Sans-Papiers als Urban Citizens?

Die Stadtbürgerschaftsdebatte in der Stadt Zürich und ihre Akteure

Kristina Jäger

Abstract The media often talk about irregular migration, especially about »illegal« border crossings that sometimes end fatally. The situation of sans-papiers living in cities and towns, sometimes for many years, has been ignored for a long time. This should change in the future. The internationally discussed concept of »urban citizenship«, which has its roots in the Anglo- American literature of the early 1990s, has recently gained in importance in German-speaking countries and is currently being discussed in Switzerland. This article approaches the urban citizenship debate from an anthropological perspective. It shows how the rights related to participation and belonging to an urban environment, regardless of ethnic and national origin or residence status are redesigned by local actors, and how rigid understanding of citizenship is expanded through convergence of activist practices and urban policies.


Keywords urban citizenship, sans-papiers, urban society, migration regime, civil society actors


Laut einer Analyse der Vereinten Nationen leben derzeit weltweit mehr als 250 Millionen Menschen außerhalb ihres Geburtslandes (vgl. United Nations 2017). In Zeiten zunehmender Globalisierung verändert sich die Zusammensetzung der Gesellschaft grundlegend. Das Bild der Nation als homogene Gruppe verblasst zunehmend, sodass das hergebrachte Konzept der Staatsbürgerschaft nicht mehr den vielfältigen Lebensformen der im Nationalstaat lebenden Menschen entspricht (vgl. Leimgruber 2016: 17). Migration und damit auch der Zuzug von AusländerInnen ist längst keine Ausnahme mehr, sondern urbane Normalität (vgl. ebd.). Dennoch werden durch herrschende Migrationsregime ›Differenzierungen‹ und ›Ungleichheiten‹ zwischen StaatsbürgerInnen und Nicht-StaatsbürgerInnen, Einheimischen und MigrantInnen im Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen ständig neu reproduziert.

Die zunehmende Mobilität stellt Nationalstaaten vor neue Herausforderungen und wirft neue Fragen auf. Erstens fällt die Gruppe der ›Regierten‹, also der durch ihren Aufenthalt im Staatsgebiet zu Pflichten herangezogenen Menschen, und die Gruppe jener, die die Regierung als Staatsvolk demokratisch legitimieren und neben eben diesen Pflichten auch potenziell volle Rechte innehaben, bereits quantitativ zunehmend auseinander (Identitätsproblem). Zweitens sind bürgerliche, politische und soziale Rechte, die am Beginn des modernen Staates – ausschließlich im Fall der bürgerlichen und politischen Rechte, jedenfalls primär für sozialstaatliche Rechte – den StaatsbürgerInnen zugewiesen waren und damit die Zugehörigkeit zum Staat definierten, heute, etwa kraft völkerrechtlicher Normen, vielen weiteren Menschen offen (Rechteuniversalität) (vgl. Leimgruber 2016: 18). Drittens stellen die aktuellen Dynamiken internationaler bzw. transnationaler Migration auch neue Fragen von postnationaler Zugehörigkeit und Teilhabe in Frage (Dynamikproblem) (vgl. Lebuhn/Hess 2014: 16). Somit bleibt das Verständnis von Staatsbürgerschaft und der mit ihr verbundenen Rechte und Pflichten umkämpft (vgl. ebd.: 14).

›Urban Citizenship‹

Die Debatte um ›Urban Citizenship‹, die ihren Ursprung in der angloamerikanischen Literatur bereits seit Anfang der 1990er hat, wurde im deutschsprachigen Raum eine Zeitlang außer Acht gelassen und nur wenig rezipiert (vgl. Lebuhn/Hess 2014: 13). Umso mehr gewann das Konzept einer ›Urban Citizenship‹ in Zeiten zunehmender Mobilität und damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen an Bedeutung. Um auf die Veränderungen der heutigen mobilen globalisierten Gesellschaften zu reagieren, wird ein neuartiges staatsbürgerliches Verständnis propagiert, das unter dem Begriff der ›Urban Citizenship‹ zusammengefasst wird. Es geht darum, eine neue Vision von städtischer Gesellschaft zu entwickeln und an die vielfältige Normalität moderner Städte anzupassen. Zugehörigkeit und soziale Rechte sollen dabei nicht mehr an eine ›ethnische‹ oder nationale Herkunft geknüpft sein, sondern auf Kriterien beruhen wie dem Wohnort als Lebensmittelpunkt, an der Teilhabe und dem Eingebundensein in die Gesellschaft (vgl. SPAZ 2015: 2). Mit dem Fokus auf der lokalen Ebene, welche die Rahmenbedingungen des alltäglichen Lebens von, formal gesehen, ›BürgerInnen‹ wie ›Nicht-BürgerInnen‹ stark prägt, wird »Citizenship […] nicht einfach als statisches bzw. staatliches Rechtsregime konzipiert, sondern als Praxis, als politisches Konfliktfeld und Aushandlungsprozess« (Lebuhn/Hess 2014: 27), um Stadtpolitiken in Erweiterung oder sogar Überwindung der staatszentrierten Auffassung von BürgerInnenschaft artikulieren zu können. Das Urban Citizenship-Konzept stellt somit einen Versuch da, aus dem starren nationalstaatlichen Konzept auszubrechen, das homogene Bild der Gesellschaft zu hinterfragen und das Verständnis städtischen Zusammenlebens zu erweitern.

Die Idee einer ›Urban Citizenship‹ bzw. ›Stadtbürgerschaft‹ wird in der Schweiz in den einzelnen Städten von zusammenwachsenden Netzwerken und sozialen Bewegungen vorangetrieben. In der Stadt Zürich wurde die politische Debatte um das Konzept einer ›StadtbürgerInnenschaft‹ durch das Kunstprojekt der Shedhalle ›Die ganze Welt in Zürich. Konkrete Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik‹ im Winter 2015/16 ins Leben gerufen. Die Shedhalle ist eine Institution für zeitgenössische Kunst, »ein Ort für die Erprobung und Produktion neuer Formen künstlerischer und kultureller Praxis, die auf gesellschaftspolitische Fragen Bezug nehmen.« (Shedhalle Zürich) Nachdem dieses Projekt im Februar 2016 im Rahmen der Veranstaltung ›Wir alle sind Zürich‹ vorgestellt wurde, bildete sich eine Arbeitsgruppe und später der Verein ›Züri City Card‹ aus VertreterInnen von politischen, kulturellen, kirchlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen und verschiedenen NGO’s, die diese Idee weitertreiben, Gespräche mit Verantwortlichen aus der Stadtregierung führen und die politische Umsetzungsmöglichkeit in der Stadt Zürich prüfen (vgl. Verein Züri City Card). Interviewaussagen zufolge beschäftigen sich mittlerweile auch weitere Städte schweizweit, unter anderem Genf, Luzern, Bern und Basel mit der Idee und prüfen deren Umsetzung.

Basierend auf den gewonnenen Ergebnissen der Masterarbeit, die an der Universität Zürich im Jahr 2017 verfasst wurde, beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit dieser Urban Citizenship-Bewegung in der Stadt Zürich und geht der Frage nach, wie Teilhabe, Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft und damit verbundene Rechte jenseits ethnischer und nationaler Herkunft und unabhängig vom Aufenthaltsstatus neu gestaltet werden können. Ausgewählt wurden Sans-Papiers als betroffene Bevölkerungsgruppe und untersucht, inwieweit das Konzept einer ›Urban Citizenship‹ für diese Gruppe geltend gemacht werden kann. Unter Sans-Papiers werden Personen ausländischer Staatsangehörigkeit verstanden, die sich ohne eine gültige Aufenthaltsgenehmigung mehr als einen Monat und für nicht absehbare Zeit in der Schweiz aufhalten (vgl. Stadt Zürich/Stadtrat/Cuche-Curti 2016). Laut Schätzungen der Studie ›Sans-Papiers in der Schweiz 2015‹ leben hier rund 76.000 Sans-Papiers (vgl. B,S,S Volkswirtschaftliche Beratung 2015: 1), circa 14.000 haben ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt Zürich (vgl. Stadt Zürich/Stadtrat/Cuche-Curti 2016). Obwohl diese Menschen bereits seit Jahren hier leben und arbeiten, können sie ihre Rechte nicht wahrnehmen, ohne eine Ausschaffung zu riskieren. Dies sollte sich in Zukunft ändern.

›City ID Card‹

New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat im Jahr 2015 eine lokale Identitätskarte eingeführt. Für viele Menschen in New York trägt diese Entwicklung maßgeblich zu mehr Sicherheit und zur Verbesserung ihrer Lebensqualität bei (vgl. Abbt/Rochel 2016: 15). Nach New Yorker Vorbild fordern verschiedene Bürgerinitiativen und der Ausländerbeirat der Stadt Zürich, eine städtische Identitätskarte auszugeben. Die ›City ID Card‹ solle als städtischer Ausweis dienen und auch von der Polizei als hinreichender Identitätsnachweis anerkannt werden. Zudem würde, so die Vorstellung, eine solche Karte die Identifizierung der BewohnerInnen mit ihrer Stadt erhöhen. Dadurch könnten die Anonymität und damit die Sicherheit von Sans-Papiers besser gewährleistet werden (vgl. Ritter 2016 vom 21.05.2016). Der Vorteil der ›City ID Card‹ besteht darin, dass in einem ersten Schritt nicht zwingend die weitreichenden weltanschaulichen Implikationen verhandelt werden, sondern zunächst ›nur‹ ein bewusstes Ausblenden der Staatsangehörigkeit in Rechts-, Polizei-, Verwaltungs-Vorgängen innerhalb der Stadt angestrebt wird.

»Städte fungieren gewissermassen [sic!] als Labore gesellschaftlicher Innovationen und gelten als Orte der gesellschaftlichen Transformation« (Staehelin 2016 vom 03.06.2016). Daher liegt es in erster Linie bei den Großstädten, Zielvorstellungen zur Lösung der Ausländerfrage zu entwickeln sowie die Vorstellung städtischer Bürgerschaft zu erweitern (vgl. Hess/Moser 2009: 15). Die ›City ID Card‹ kann als praktische Umsetzung des Urban Citizenship-Konzepts und somit als Reaktion auf veränderte Gegebenheiten in Einwanderungsgesellschaften angesehen werden.

Das Sample

Die Ausgestaltung der kommunalen Handlungsspielräume hängt wesentlich von den Aushandlungsprozessen zwischen den beteiligten AkteurInnen ab. In diesem Beitrag wird die Stadt Zürich als Handlungsraum von lokalen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen und UnterstützerInnen-Gruppen im Aushandlungsprozess um irreguläre MigrantInnen, deren Teilhabe- sowie Beteiligungschancen am städtischen Leben betrachtet. Unter zivilgesellschaftlichen AkteurInnen und UnterstützerInnen-Gruppen werden hier behördliche und zivilgesellschaftliche städtische Institutionen, NGOs/Vereine sowie mit Sans-Papiers zusammenarbeitende politische AktivistInnen verstanden. Die UnterstützerInnen-Gruppen nutzen die lokale Ebene als Aushandlungsraum, um Rechte und Teilhabechancen für irreguläre MigrantInnen einzufordern und auf das Problem der irregulären Migration aufmerksam zu machen. Ihnen gilt ›Urban Citizenship‹ als »ein zukunftsweisendes Projekt und eine politische Inspiration« (Abbt/Rochel 2016: 15), um das nationalstaatliche Verständnis von Citizenship zu hinterfragen und eine neue Form der (lokalen) Bürgerschaft umzusetzen.

Die Datenerhebung über teilnehmende Beobachtung und Interviewführung erstreckte sich über das gesamte Jahr 2016–2017. Es wurden insgesamt neun Interviews geführt und dabei die Sichtweise ehemaliger Sans-Papiers auf das Konzept und auf die Wahrnehmung ihrer Teilhaberechte im städtischen Rahmen einbezogen.

Ihre Visionen mit Blick auf ein Verständnis von Bürgerschaft in der Stadt Zürich werden analysiert, um darzulegen, ob und wie weit ein hergebrachtes Konzept von Staatsbürgerschaft hin zu ›Urban Citizenship‹ weiterentwickelt werden kann und wie es im Alltag diskutiert und erfahren wird. Doch wichtiger wäre die Frage danach, unter welchen Bedingungen und Limitationen es die zivilgesellschaftlichen AkteurInnen für möglich halten, das neue stadtbürgerliche Paradigma aktiv und öffentlich zu verhandeln. In diesem Zusammenhang werden Herausforderungen und Erfolge in der Stadt Zürich mit Blick auf ›City ID Card‹ analysiert.

Sans-Papiers als ›Urban Citizens‹?

Alle InterviewpartnerInnen sehen im Urban Citizenship-Konzept erhebliche Chancen sowohl für die konkret betroffene Wohnbevölkerung wie auch für die gesamte städtische Gesellschaft. Das Konzept wird, so das Postulat, zur Verbesserung der Lebenssituation von Sans-Papiers beitragen, ihnen mehr Anonymität bieten und die ständige Angst vor Verhaftung und Ausweisung nehmen. Dank ›City ID Card‹ als Legitimationskarte würde es für Sans-Papiers möglich, gewisse Sozialleistungen zu erbringen wie zu erhalten und ihre eigene Zukunft zu sichern. In Bezug auf das Zusammenleben in der Stadt würde das Konzept den Sans-Papiers ein Gesicht verleihen und somit virulenten Überfremdungsängsten entgegenwirken, die Bevölkerung für das Problem der exkludierten Mitmenschen sensibilisieren und über bestimmte Lebenslagen dieser Menschen informieren. Die städtische Bevölkerung würde sich durch Verwendung der ›City ID Card‹ solidarisch mit Sans-Papiers erklären und diese als Teil der städtischen Bevölkerung, als ›Urban Citizens‹, akzeptieren. Laut den BefürworterInnen wäre es im Idealfall möglich, das Zusammenhaltsgefühl innerhalb der städtischen Gesellschaft zu stärken, alle EinwohnerInnen, die dies wünschen, StadtzürcherInnen werden zu lassen und somit eine gemeinsame Identität zu schaffen.

Für die Umsetzung des Urban Citizenship-Konzepts haben InterviewpartnerInnen auch die Herausforderungen formuliert, die sich aus diesem Konzept ergeben. Hier wurde von mehreren InterviewpartnerInnen die Praxis der Polizei genannt, vor allem die vermehrten Polizeikontrollen im städtischen Raum. Als äußerst heikle Routine erweist sich ein ›racial profiling‹, das nicht nur die geplante neue stadtbürgerliche, sondern sogar die bereits hergebrachte staatsbürgerschaftliche Egalität unterläuft, indem es Menschen nach äußerlichen Merkmalen zu bevorzugten Objekten polizeilicher Aufmerksamkeit macht und das Vertrauen in Gleichbehandlungsansprüche von ›ordentlichen SchweizerInnen‹ unterminiert. Zudem wurden unklar geregelte Kompetenzen zwischen der Stadt und dem Kanton als Problem definiert. Als Beispiel wurden die Polizeikontrollen genannt, die innerhalb der Stadt Zürich sowohl von der Stadtpolizei als auch von der Kantonspolizei erfolgen könnten. Andere wichtige Herausforderungen, die sich aus dem Konzept einer ›Urban Citizenship‹ ergeben, sind rechtlicher Natur. Gemeint sind dabei ein juristischer Konfliktbereich und damit zusammenhängende Befürchtungen seitens der Betroffenen, sich politisch und juristisch angreifbar zu machen, etwa aufgrund einer widersprüchlichen Praxis der übergeordneten behördlichen Instanzen des Kantons und des Bundes. Eine zusätzliche Herausforderung verbirgt sich laut InterviewpartnerInnen in Ängsten, die in der Wohnbevölkerung herrschten und bei den politischen Abstimmungen deutlich zum Ausdruck kämen.

Die Regierung der Stadt Zürich, der Stadtrat, hat mit einem Positionspapier Stellung zu Sans-Papiers bezogen: »Sans-Papiers sind in Zürich eine Realität. Der Stadtrat zählt sie zur Bevölkerung und anerkennt sie als Teil der Gesellschaft.« (Stadtrat Zürich/Präsidialdepartement 2018) Der Stadtrat benennt Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation und verspricht eine vertiefte Prüfung der Sachlage. Zudem sollte in einem zusätzlichen Rechtsgutachten geklärt werden, ob und wie weit ein städtischer Ausweis dazu einen Beitrag leisten kann. Der Stadtrat ist für eine weiterführende Diskussion zur Stärkung einer auf die Stadt Zürich bezogenen ›Urban Citizenship‹ offen. Der Idee einer ›Züri City Card‹ steht er jedoch skeptisch gegenüber. Diese berge einige Gefahren in sich, »namentlich die mit ihr verbundene Hoffnung auf eine ausländerrechtliche Schutzfunktion ist fraglich und könnte dazu führen, dass Sans-Papiers sich in einer falschen Sicherheit wiegen.« (Stadtrat Zürich/Präsidialdepartement 2018).

Die InterviewpartnerInnen melden hierzu politischen Handlungsbedarf an, wobei eine gesetzliche Grundlage geschaffen und somit ein demokratischer Prozess beschritten werden müsse. Eine offizielle Umsetzung gestalte sich schwierig und beanspruche viel Zeit. Fraglich sei, wie viel man verlangen dürfe und was man dabei politisch riskiere. Bei der Umsetzung des Urban Citizenship-Konzeptes schreiben InterviewpartnerInnen Migrantenorganisationen, Migrantenvereinen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen Schlüsselrollen zu. Wichtig dabei sei, dass die Idee aus der Bevölkerung komme und auch von der Bevölkerung getragen werde.

Nach zweijähriger Beratung, einer Motion der SP-, Grüne- und AL-Fraktion sowie einer Petition vom Verein ›Züri City Card‹, hat der Zürcher Stadtrat schlussendlich im November 2020 die Einführung der ›Züri City Card‹ beschlossen, wobei das Vorhaben an den Gemeinderat herangetragen worden ist, mit dem Ziel, den Umsetzungsvorschlag des Stadtrates zu prüfen und den rechtlichen Rahmen festzulegen (vgl. Verein Züri City Card).

Die vorliegenden Rechtsgutachten machten noch einmal deutlich, daß die ›Züri City Card‹ keinen Verstoß gegen das Bundesrecht sowie gegen die Einführung des städtischen Ausweises in der Stadt Zürich darstellt (vgl. Verein Züri City Card). Am 15. Mai 2022 sagten 51,7 Prozent der Zürcher Stimmberechtigten ein «Ja» zu einem Rahmenkredit von 3.2 Mio. Franken zur Realisierung von Vorbereitungsarbeiten zur Einführung der ›Züri City Card‹ (vgl. Stadt Zürich/Urnengang vom 15. Mai 2022).

Es sei ein sehr großes Projekt. Es sei eine gelebte Realität. Und es sei eine Frage der Zeit, dass man einen Schritt vorwärtskomme.

Schlusswort

Aus Sicht seiner/ihrer BefürworterInnen ist das Projekt einer ›City ID Card‹ in der Stadt Zürich indes nur ein erster Schritt in Richtung auf eine global anschlussfähige ›Urban Citizenship‹ und möglicherweise ein Mittel dazu, überhaupt die formale Zugehörigkeit zu einem Staat und damit verbundene bzw. verweigerte gesellschaftliche Teilhaberechte in Frage zu stellen. Sie positionieren das Urban Citizenship-Konzept als eine denkbare und anstrebenswerte Alternative zu den herkömmlichen nationalstaatlichen Modellen, welche primär durch überkommene staatsbürgerliche Rechte, Pflichten und der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft definiert waren und sind. Die Stärke des Konzeptes besteht darin, dass es von den Lebensrealitäten der betroffenen Menschen in Städten ausgeht und ›die politischen Instrumentarien‹ den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu machen versucht.

Eine wichtige Erkenntnis, die aus den vorliegenden Befunden gewonnen werden konnte, betrifft die Art des Denkens der lokalen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen: In den Interviews mit den VertreterInnen der verschiedenen einschlägigen Gruppen wurde deutlich, wie aus einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem herkömmlichen Konzept der Staatsbürgerschaft und mit der Infragestellung einer defensiven Grenz- und Migrationspolitik sowie aus dem avancierten Postulat der ›Urban Citizenship‹ als einer neuen Form der Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Teilhabe auf städtischer Ebene gedacht, formuliert und politisch agiert wird. Dies allein würde nur belegen, dass die gesellschaftlichen AkteurInnen das Konzept der ›Urban Citizenship‹ verstanden hätten.

Eins steht fest: Ebenso wie andere demokratische Staaten, kann die Schweiz ausländerrechtliche Illegalität nicht vollständig verhindern. Aus diesem Grund werden die Fragen im Umgang mit Sans-Papiers auch in Zukunft aktuell bleiben und in den gesellschaftspolitischen Debatten noch mehr an Bedeutung gewinnen (vgl. Efionayi-Mäder/Schönenberger/Steiner 2010: 6). Ziel dieses Beitrags ist es daher aufzuzeigen, wie die weitgehende Entrechtung irregulärer MigrantInnen auf lokaler Ebene durch zivilgesellschaftliches Engagement abgeschwächt werden konnte und die migrationspolitische Debatte in der Schweiz durch die Auseinandersetzung mit lokalen Teilhabepolitiken nachhaltig beeinflusst wird.

Literatur

Abbt, Christine / Rochel, Johan (Hg.) (2016): Migrationsland Schweiz. 15 Vorschläge für die Zukunft. Hier und Jetzt. Baden. 9–21.

BSS Volkswirtschaftliche Beratung / Swiss Forum for Migration and Population Studies / Universität Genf (Hg.) (2015): Sans-Papiers in der Schweiz 2015. Schlussbericht zuhanden des Staatssekretariats für Migration (SEM). Basel. URL: sem.admin.ch [21.09.2018].

Der Stadtrat von Zürich / Präsidialdepartement (2018): Sans-Papiers sind eine Realität und Teil der Gesellschaft. Position des Stadtrats zu Sans-Papiers in Zürich.12. September 2018, MM, URL: stadt-zuerich.ch [15.09.2018].

Efionayi-Mäder, Denise / Schönenberger, Silvia / Steiner, Ilka (Hg.) (2010): Leben als Sans-Papiers in der Schweiz: Entwicklungen 2000–2010. Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen. Materialien zur Migrationspolitik Bern, URL: ekm.admin.ch [17.01.2019].

Hess, Sabine / Moser, Johannes (2009): Jenseits der Integration. Kulturwissenschaftliche Betrachtung einer Debatte. In: Hess, Sabine / Binder, Jana / Moser, Johannes (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Transcript: Bielefeld. 11–27.

Lebuhn, Henrik / Hess, Sabine (2014): Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsdebatte um Migration, Stadt und Citizenship. In: sub/urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung. 2:3. 11–34.

Leimgruber, Walter (2016): Migration ist der Schlüssel zur Zukunft. In: Ayata, Bilgin / Merane, Jakob / Jermann, Thomas (Hg.): Dossier Migration – Menschen unterwegs. Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel UNINOVA Nr. 128. URL: unibas.ch [20.09.2018].

Ritter, Pascal (2016): Züri-ID für Sans-Papiers. Schweiz am Wochenende 21.05.2016. URL: schweizamwochenende.ch [21.09.2018].

Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) (Hg.) (2015): Informationsbulletin Nr. 33. URL: sans-papiers.ch [19.09.2018].

Shedhalle Zürich. Kunstprojekt: ›Die ganze Welt in Zürich. Konkrete Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik‹ (Oktober 2015 – Februar 2016). URL: archiv2017.shedhalle.ch [21.12.2018].

Stadt Zürich: Vorbereitungsarbeiten zur Einführung der Züri City-Card, Rahmenkredit von 3,2 Millionen Franken. Urnengang vom 15.05.2022.

URL: stadt-zuerich.ch [07.06.2022].

Stadt Zürich / Stadtrat / Cuche-Curti, Claudia (2016): Auszug aus dem Protokoll des Stadtrats von Zürich vom 07.09.2016. GR Nr. 2016/144. URL: gemeinderat-zuerich.ch [21.09.2018].

Staehelin, Jonas: Wie die Bewegung ›Wir alle sind Zürich‹ städtische Zugehörigkeit umgestalten will. In: TSÜRI, 03.06.2016, URL: tsri.ch [03.01.2019].

United Nations / Department of Economic and Social Affairs / Population Division (2017): International Migration Report 2017: Highlights (ST/ESA/SER.A/404). URL: un.org [21.09.2018].

Verein Züri City Card. URL: zuericitycard.ch [26.12.2018].

  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Kristina Jäger is a PhD candidate at the Institute for Cultural Anthropology and European Ethnology, University of Basel and a scholarship fellow at the Graduate School of Social Sciences - G3S. Her dissertation project aims to investigate the experience, living environments and integration needs of highly qualified trailing spouses from both EU/EFTA and third countries with regard to their professional integration in the Swiss labor market.