein Risiko dar.

Heute erinnert an Özüdoğru eine von einer Initiative erstellte und ausgehangene Gedenktafel. Es wird explizit der politische Kontext der Täter genannt, was scheinbar nicht bei allen auf Zustimmung stieß. Der Schriftzug »von Nazis ermordet« wurde versucht zu entfernen, das Wort »Nazis« ist handschriftlich wiederhergestellt.

Das Wohnviertel beginnt gleich hinter dieser stark befahrenen, mehrspurigen Durchgangsstraße. Im Gegensatz zur Todesstelle Enver Şimşeks ist dieser Ort keineswegs abgelegen, sondern befindet sich mitten im Herzen der Südstadt.
Die Straße hat direkten Zugang zur U-Bahn Station und ist daher auch von Fußgänger*innen stark frequentiert. Davon profitieren auch die zahlreichen Geschäfte.
Der Laden befindet sich in einem Eckhaus, ist also gleich von zwei Seiten, nämlich von der Straße und den eng stehenden Mietshäuser sichtbar und einsehbar.
Der Laden Özüdogrus ist zu allen Seiten hin verglast. Die Fenstergestaltung des früheren Blumenladens ist noch erhalten. Die Räume liessen sich nach dem Mord schlecht vermieten, erst um 2015 herum hat sich ein Nachmieter gefunden, der den Laden aktuell renoviert. Der Fußweg zur U-Bahn führt direkt am Geschäft vorbei, ebenso befinden sich mehrere Parktaschen vor dem Gebäude. Wer einparkt, schaut auch direkt auf den Laden. Dies war für die Täter offensichtlich kein Hinderungsgrund.
An Özüdoğru erinnert diese, von einer Initiative erstellte und angebrachte Gedenktafel. Es wird explizit der politische Kontext der Täter genannt, was scheinbar nicht bei allen auf Zustimmung stieß. der Schriftzug "von Nazis ermordet" wurde zu entfernen versucht, das Wort "Nazis" ist handschriftlich wieder hergestellt.
Die Ecke wirkt etwas verträumt, liegt jedoch direkt im Herzen Nürnbergs, dicht bewohnt und gut frequentiert. Einen Tatort für einen Mord am hellichten Tag erwartet man hier nicht. Wenn ein oberflächlicher Blick über die Klingelschilder schweift, kommt auch das Gefühl auf, hier in einem traditionell deutschen Viertel zu sein. Der Gedanke kommt auf, dass der Mord sich nicht an die Türken in Nürnberg richtete, sondern an die Türken, die sich eine selbstverständliche Existenz in Nürnberg aufgebaut hatten.
Wenige Meter vom Laden entfernt befinden sich an einem Stromkasten in der Gyulaer Straße noch Reste von NPD Plakaten. Von weiteren rechten Aufklebern in unmittelbarer Nähe des Ladens wurde schon früher berichtet.

Süleyman Taşköprü | 1970 - 2001 | Hamburg

Süleyman Taşköprü wird am 27. Juni 2001 in der Hamburger Schützenstraße vom NSU ermordet. Als sein Vater an diesem Tag zurück in den Laden kommt, sieht er noch zwei Männer das Geschäft verlassen, bevor er seinen blutüberströmten Sohn findet. Süleyman Taşköprü konnte seine zahlreichen Ideen für den familiär geführten Lebensmittelladen nicht mehr einlösen. Der Laden ist hier nicht der einzige, der von migrantisch-positionierten Hamburger*innen geführt wird. Auf der westlichen Straßenseite befinden sich gleich mehrere Cafés und kleine Läden. Direkt vor der Tür parken Autos, der Fußweg zwischen den beiden Bushaltestellen an der Schützenstraße verläuft hier entlang, mit viel Publikumsverkehr.

Auf einer gepflasterten Fläche zwischen Todesstelle und Schützenstraße stehen heute zwei Denkmäler. Auf dem städtischen Gedenkstein sind die Namen der NSU Mordopfer mit ihren Lebensdaten vermerkt. Auch die gemeinsame Erklärung der ›Tat‹-ortstädte ist dort eingelassen. Vor dem Steinquader haben die Angehörigen einen roten Stern mit dem Konterfei Süleyman Taşköprüs verlegt. Er soll an den Walk of Fame in Hollywood erinnern. Neben den Gedenksteinen stehen ganzjährig Blumen.

Drei Jahre nach der Errichtung des städtischen Denkmals ist seine weiße Inschrift nicht mehr zu lesen. Es scheint keine Denkmalpflege an diesem Ort zu geben. Mit der Zeit und der nötigen Unaufmerksamkeit schwindet selbst das kurze ›offizielle‹ Hamburger Gedenken an die Opfer des NSU.

Taşköprü-Straße

Als ›Hamburgs Bekenntnis zum NSU‹ firmiert die 2013 umbenannte Taşköprüstraße in den Medien. Hamburg ist die damit erste und einzige Stadt, die eine Straße nach einem Opfer des NSU umbenannt hat. Dies hatten die Angehörigen jedoch nie gefordert. Zudem wird explizit nicht die Straße, in welcher Süleyman Taşköprü starb umbenannt, sondern die Parallelstraße und diese auch nur zur Hälfte. Da es hier kaum Anlieger gibt, entsteht ein öffentliches Gedenken ohne Öffentlichkeit.

Das »Bekenntnis zum NSU« ist eine Leerformel, denn obwohl Hamburg und Umgebung zu dieser Zeit eines der Zentren neonazistischer Bewegung ist, wird bis heute ein Untersuchungsausschuss abgelehnt. Die Schwester Süleyman Taşköprüs kommentierte dies mit den Worten: »Die Schützenstraße kommt mir heute eher wie ein Denkmal für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe vor, als für meinen Bruder.«

Das ›ş‹ bei Taşköprü wurde erst nachträglich ergänzt. Am Tag der Umbenennung wurde eine Tasköprüstraße eingeweiht.
Die wenige hundert Meter lange Kohlentwiete wird jedoch nur zur Hälfte umbenannt. Auf der Mitte der Straße wechselt, ohne erkennbaren, Grund die Straßenbezeichnung. Der südliche Straßenverlauf, welcher auf die Schützenstraße trifft, bleibt als "Kohlentwiete" erhalten, wodurch es keinen Berührungspunkt zwischen Schützenstraße und Taşköprüstraße gibt.
Die wohl am stärksten frequentierte Einrichtung der kurzen Straße, eine preiswerte Tankstelle, bleibt somit in der Kohlentwiete. Es mag marginal klingen, doch würde die Tankstelle in der Taşköprü-Straße liegen, hätte der Straßenname zumindest eine größere Verankerung im Alltag der Tankstellenkunden.
Bisher tragen lediglich zwei Großmärkte die Adresse »Taşköprü-Straße«. Ob die im Bau befindlichen Wohn und Gewerbehäuser die Adresse tragen werden, oder ihr Eingang einer der umliegenden Straßen zugeordnet wird, ist ungewiss.
Die einzige nennenswerte Einrichtung mit der Anschrift »Taşköprü-Straße«
Einer der wenige Verweise auf die Existenz der Straße außerhalb des Viertels.
Die Straße trifft auf die sehr stark befahrene Stresemannstraße. Auch wenn es aufgrund fehlender Anrainer kaum Gründe gibt, die Straße aufzusuchen, ist mit der Ampelkreuzung hier zumindest die Möglichkeit gegeben, dass jemandem die Straße sowie der Informationstext auffällt.
Die minimale Umbenennung fiel jedoch scheinbar nicht ins Gewicht. Die offiziellen Karten der Hamburger Verkehrsbetriebe tragen auch 2016 den alten Namen der Straße. Zugleich wird hier deutlich: Wäre die Schützenstraße umbenannt worden, hätten auch die beiden Bushaltestellen umbenannt werden können und damit eine tiefere Verankerung im kollektiven Alltag erfolgen können.

Tatort Schützenstraße

Die südliche Schützenstraße geht von der stark befahrenen Stresemannstraße ab. Wer von der A7 oder aus der Innenstadt kommt, nutzt die Straße um ins eng bebaute Ottensen zu kommen. Die Straße ist stark frequentiert, sowohl von Autos als auch Passant*innen. Eine Metrobushaltestelle liegt hier ebenfalls.
Links und rechts der Straße erstrecken sich Mietshäuser, die Parkplätze sind umkämpft. Der Lebensmittelladen Taşköprü ist hier nicht der einzige Laden, der von migrantisch-positionierten Hamburger*innen geführt wird. Auf der rechten Straßenseite befinden sich gleich mehrere Cafés und kleine Läden.
n der Mitte der Straße befinden sich im Erdgeschoss eines Mietshauskomplexes zwei Lebensmittelgeschäfte. Eine Bäckerei, hier auf dem Foto zu sehen und gegenüber der ehemalige Taşköprü-Markt. Zwischen beiden Läden ist ein breiter Durchgang zu den dahinter liegenden Wohnhäusern.
Heute befindet sich ein Fahrradladen im ehemaligen Taşköprü Markt. Der Laden ist nicht sonderlich groß und von zwei Seiten verglast. Von der Straße, dem Vorplatz aber auch von umgebenden Wohnungen ist der Laden gut einsehbar. Auf der linken Seite, vor dem Fahrrad, sind die beiden Gedenksteine für Süleyman Taşköprü zu sehen.
Direkt vor der Tür parken Autos, der Fußweg von den beiden Bushaltestellen verläuft hier. Allein wegen den Geschäften auf dieser Straßenseite, läuft viel Publikumsverkehr direkt an dem Laden entlang. Auf der anderen Straßenseite wohnte ein Mitglied der verbotenen neonazistischen FAP, was jedoch für die Ermittlungen keine Rolle spielte.

Denkmal

Auf einer gepflasterten Fläche zwischen Todesstelle und Schützenstraße wurden zwei Denkmäler errichtet. Der gespaltene Steinquader von der Stadt Hamburg und ein davor verlegter roter Stern von der Familie. Die mit weißer Schrift eingelassenen Erklärungen sind schlecht zu lesen.
Auf dem städtischen Gedenkstein sind die Namen der NSU Mordopfer mit ihren Lebensdaten links vermerkt. Rechts ist die gemeinsame Erklärung der Tatortstädte eingelassen. Neben den Gedenksteinen stehen ganzjährig Blumen.
Der Stern wurde von der Familie als persönliches Gedenken durchgesetzt. Im Gegensatz zu dem im Straßengrau gehaltenen städtischen Gedenkstein hebt er sich deutlich ab und hat eine gewisse Signalwirkung.
Obwohl es sich um eine richtige Gedenkstätte handelt, kann sie auch schnell übersehen werden. Viele, die den Gedenkort aufsuchen möchten, finden die Denkmäler nicht auf Anhieb. Auch die parallel verlaufende Taşköprüstraße führt zu zusätzlicher Verwirrung.
Der Stern für Süleyman basiert auf einem Versprechen zwischen den Geschwistern Ayşen und Süleyman Taşköprü. Wenn er zuerst sterbe, wollte er einen roten Stern haben, wie ihn Sylvester Stallone, dem er ähnlich sah, in Hollywood hat.

Denkmal im Jahr 2016

Gerade einmal drei Jahre nach der Errichtung des städtischen Denkmals ist von der weißen Inschrift nichts mehr übrig. Die städtische Erklärung ist nicht mehr zu lesen.
Ebenso sind die Namen der Opfer kaum noch zu erkennen. Auf beiden Steinen breitet sich Moos über die Inschriften aus, wodurch bald nichts mehr zu erkennen sein wird.
Eine städtische Denkmalpflege scheint es nicht zu geben. Mit der Zeit und der nötigen Unaufmerksamkeit schwindet das kurze Gedenken an die Opfer des NSU.

Habil Kılıç | 1963 - 2001 | München

Am Morgen des 27. August wird Habil Kılıç im Lebensmittel- und Feinkostladen seiner Frau ermordet. Es ist Zufall, dass er da ist, wären seine Frau und seine Tochter nicht im Urlaub, stünde er jetzt auf dem Großmarkt. Das Geschäft hatte direkten Zugang zur Wohnung und konnte nach dem Mord nur schlecht weitervermietet werden. Aus bis heute nicht erfindlichen Gründen musste Familie Kılıç das Blut ihres Angehörigen selbst entfernen, ein Tatortreiniger wurde ihnen nie geschickt. Eine einzelne graue Tafel mit den Namen der NSU Opfer und der gemeinsamen Erklärung der Tatortstädte erinnert heute an die Geschichte des Ortes.

Der Laden befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnblocks, wenige Meter von der U-Bahn Richtung Neuperlach entfernt. Ein idealer Standort, bei dem viel Laufkundschaft sicher ist. Zahlreiche Fenster befinden sich direkt gegenüber dem Geschäft, das Viertel ist von Mietskasernen geprägt, hat unter anderem eine wichtige Rolle für die NS Rüstungsindustrie gespielt.

Man wird hier das Gefühl nicht los, dass man immer von irgendjemanden auf der Straße beobachtet wird, allein schon wegen des großen Polizeigebäudes, das sich knappe 60m vom Laden entfernt befindet. Die Täter haben die Polizeidienststelle zweimal passieren müssen, da sie ihre Fahrräder am anderen Ende der Straße abgestellt hatten. Trotzdem hat kein Beamter etwas beobachtet. Mit einem Bild der unzähligen Fenster des Dienstgebäudes versuchte ich diesen räumlichen Zusammenhang festzuhalten. Es zeigt sich, dass die Beamten des Polizeireviers durchaus aufmerksam sind. Während der Aufnahmen wurden ich und vier weitere Personen mit dem Vorwurf der Spionage in Gewahrsam genommen und ohne richterlichen Beschluss und unter Androhung von Gewalt gezwungen, die Aufnahmen zu löschen. Während der polizeilichen Maßnahme wurde klar, dass mindestens ein Beamter keinerlei Kenntnis vom NSU Mord an Habil Kılıç hatte.

Das Lebensmittelgeschäft liegt auf dem Weg zu einer U-Bahnstation und direkt an einer stark befahrenen Ausfallstraße.  Das  Wohnviertel wirkt etwas kaserniert, Wohnblöcke ziehen sich auf beiden Seiten der Straße entlang.
Der Laden befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnblocks, wenige Meter von der U-Bahn entfernt. Ein idealer Standort, bei dem viel Laufkundschaft sicher ist. Heute wird der Laden von jemand anderem betrieben. Neben der Ladenfläche erinnert eine Gedenktafel  an den Mord.
Die Ladenfläche ist begrenzt, jedoch vielfältig genutzt.
Zahlreiche Fenster befinden sich direkt gegenüber des Geschäfts. Man wird das Gefühl nicht los, dass sicher immer irgendjemand die Straße beobachtet.
In der ganzen Straße handelt es sich um das einzige Geschäft. Auch hier wird wieder deutlich, dass es keine wahllose Tat war, sondern über das Viertel und den Laden genaue Informationen eingeholt wurden.
Blick von der 60m entfernten Polizeidienststelle Bad-Schachener Straße auf den Landen am Ende der Straße. Die Täter haben die Polizeidienststelle zweimal passieren müssen, da sie ihre Fahrräder am anderen Ende der Straße abgestellt hatten.

Was bleibt sind viele Fragen über das Selbstverständnis und die Arbeit der Polizei sowie die Tatsache, dass die NSU Morde und das damalige polizeiliche Fehlverhalten offensichtlich keine Bedeutung für die Ausbildung und Reflexion der bei der Polizei haben. Die größte Frage ist jedoch, warum niemand in der Dienststelle diese Aufmerksamkeit für Vorgänge vor dem Dienstgebäude am 27. August 2001 aufbringen konnte.

Mehmet Turgut | 1979 - 2004 | Rostock

Mehmet Turgut versuchte über Jahre einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu erhalten. Am Morgen des 25. Februar 2004 wurde er in Rostock-Toitenwinkel ermordet. Er ist erst wenige Tage in der Stadt und kann im Imbiss eines Freundes aushelfen. Kurz nachdem er öffnet, wird er ermordet.

Der kleine Imbiss befand sich an einem Durchgang zwischen Straßenbahnhaltestelle, Supermarkt und Wohnviertel. Diese Fläche ist heute eine Gedenkstelle mit zwei leeren und kargen Betonbänken. Sie stehen sich nur an einer Stelle direkt gegenüber, wo auf der einen Bank eine deutsche, auf der anderen eine türkische Inschrift eingelassen ist. Mehmet Turgut war jedoch Kurde. Als einzige Gedenktafel bundesweit ist hier nicht die Erklärung der Tatortstädte zu lesen, sondern ein Auszug aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Verweis auf den „menschenverachtenden rechtsextremen Terror“, dessen Opfer Mehmet Turgut wurde. Es werden weder der NSU noch die Namen der anderen Opfer genannt. Auch wenn der Gedenkort etwas deplatziert wirkt, ist er doch zumindest gut frequentiert, da der Weg vom Wohngebiet zur Straßenbahn hier entlang verläuft.

Bis zum 10. Todestag wurden die Gedenkveranstaltungen von der Initiative „Mord verjährt nicht“ organisiert. 2014 richtete die Stadt gemeinsam mit der Einweihung des Denkmals das Gedenken aus und versicherte, dass der Mord an Mehmet Turgut nie vergessen werden dürfe. 2015 stand die Initiative abermals allein da, die Stadt verkündete nur einen Tag vorher eine 15-minütige Gedenkveranstaltung, bei der lediglich Presse anwesend war. Auch 2016 gab es zunächst keine offizielle Planung für das Gedenken, erst auf Nachfrage der Initiative signalisierte die Stadt Unterstützung.

Im Alltag wird die Freifläche um den Gedenkort als Hundewiese genutzt – wobei die Hundehalter*innen der Bedeutung des Ortes augenscheinlich kaum Beachtung schenken.

Rekonstruierter Blick aus dem Imbiss auf den gegenüberliegenden Kindergarten. Das leer stehende Gebäude soll zu einem sozialen Zentrum umgewandelt werden, das den Namen "Mehmet Turgut Haus" tragen soll. Eine Finanzierung gibt es dafür bisher nicht.
Lange Jahre war diese von einer Initiative erstellte Gedenktafel sowie ein selbstorganisiertes Gedenken das einzige, was an Mehmet Turgut erinnerte. Die Forderung nach einem Gedenken wurde von der Stadt in die Ausschreibung eines Denkmals gewandelt. Die Stadt entschied in Eigenregie über die Form des Denkmals.
Die Freifläche, auf der früher der Imbiss stand ist heute ein Gedenkort mit zwei leeren und kargen Betonbänken, auf der einen Bank ist eine deutsche, auf der anderen eine türkische Inschrift eingelassen. Sie stehen sich nur an einer Stelle direkt gegenüber.
Als einzige Gedenktafel bundesweit ist hier nicht die Erklärung der Tatortstädte zu lesen, sondern ein Auszug aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Verweis auf den "menschenverachtenden rechtsextremen Terror" dessen Opfer Mehmet Turgut wurde. Es werden weder der NSU noch die Namen der anderen Opfer genannt. Obwohl Mehmet Turgut Kurde war, ist derselbe Text auf Türkisch zu lesen.
Der Gedenkort wurde vielfach als karg und leer kritisiert. Diese Bänke machen, dass seitens der Stadt unterstrichene "Zusammenkommen" und sich gegenübersetzen unangenehm und fast unmöglich. Ob dies ein Verweis auf eine Auseinandersetzung nach dem NSU ist?
Beide Bänke sind so ausgerichtet, dass zur Uhrzeit, an der die Tat begangen wurde, ein Sonnenstrahl zwischen die Bänke fällt.
Die Freifläche wird augenscheinlich von Hunden als Auslauffläche genutzt. Mit entsprechender Konsequenz. Auch wenn der Gedenkort etwas deplaziert wirkt, ist er doch zumindest gut frequentiert, da der Weg vom Wohngebiet zur Straßenbahn hier entlang verläuft.
Wenn auch entfernt, so ist der Tatort rundum von Hochhäusern umgeben. Die Befragung der Anwohner*innen brachte laut Polizei keinerlei Erkenntnisse.
Der im Hintergrund verlaufende Neudierkower Weg sollte laut Forderung der Initiative "Mord verjährt nicht" in Mehmet-Turgut-Weg umbenannt werden. Die Stadt meint bis heute, dies sei nicht möglich. Der Weg hat nicht mehr als fünf Anrainer.
Bis zum 10. Todestag wurden die Gedenkveranstaltungen von der Initiative organisiert. 2014 richtete die Stadt gemeinsam mit der Einweihung des Denkmals das Gedenken aus und versicherte, dass der Mord an Mehmet Turgut nie vergessen werden dürfe. 2015 stand die Initiative abermals allein da, die Stadt verkündete nur einen Tag vorher ein 15-Minütiges eigenes Gedenken, bei dem lediglich Presse anwesend war. Auch 2016 schien das Gedenken nicht auf der Agenda zu stehen, wurde jedoch nach Anfrage der Initiative sofort unterstützt.

Theodoros Boulgarides | 1964 - 2005 | München

Anfang Juni macht sich Theodoros Boulgarides in der stark befahrenen Trappentreustraße im Münchner Westend selbständig. Im Sekundentakt fahren Autos vorbei, zahlreiche Passant*innen kommen hier zu jeder Tageszeit entlang. Der Laden befindet sich am Anfang einer Ladenzeile, welche die hiesigen Wohnhäuser bis hin zur nächsten großen Kreuzung säumt. Nebenan befindet sich auch heute noch ein gut besuchtes Café. Hier, in seinem neueröffneten Schlüsseldienst, wird Theodoros Boulgarides am 15. Juni 2005 vom NSU ermordet.

Direkt vor dem Laden befindet sich eine Bushaltestelle, die etwa im 5-Minuten Takt angefahren wird. Zwischen Bushaltestelle und Laden besteht eine direkte Blick"-achse. Auch von vorbeifahrenden Autos oder Bussen hätte man in den Laden hineinschauen können. Theodoros Boulgarides wird nicht in seinem kleinen Laden, sondern an einem quasi-öffentlichen Ort ermordet, direkt an der pulsierenden Verkehrsachse des Münchner Westends.

Heute befindet sich hier ein Imbiss. Am Eingang des Hauses erinnert eine Gedenktafel an Theodoros Boulgarides. Sie wurde, wie auch die Gedenktafel für Habil Kılıç, von der Stadt angebracht. Zu lesen ist die gemeinsame Erklärung der Tatortstädte sowie die Namen der Opfer. Der Name von Theodoros Boulgarides ist markanter gesetzt als die anderen. An diesem lauten und hektischen Ort geht die Tafel unter, jedenfalls wirkt sie nicht, als wenn die Stadt mir ihr die Markierung eines stadtgeschichtlich relevanten Ortes beabsichtigt hätte.

Blick auf den Laden

Mitten am pulsierenden Knotenpunkt des Münchner Westends wurde Theodoros Boulgarides in seinem gerade erst eröffneten Schlüsseldienst ermordet.
Der Schüsseldienst liegt an der stark befahrenen Trappentreustraße im Münchner Westend. Im Sekundentakt fahren hier Autos vorbei. Die Straße ist ebenfalls von vielen Passant*innen genutzt. Boulgarides wird inmitten des belebten Münchens ermordet.
Wo sich heute ein Imbiss befindet, wurde 2005 Theodoros Boulgarides ermordet. Der Landen befindet sich am Anfang einer Ladenzeile, die die hiesigen Wohnhäuser bis zur großen Kreuzung säumt. Direkt nebenan befindet sich auch heute noch ein stark frequentiertes Geschäft.
Direkt vor dem Laden befindet sich eine Bushaltestelle, die etwa im 5-Minuten Takt angefahren wird. Es ist ein ein Knotenpunkt nicht nur für den KFZ-Verkehr sondern auch für den ÖPNV. So wird der kleine Laden von Autos, Passant*innen, Nahverkehr und Fahrradfahrer*innen ständig passiert.
Trotz der engen Taktung des Busses warten ständig Fahrgäste an der Haltestelle. Momente, in denen der Weg vor dem Laden leer ist, sind selten.

Blick aus dem Laden

Zwischen Bushaltestelle und Laden besteht eine direkte Blickachse.
Auch von vorbeifahrende Autos oder Bussen hätte man in den Laden hineinschauen können.

Gedenkplakette

Am Hauseingang neben dem ehemaligen Laden erinnert eine Gedenktafel an Thedoros Boulgarides. Sie wurde wie auch die Gedenktafel für Habil Kılıç von der Stadt angebracht.
Zu Lesen ist die gemeinsame Erklärung der Tatortstädte sowie die Namen der Opfer. Der Name von Theodoros Boulgarides ist groß geschrieben.
  • Volume: 2
  • Issue: 1
  • Year: 2016


Lee Hielscher arbeitet ethnographisch und aktivistisch zu Mobilitäten von Arbeiter*innen und struktureller Ausbeutung in der EU, dem Regieren von Migration in der Stadt sowie rassistischen Dynamiken, Figuren und Wissensarchiven.