»Dem Kommando der Partei Folge leisten«?

Migrantische Aneignungen chinesischer Diasporapolitiken am Beispiel auslandschinesischer Gruppierungen in Wien

Carsten Schäfer

Abstract Approximately 50 million ethnic Chinese live outside the borders of China. Not surprisingly, the country aims to reach out to and control »its« diaspora: According to Beijing, all overseas Chinese – regardless of their citizenship – belong to China. By incorporating Chinese living beyond its borders, Beijing seeks to foster the country’s economic and political ascendency. This paper focuses on China’s recent policies towards overseas Chinese as well as on Chinese migrants’ responses towards these policies. It show that, instead of fulfilling the predefined role of »serving the country«, Chinese migrants sometimes turn out to be a double-edged sword: Different groups use and exploit state discourses for own purposes that are not necessarily in line with those of the Chinese state – but that conversely can exert great pressure on the very state that tries to embrace them.


Keywords Chinese migrants, overseas Chinese, diaspora politics, transnationalism


Die wachsende Mobilität von Menschen im Zeitalter der Globalisierung stellt Nationalstaaten und die auf ihnen beruhenden Ordnungsvorstellungen vor zunehmende Herausforderungen. Während sich Migrationsstudien dabei häufig auf Fragen der Immigration fokussieren, wird die Rolle von Herkunftsstaaten in der Analyse von Mobilitätspraktiken meist vernachlässigt – obwohl Herkunftsstaaten mit großen Diasporagruppen oft intensiv daran arbeiten, ihren Einfluss in ›ihrer Diaspora‹ sicherzustellen und transnationale Mobilität für eigene Zwecke nutzbar zu machen. China gehört als weltweit größtes Sendeland von Migrant*innen – ca. 60 Millionen chinastämmige Menschen leben außerhalb der Grenzen Chinas – zu diesen Staaten: Die chinesische Regierung verfolgt eine Politik, die sich weitaus nachdrücklicher um die Anbindung ›ihrer‹ Exil-Bürger*innen bemüht, als dies bei vielen anderen Ländern der Fall ist.

Der vorliegende Artikel rückt diese Politik genauso wie selbstständige Aneignungen dieser Politik durch chinesische Migrant*innen1 in den Fokus und gibt Einblicke in ein noch laufendes Forschungsprojekt, das auf meiner Dissertation (Schäfer 2018) beruht und dortige Befunde vertiefen und theoretisch ausarbeiten will. Zunächst werden – vor allem am Beispiel Österreich, wo zurzeit ca. 40.000 chinastämmige Personen leben – die zentralen Elemente der chinesischen Diasporapolitik nachgezeichnet, mit denen Peking alle chinastämmigen Menschen als Teil Chinas reklamiert und damit der modernen Nationalstaatstheorie alternative Ordnungskriterien entgegensetzt, die von einem ›de-territorialisierten‹ Staat mit diasporanationaler Bürgerschaft ausgehen. Im zweiten Teil wird anhand von Fallbeispielen der Umgang von Auslandschines*innen mit diesen Diasporapolitiken erörtert. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Versuche Chinas, Auslandschines*innen auf der Basis ›vorpostmoderner‹ Kategorisierungen eindeutig zu positionieren, von Betroffenen genutzt werden, um eigene Agenden durchzusetzen – nicht selten gegen den chinesischen Staat. Die vorliegenden Ausführungen stützen sich auf inhaltsanalytische Auswertungen der in Österreich herausgegebenen chinesischsprachigen Medien Europe Weekly (im Folgenden EW), www.achina.at (AC) sowie www.outuo.net (OT); ferner wurden chinesische Staatsmedien, Reden chinesischer Politiker, Kader-Lehrmaterialien sowie chinesische Fachpublikationen inhaltsanalytisch ausgewertet und Experten-Interviews mit auslandschinesischen Vereinsvorsitzenden in Wien geführt.

Chinas Diasporapolitik: Diskurse, Institutionen, Praktiken

Im offiziellen China wird davon ausgegangen, dass alle Auslandschines*innen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft – Teil Chinas sind (vgl. Barabantseva 2005: 11). Diese Annahme basiert vor allem auf rassifizierenden Vorstellungen, denen zufolge Chines*innen innerhalb und außerhalb Chinas durch »traditionelle Banden der Blutsverwandtschaft, Verwandtschaft und landsmannschaftlichen Bindung« (血缘, 亲缘, 地缘等传统纽带关系) (Qiu 2011: 79) untrennbar zusammengehalten werden; sie spiegelt zugleich eine Politik Pekings wider, die darauf zielt, der Mobilität seiner Bürger*innen – die in den vergangenen Jahrzehnten allzu häufig in Braindrain-Erfahrungen mündete – Ordnungs- und Zugehörigkeitskriterien entgegenzusetzen, die sie trotz Auswanderung als Teil des Landes ›erhalten‹. China zielt heute darauf, mit der Hinwendung zu den Auslandschines*innen – Chinas »einzigartigem Glücksfall« (独特机遇) (Deng 2000: 47) – Investitionen zu akkumulieren, ausländisches Knowhow zu importieren und Image Building-Kampagnen im Ausland zu forcieren (vgl. Qiu 2012: 40). Die Diasporapolitik des chinesischen Staates richtet sich entsprechend, so ein Lehrbuch für Parteikader, nicht nur an »chinesische Staatsbürger*innen im Ausland, sondern auch an ethnische Chines*innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft« (侨务工作的对象是华侨, 外籍华人) (Qiaoban 2006: 2).

In der Konsequenz dieser Zielsetzung entstand seit Ende der 1970er Jahre ein institutioneller Apparat, der mit der Durchführung der Diasporapolitik betraut ist. In seinem Zentrum steht – neben den chinesischen Botschaften – das Overseas Chinese Affairs Office (OCAO), das im Staatsrat, d.h. der höchsten administrativen Ebene des chinesischen Staates angesiedelt ist. Die Zielsetzung des Diasporaapparates (vgl. Barabantseva 2005) ist es, die permanente Präsenz des Staates in auslandschinesischen Communities sicherzustellen, politische Leitlinien zu verbreiten und »ein nationales Identitätsgefühl herauszubilden« (培养民族认同感) (Qiu 2011: 53). Hierzu betreibt der chinesische Staat eine Politik der Vernetzung mit auslandschinesischen Organisationen weltweit, die eine unmittelbare Einflussnahme auf auslandschinesische ›Communities‹ gewährleisten soll: Er forciert die Gründung auslandschinesischer Vereine (Schäfer 2018), fördert die Übernahme unabhängiger auslandschinesischer Medien durch chinesische Staatsmedien (Qiu 2012) und bemüht sich um die Kontrolle von chinesischen Sprachschulen, die sich an Nachfahren der ersten Einwanderergeneration richten (Renmin Ribao 2018).

Der zentrale Leitgedanke der Diasporapolitik kreist um die Losung »Hinausgehen« (走出去) und »Einladen« (请进来) (Qiaoban 2006: 7). Ersteres meint die regelmäßige Entsendung von offiziellen Staatsdelegationen ins Ausland, bei denen auslandschinesische Studierende, Schulen, Redaktionen, Geschäfte und Vereine besucht wurden (Schäfer 2018). Auch regelmäßig stattfindende Zusammenkünfte zwischen auslandschinesischen Organisationen und der chinesischen Botschaft – darunter Empfänge zur Verabschiedung von Botschaftspersonal, das chinesische Neujahrsfest (EW 2011c) oder offizielle Jubiläumsfeierlichkeiten (AC 2010) – gehören in diesen Kontext. Zugleich werden immer wieder Konferenzen veranstaltet, an denen Botschaftsmitarbeiter*innen sowie häufig chinesische Delegationen teilnehmen, um sich mit Themen wie Tibet (AC 2012a), dem Inselstreit mit Japan oder den Inhalten von Parteitagen (Qingtian Wang 2018) und Volkskongressen in China (EW 2014) zu befassen.

Bei derartigen Zusammenkünften steht die Verbreitung essentialistischer Identitätszuschreibungen im Zentrum, zu deren Elementen vor allem Patriotismus, Vaterlandsliebe und -treue sowie »Nationalstolz« (民族自豪感) gehören (AC 2012b). Eng damit verknüpft sind immer wiederkehrende Appelle, die chinesische Migrant*innen dazu auffordern, eine »gute Stimme Chinas« (中国好声音) in der Welt zu sein (EW 2011b), zum Wirtschaftsaufbau, zur »Einheit des Vaterlandes« oder zum »Wiederaufstieg des chinesischen Volkes« beizutragen (Western Returned Scholars Association 2018; EW 2011a) – oder schlicht »dem Vorsitzenden Xi Jinping […] Folge zu leisten« (响应习近平主席; AC 2013). Auch die Propagierung ideologischer Leitlinien und die Delegitimierung westlicher Werte gehören zuweilen zum Inhalt solcher Zusammenkünfte – etwa dann, wenn chinesische (Staats-) Journalisten von einer vermeintlichen »Heuchelei der westlichen Demokratie« sprechen (西方民主的虚伪性) (AC 2011).

Der zweite Teil der oben genannten Strategie – [nach China] »Einladen« – meint regelmäßige Reisen auslandschinesischer Organisationen nach China, etwa auf Einladung des OCAO (EW 2011b). Inhaltlich gestalten sich diese Zusammenkünfte ähnlich wie jene, die in Österreich stattfinden. Auch organisieren Chinas Behörden regelmäßig globale Großveranstaltungen wie das »Weltforum chinesischsprachiger Medien« (世界华文媒体论坛) (EW 2011d), die häufig hunderte chinastämmige Menschen aus unterschiedlichsten Ländern mit chinesischen Offiziellen zusammenbringen. Nachfahren der Einwanderergeneration wiederum haben die Möglichkeit, an Sommercamps in China teilzunehmen, die darauf zielen, ethnische und kulturelle Bindungen zu festigen (Thuno 2001). Seit Februar 2018 steht chinastämmigen Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft zudem eine Art Green Card zur Verfügung, die ›normale Ausländer‹ nicht beantragen können (Sohu 2018).

Das heißt: Chinas Behörden haben in den letzten Jahren mit beachtlichem Aufwand Beziehungen zu Chines*innen in Österreich und anderen Ländern institutionalisiert. Die Befunde zeigen China als einen Staat, dessen Behörden sich pluri-lokal auf ein informelles, ethnisch definiertes Netzwerk erstrecken, das nicht nur von einem Cluster an organisatorischen und personalen Beziehungen, sondern auch durch Identitätsnarrative zusammengehalten wird, die einer Aufrechterhaltung von Differenz zum Ankunftskontext Vorschub leisten sollen. Aktuell sind 25 von etwa 55 auslandschinesische Organisationen in Österreich Teil dieses Netzwerkes, in dem der chinesische Staat eine Zentrumsposition beansprucht. Damit vertritt China implizit eine Staatsvorstellung, die auf einem »de-territorialisierten« Staatsgebilde (vgl. Barabantseva 2005: 27) und einer nicht juristisch definierten, sondern auf essentialistisch verstandenen Eigenschaften wie Rasse, ›Bodenbande‹ oder Kultur beruhenden Staatsbürgerschaft basiert. James To bezeichnete Auslandschines*innen vor diesem Hintergrund als »highly coordinated ethno-nationalist force with transnational loyalties. […] [They] serve […] as a ready supply of soft power to advance or support Beijing’s outreach throughout the world« (To 2014: 280). Auch wenn dies auf Teile der chinesischen Diaspora zutreffen mag: Die folgenden Fallbeispiele zeigen, wie die Versuche Chinas, transnationale Bewegungen staatlichen Mobilitätsregimen unterzuordnen, von Betroffenen zuweilen durch widerständige Aneignung genutzt werden, um eigene Agenden gegen den chinesischen Staat durchzusetzen.

Auslandschinesische Aneignungen der chinesischen Diasporapolitik: Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los?

Als im März 2008 in Tibet anti-chinesische Aufstände ausbrachen, die von Peking rasch niedergeschlagen wurden, konnte dies beobachtet werden: Während die sog. Tibet-Krise in westlichen Ländern eine Welle der Empörung auslöste, reagierte die chinesische Regierung mit einer massiven Medienkampagne, die die Unruhen in Tibet im Wesentlichen als »vom Ausland gesteuert« darstellte: China sei – wieder einmal – das Opfer intriganter Machenschaften der »Dalai-Lama-Clique« sowie »europäischer und amerikanischer Kräfte« (Schäfer 2018: 532ff.). Seit dem Beginn der 1990er Jahre ist diese Lesart integraler Bestandteil eines nationalistischen Erziehungsprogramms an Schulen. In diesem Kontext fordert die offizielle Propaganda auch, dass jeder (Auslands-)Chinese sein Land vor derartigen »anti-chinesischen Kräften« verteidigen müsse (Qiu 2011: 188).

Im März 2008 bedienten sich Teile der chinesischen Migrant*innen in Österreich dieser propagierten Rollenzuweisung – und legten sie doch völlig anders aus, als von der chinesischen Politik gewollt: Kurz nach Ausbruch der Krise in Tibet kam es in dem von chinesischen Studierenden in Wien betriebenen Forum www.outuo.net zu tagelangen massiven rassistischen und chauvinistischen Verbalinjurien sowie Gewaltaufrufen gegen Österreicher*innen und Tibeter*innen (OT 2008e). Als die gleichen User*innen am 22. März damit begannen, über das Webforum eine Demonstration »zum Schutz der Einheit des Vaterlandes« zu organisieren, intervenierte jedoch die chinesische Botschaft sowie der mit ihr assoziierte Chinesische Studierendenverband und forderte, die Aktion unverzüglich abzubrechen (OT 2008a): Nationalistisch aufgeladene Aktionen kamen offenbar gerade im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking ungelegen – die von China als Teil einer internationalen Imagekampagne initiiert wurden, die das Land als friedliche Großmacht zeichnete.

Die Studierenden kamen der Aufforderung zwar nach, machten das Eingreifen der Botschaft im Forum allerdings publik – worauf sich der Zorn vieler Nutzer*innen nun gegen die Botschaft wandte, deren Verhalten als Verrat sowie als Nichterfüllung patriotischer Pflichten gewertet wurde (OT 2008c): Jener Nationalismus also, der seine Wurzeln in der Diasporapolitik hat, geriet hier als Chauvinismus außer Kontrolle und richtete sich gegen die vermeintlich ›lasche‹ Regierung selbst. Nachdem auch Versuche des Studierendenverbands, in Form mehrerer Postings die Deutungshoheit im Webforum zu erlangen und den Zorn auf Österreicher*innen und Tibeter*innen zu unterbinden (OT 2008b), keine Erfolge zeitigten, sah sich die Botschaft bzw. der Studierendenverband schließlich gezwungen, selbst eine Demonstration gegen westliche Medien und für die Olympischen Spiele zu organisieren – und postete dazu im Webforum, offenkundig aus Sorge vor den radikalisierten Studierenden, gar einen Regelkatalog, der exakte Vorgaben in Bezug auf erlaubte Parolen, Gesänge und Plakate formulierte und der Sprach- und Verhaltensregeln enthielt, die es Teilnehmer*innen untersagten, während der Demonstration mit österreichischen Medienvertretern zu sprechen (OT 2008d).

Die Vorgänge zeigen, wie verwundbar China sein kann, wenn Protestgruppierungen von einem Hypernationalismus ergriffen werden, der seine Wurzeln in der eigenen Politik hat: Es war die unkontrollierte Aneignung jener Essentialismen, mit denen China Auslandschines*innen in die Nation zu inkludieren versucht, die die Regierung letztlich selbst unter Zugzwang setzte. Die ›eigene‹ Diaspora hatte die vorgegebenen Klassifizierungen nicht einfach übernommen, sondern sie – einem Selbstverständnis folgend, damit die ihnen staatlicherseits angetragene ›patriotische‹ Mission zu erfüllen – stetig zugespitzt und radikalisiert. In diesem Prozess wiederum wurden neue Zugehörigkeitskategorien entworfen, die nun ihrerseits die chinesische Regierung (sowie Tibeter*innen) aus dem ›Wir‹ ausschlossen und das Aufenthaltsland zum Feindbild erklärten. Vor dem Hintergrund dieses Konflikts sah sich die chinesische Botschaft schließlich zur Durchführung einer Aktion gezwungen, die sie zuvor wochenlang zu verhindern versucht hatte.

Andere auslandschinesische Gruppierungen erinnern China unter Verweis auf offizielle Diskurse daran, dass ›patriotische Leistungen‹ der Bürger auch staatliche Gegenleistungen verlangen. So forderte der Verein Chinesische Rentner in Europa e.V. im Februar 2014 in einem öffentlichen Aufruf von der chinesischen Regierung, Renten an jene Auslandschines*innen zu zahlen, die vor der Einführung des Rentensystems in den 1990er Jahren einen Teil ihres Arbeitslebens in China verbracht hatten und nun vom chinesischen Staat keine Unterstützung erhielten (OT 2014). Dabei verwies der Verein nicht nur auf in China geltende Rechte, sondern spielte in seiner Forderung auch geschickt mit Versatzstücken des offiziellen Diasporadiskurses: Chinas Regierung müsse, so der Aufruf, seinen »patriotischen Landsleuten im Ausland« (海外赤子) und »Kindern des Mutterlandes« (祖国的儿女), die stets »um den Schutz der Reputation des Heimatlandes bemüht« gewesen seien (一直为维护祖国的名誉和声望而努力), in ihrer Notlage helfen. In den zitierten Passagen greift der Verein auf Zuschreibungen zurück, die in der Propaganda vom allumsorgenden Vaterland allgegenwärtig sind. Der bisherige Umgang mit Auslandschines*innen jedoch, so der Appell in einer impliziten Drohung weiter, schade dem Image der Regierung. Auch in Forderungen wie dieser – der Streit ist bislang nicht beendet – lernt der chinesische Staat, dass diasporanationale Zugehörigkeit ein zweiseitiger Prozess sein kann: So wie Peking staatliche Interessen durch die Bindung an ›seine‹ Diaspora zu sichern versucht, können die ›mobilen Subjekte‹ ihrerseits die gleiche Politik zur Durchsetzung ihrer Forderungen flexibel nutzbar machen. Klassifikationsregime werden hier von Menschen als Schablonen eingesetzt, deren Lebensmittelpunkt offenkundig seit Jahrzehnten Europa ist, um individuelle Bedürfnisse zu bedienen, die mit der chinesischen Diasporapolitik, mit dessen Inhalten sie spielen, nichts gemein haben. Das Bekenntnis zu China ist hier weniger als Ausdruck eines starren Zugehörigkeitsgefühls zu verstehen, als vielmehr als Spiegel eines souveränen Umgangs mit der eigenen transnationalen Lebenswirklichkeit, die es auch verlangt, unterschiedliche Identitäten kontextabhängig und entsprechend der Vorstellung des Gegenübers einzusetzen, um damit situativ auf aktuelle Problemlagen zu reagieren.

Conclusio

Während Peking Auslandschines*innen als beliebig einsatzbare Manövriermasse im Interesse staatspolitischer Zielsetzungen versteht, werden Diasporapolitiken des chinesischen Staates immer wieder von situativ entstehenden Gegenbewegungen als Empowerment-Instrument genutzt, um eigene Positionen zu legitimieren und durchzusetzen. In der Folge entstehen nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, bloße Reproduktionen offizieller Narrative, sondern vielmehr Uneindeutigkeiten, die ihrerseits den chinesischen Staat massiv unter Druck setzen können. Die Einbeziehung der Auslandschines*innen in das Reformprojekt des Staates zeigt sich damit als zweischneidiges Schwert: Staatliche Politiken der Klassifikation werden hier durch ›Zweckentfremdung‹ zum Gegenstand sozialer oder politischer Kämpfe um die Durchsetzung eigener Interessen.

Aus Sicht der Migrationswissenschaften sind die vorliegenden Befunde nicht nur deswegen von Bedeutung, weil sie zeigen, dass heute noch verbreitete Vorstellungen, denen zufolge Migration schlicht ein »Bruch mit der Herkunft« bedeute (vgl. Han 2005: 215f.) und die migrantische Alltagswelten auf das Verhältnis zwischen Ankunftsland (›Mehrheit‹) und Migrant*innen (›Minderheit‹) beschränken, falsch sind. Auch versprechen sie gerade vor dem Hintergrund der entstehenden Weltmachtstellung Chinas und der Größe der vom Land beanspruchten „Diaspora“ tiefergehende, theoriebildende Erkenntnisse zur Funktionsweise und Ausgestaltung von ›Diasporastaaten‹: Wie versucht China Auslandschines*innen in all ihrer Vielfalt an sich zu binden? Welche Konsequenzen hat dies für die Konzeptualisierung des chinesischen Staates, der sich sukzessive zu einem ›de-territorialisierten Netzwerkstaat‹ wandelt, der die klassische Staatslehre in vielerlei Hinsicht herausfordert? Wie wiederum gehen chinastämmige Personen mit dieser zunehmend offensiven Politik um? Welche Folgen ergeben sich daraus für Integrationspolitiken von Einwanderungsländern? Gerade der Fokus auf Wechselwirkungen und Machtverhältnisse zwischen Staat und ›Exil-Bürgern‹ verspricht dabei Erkenntnisse, die über bisherige staatszentrierte Betrachtungsweisen von Chinas Politik (Barabantseva 2005; To 2012) hinausgehen, die staatliche Wirkmacht bei der Ordnung transnationaler Phänomene dabei aber nicht per se in Frage stellen (Bozdag 2013).

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  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Carsten Schäfer studierte Sinologie und Zeitgeschichte in Wien, Shanghai, Peking und Freiburg i. Br. und promovierte 2018 in Wien. Zwischen 2011 und 2015 Universitätsassistent am Institut für Ostasienwissenschaften / Sinologie der Universität Wien; seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Overseas Chinese Studies und Migrationswissenschaften sowie der chinesischen Geschichte und Außenpolitik.