Remote Control?

Europäisches Migrationsmanagement in Mauretanien und Mali

Stephan Dünnwald

Abstract European Migration management has been extended from the control of the own territory to countries of origin and transit, thus creating new spaces of border surveillance and the disciplining of migrants and migration in Africa. This also remodeled the relations between Europe and the sending or transit states concerned, and left traces in the social, political and economic life of these countries, as well as the ways people conceive and organize mobility. Bargaining over bordering practices increasingly conditions development assistance, soft tools like visa facilitation and circular migration schemes are used both as incentives and to keep targeted groups in their place. Though with the Global Approach on Migration Europe brought forward a comprehensive framework, the practical outcomes in terms of agreements, inter-state cooperation and consequences on the societal level show remarkable differences.


Die EU-europäische Politik des ‚Migrationsmanagements‘, wie auf globaler Bühne mittlerweile der neue Politikansatz zur Migrationskontrolle bezeichnet wird, ist seit gut 15 Jahren auf Herkunfts- und Transitländer der Migrationsbewegungen ausgeweitet worden, und hat damit neue Räume der Grenzüberwachung und der Disziplinierung der Migration in Afrika geschaffen. Der ‚Management‘-Begriff steht dabei für eine Migrationspolitik, die über die bloße Abwehr von unerwünschten MigrantInnen weit hinaus geht. Migrationsmanagement zielt auf die umfassende zwischenstaatliche Steuerung von Migration mit Hilfe zahlreicher internationaler Akteure und Verträge. Seit den 1990er Jahren sind sowohl bilateral als auch durch die Europäische Union zahlreiche Rückübernahmeabkommen geschlossen worden. Diese Abkommen haben als Voraussetzung für die Abschiebung von MigrantInnen einen hohen Stellenwert. Darüber hinaus werden jedoch zunehmend Migrationssteuerung und Entwicklungszusammenarbeit miteinander verbunden. Entwicklungszusammenarbeit oder Handelsabkommen werden konditioniert: Staaten, die im Bereich Migrationsmanagement mit der EU und/oder ihren Mitgliedsstaaten kooperieren, erhalten mehr vom Kuchen. Schon durch das Abkommen von Cotonou aus dem Jahr 2000 wurden Rückübernahmeverpflichtungen von Herkunftsstaaten in die Beziehungen der Europäischen Union mit Ländern des Südens eingeschrieben (Cotonou Abkommen, Art. 12).

Doch das Projekt des Migrationsmanagements beschränkt sich nicht auf diese Politikziele. Regierungen und Behörden von Transit- und Herkunftsstaaten werden in die Pflicht genommen, Migration aus und durch ihre Staaten zu stoppen. Soft tools wie etwa Visaerleichterungen und zirkuläre Migration, häufig vereinbart im Rahmen sogenannter ‚Mobilitätspartnerschaften‘, werden seitens der EU-Staaten sowohl als Anreiz, als auch als Instrumente der Kontrolle benutzt. Die Externalisierung des europäischen Migrationsregimes transformiert dabei die Beziehungen zwischen Europa und den Ländern des Südens und hinterlässt dort tiefe Spuren im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben. Sie verändert auch die Art und Weise, in denen Menschen Mobilität begreifen und vollziehen.

Obwohl die EU mit dem Gesamtansatz für Migration (GAM) vorgeblich ein umfassendes Gerüst für eine gesamteuropäische und umfassende Migrationspolitik und die Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen vorgelegt hat, werden in der Umsetzung dieser Politik erhebliche Unterschiede in Bezug auf Verträge, zwischenstaatliche Kooperationen und die Konsequenzen auf gesellschaftlicher Ebene deutlich.

„Remote Control“ — Fernsteuerung — Dieses Bild könnte als Metapher verwendet werden für die Anstrengungen der EU, afrikanische Transit- und Herkunftsländer in eine globalisierte Abwehr unerwünschter Migration einzuschließen (vgl. Zolberg 2001). Jedoch suggeriert diese Metapher, in der auch das Konzept der „police à distance“ (Bigo/Guild 2005) anklingt, dass die Europäische Union oder auch ihre Mitgliedsstaaten eine effektive Kontrolle aus der Ferne darüber ausüben, was in den sogenannten Drittstaaten geschieht. In diesem Artikel, der auf Feldforschung in Mali (2007–2011) und Mauretanien (2012) aufbaut, vertrete ich die Überzeugung, dass dem nicht notwendigerweise so ist. Anhand der Beispiele Mauretanien und Mali werden unterschiedliche Umsetzungsweisen des GAM diskutiert. Zunächst soll dabei dargestellt werden, was unter Externalisierung europäischer Migrationspolitik zu verstehen ist, um dann in einem zweiten Schritt diesen Prozess und seine Effekte für die genannten zwei afrikanischen Länder darzustellen. Im Falle Mauretaniens hat die EU ihr Ziel scheinbar erreicht: die von Mauretanien ausgehende Migration in Richtung der Kanarischen Inseln ist durch die europäische Interventionen praktisch auf Null reduziert worden. Aber dieser Effekt wurde nicht aus der Ferne erzielt: Denn erst die Entsendung spanischer Sicherheitskräfte und ihre Stationierung in mauretanischen Küstenstädten führte zu einem effektiven Kampf gegen Migration ‚auf dem Strand‘. Die Nebeneffekte dieses ‚Erfolgs‘ der europäischen Politik bestehen in einer anhaltenden, unkontrollierten und zügellosen Verfolgung von westafrikanischen MigrantInnen in Mauretanien.

Im Falle Malis lässt sich dagegen festhalten, dass die EU-europäischen Anreize an das Land, sich in die EU-europäische Architektur der Migrationskontrolle einzugliedern, nicht stark genug waren, um die gleichzeitig offene als auch integrative Bevölkerungspolitik Malis zu verändern. Obwohl Mali sich durchaus kooperationswillig gezeigt hat und an allen wichtigen Euro-Afrikanischen Gipfeln zur Migration teilgenommen hat, ist die Migration durch und aus Mali immer noch weit davon entfernt, von irgendjemandem kontrolliert zu werden. Die Entwicklungen der letzten 15 Jahre legen nahe, dass die Inklusion Malis in die Migrationspolitiken der EU auch weiterhin ein sehr langer Prozess sein wird.

Der Gesamtansatz für Migration

Migration aus dem subsaharischen Afrika nach Europa ist zahlenmäßig ein zu vernachlässigendes Phänomen, verglichen mit der Einwanderung aus anderen Regionen (vgl. de Haas 2008). Allerdings wird dieser Migration, die vor allem als Migration der Armen verstanden wird, sowohl in den europäischen Medien als auch die Politik unverhältnismäßig hohe Aufmerksamkeit zuteil. Seit den 1980er Jahren wurden die Migrationsbewegungen aus dem Süden nach Europa durch Visaregime, dem Ausbau von Grenzkontrollen, Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsstaaten und einen starken Anstieg von Abschiebungen zunehmend eingeschränkt. Dies beendete zwar nicht die Migration aus dem Süden, illegalisierte aber einen Großteil der Bewegungen in Richtung Europa. Statt einem legitimen Vorhaben ist Süd-Nord-Migration aus der Perspektive der europäischen Staaten und Gesellschaften seit Mitte der 1970er Jahre etwas, dass kontrolliert und verhindert werden muss. Der Begriff der ‚Festung Europa‘ bezeichnet dieses europäische Politikziel. Sie wird seit den 1990ern durch die Installation von Zäunen, Stacheldraht, Patrouillen und elektronischer Überwachung entlang der südlichen und östlichen Grenzen der Europäischen Union stetig ausgebaut und gefestigt. Dennoch fand und findet Migration weiter statt. Während die Europäische Union versucht, die Löcher im Zaun zu schließen, haben sich die Routen der Migration immer wieder verschoben. Um Migration schon zu bekämpfen, bevor sie die europäischen Außengrenzen erreicht, wurden seit etwa 2000 zunehmend Transitstaaten in die europäische Migrationskontrolle einbezogen.

Ein ‚Meilenstein‘ der ‚neuen‘, externalisierten europäischen Migrationspolitik wurde nach den Ereignissen in Ceuta und Melilla 2005 gesetzt. Die beiden spanischen Exklaven auf dem afrikanischen Kontinent wurden im Oktober jenen Jahres Schauplatz kollektiver Versuche subsaharischer MigrantInnen, die stark gesicherten Zäune, die hier Europa von Afrika abgrenzen, zu überwinden. Viele AfrikanerInnen wurden dabei durch den Stacheldraht wie auch durch die Schlagstöcke der Polizei stark verletzt, mehr als ein Dutzend Menschen durch Schüsse getötet. Marokkanische Sicherheitskräfte trieben die außerhalb der Zäune verbliebenen MigrantInnen zusammen und schoben sie entweder in die Wüste oder in ihre Herkunftsländer ab. Die mediale Berichterstattung löste erregte Debatten in Europa, wie auch in afrikanischen Ländern aus.

In Folge dieser Ereignisse von Ceuta und Melilla, und während Spanien die Zäune rund um die Exklaven verstärkte, kam es im Oktober 2005 zu einem informellen Treffen des Europäischen Rates in Hampton Court in der Nähe von London. Dort wurden die ersten Ansätze der ‚neuen‘ europäischen Migrationspolitik unter dem Banner des Migrationsmanagements verabredet. Im November 2005 unterbreitete die Kommission einen ersten Vorschlag, der dann unter dem Titel „Gesamtansatz zur Migrationsfrage“ auf dem Europäischen Gipfel im Dezember 2005 verabschiedet wurde (Rat 2005; Rat 2006). Dieser Gesamtansatz wurde 2011 zum „Gesamtansatz für Migration und Mobilität“ (Kommission 2011) fortgeschrieben und firmiert oftmals unter der Abkürzung GAM (Global Approach to Migration) oder GAMM (Global Approach to Migration and Mobility).

Der Gesamtansatz unterstreicht, dass Grenzkontrollen allein nicht ausreichend seien, um die Migration effektiv zu kontrollieren. Zwar verfolgt der Gesamtansatz eine Europäisierung des Grenzschutzes, insbesondere durch eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, ergänzt diese Politik aber um weitere Elemente. Dem Gesamtansatz geht es um eine breitere Strategie, welche Migration als ‚globales Phänomen‘ begreift und daher die Herkunfts- und Transitländer nun intensiver und konsequenter als bisher über einen ‚Dialog‘ in ein gemeinsames Projekt des Migrationsmanagements einzubinden sucht.1 Diese Politik der Externalisierung über die Einbeziehung von Drittstaaten kann als die zentrale Botschaft des Gesamtansatzes verstanden werden. In der Wortwahl der Kommission werden mit dieser Politik, die „den Nutzen der Migration für alle Beteiligten im partnerschaftlichen Geiste optimieren“ (Kommission 2005: 6) möchte, afrikanische Staaten in die Migrationskontrolle eingebunden. Dabei stützt sich der GAM auf den sogenannten „migration routes“-Ansatz, der den Fokus nicht mehr auf die unmittelbare Grenzlinie richtet, sondern die Transitpraktiken und -wege der Migration anvisiert (siehe hierzu Hess 2013). Die EU erweiterte dies um das Ziel, die Ursachen von Migration im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit anzugehen und die positiven Effekte der Migration durch die Kanalisierung von Rücküberweisungen und Rückkehrhilfen zu stärken. All diese Maßnahmen werden ergänzt durch das Versprechen, legale Migrationswege zu eröffnen.

Gipfel in Rabat und Tripolis 2006, Madrid und Lissabon 2007 sowie Paris 2008 sind die Etappen dieser afrikanisch-europäischen Dialogpolitik über Migrationspolitiken, die zudem von einer Unzahl informeller Treffen zwischen PolizeirepräsentantInnen, GrenzschützerInnen und RegierungsbeamtInnen ergänzt wurden. Das wichtigste Treffen zwischen afrikanischen und europäischen Regierungsoberhäuptern war der Gipfel in Rabat, Marokko, im Jahre 2006, welcher in den von der intergouvernementalen Organisation International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) koordinierten Rabat-Prozess2 mündete. Dieser Prozess vereint eine Vielzahl von Einzelinitiativen, Konferenzen und Projekten, die zum Großteil von der Europäischen Kommission finanziell gefördert wurden.

Am stärksten wurde dieses Modell in den nord- und westafrikanischen Küstenstaaten umgesetzt, und knüpfte zumeist an verschiedene bereits bestehende bilaterale Prozesse an, die im Gesamtansatz aufgingen: Italien schloss Abkommen mit Tunesien und Libyen ab, Frankreich und Spanien standen schon in Verhandlungen mit dem Senegal, Marokko und Mauretanien. In einigen der maghrebinischen Transitstaaten kam der EU zugute, dass Migration aus dem subsaharischen Afrika ambivalent konnotiert war. So konnte die Europäische Union, gemeinsam mit internationalen Akteuren wie IOM oder ICMPD, aber auch Organen der Vereinten Nationen, mit Erfolg diese Migration als illegal und irregulär kennzeichnen.

Mauretanien: Kampf gegen die Migration auf dem Strand

Mauretanien, nur spärlich bevölkert und zwischen den mächtigeren Nachbarn Marokko und Senegal gelegen, nahm für einige Jahre die Rolle des Tors nach Europa ein. Nach der Schließung der Transitrouten über die Straße von Gibraltar und in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im Jahre 2005 wurden die Kanarischen Inseln das Ziel mehrerer Zehntausend — überwiegend westafrikanischer MigrantInnen. Die Inseln gehören zu Spanien, liegen zwischen 100 und 400 Kilometer vor der süd-marokkanischen Küste und damit rund 1000 Kilometer nördlich von Mauretanien. Nachdem Marokko begonnen hatte, seine Atlantikküste zu kontrollieren, verschoben sich die Orte der Abfahrt nach Süden. Zwischen 2005 und 2007 wurden die mauretanischen Städte Nouadhibou und Nouakchott die bevorzugten Abfahrtszonen. Dutzende kleiner Holzboote, Pirogen oder Cayucos genannt, legten jede Nacht von den Stränden ab. Zur gleichen Zeit versuchten Spanien und die Europäische Union, Einfluss auf die mauretanische Regierung zu nehmen, damit diese die Transitmigration via Mauretanien unterbinde, sowie um sie zur Rücknahme von MigrantInnen, die auf Hoher See aufgegriffen wurden, zu verpflichten.

Mauretanien als Einwanderungsland

Lange bevor Mauretanien als Transitland für MigrantInnen Richtung Europa bekannt wurde, war es schon ein Einwanderungsland. Fast alle StraßenhändlerInnen, die Kleidung, Uhren, Sonnenbrillen oder Mobiltelefone verkaufen, sind MigrantInnen, meistens aus dem Senegal oder Mali. Ihr Leben kann nicht unbedingt als prekär bezeichnet werden: Preisunterschiede zwischen den Märkten und grenzüberschreitende Handelskontakte garantieren ihnen einen gewissen Profit. Jenseits dieser sehr sichtbaren Präsenz in den Straßen halten MigrantInnen auch ganze Industriezweige am Laufen. Die Einwanderung begann schon unter der Kolonialherrschaft Frankreichs. In den 1950er Jahren war Mauretanien noch eine nomadisch geprägte Gesellschaft, die auf Viehwirtschaft und Handel beruhte. Fisch war kein Teil der Ernährung; es heißt, die MauretanierInnen lebten mit dem Rücken zum Meer. Die Entwicklung der Fischindustrie, Infrastrukturprojekte und die Erschließung der Erzvorkommen unter der Kolonialherrschaft schufen eine Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften, die vor allem durch Arbeitsmigration aus dem Senegal, Mali und einigen anderen westafrikanischen Ländern befriedigt wurde. 1960 wurde Mauretanien unabhängig und 1975 wurde es Mitglied der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), deren Grundlage nicht allein der Freihandel, sondern auch die Bewegungsfreiheit zwischen den Mitgliedsstaaten ist.

Auch als Mauretanien 1999 aus der ECOWAS ausschied, wurde die Bewegungsfreiheit für MigrantInnen aufrechterhalten und durch bilaterale Abkommen mit Mali und dem Senegal formalisiert. Dabei ging es nicht nur darum, den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in Mauretanien weiter zu decken, sondern auch um die Sicherung des Status von rund 200.000 mauretanischen MigrantInnen, die in verschiedenen westafrikanischen Staaten als HändlerInnen und LadenbesitzerInnen arbeiten und leben. Schätzungen über die Zahl an MigrantInnen aus dem subsaharischen Afrika in Mauretanien schwanken stark zwischen 65.000 und 200.000, die meisten von ihnen stammen aus benachbarten Ländern (Di Bartolomeo/Fahkoury/Perrin 2010: 1; UNHCR/EU/IOM 2007: 113). Dabei unterstreichen die großen Unterschiede zwischen diesen Schätzungen die Tatsache, dass die Migration nach Mauretanien im Wesentlichen aus informellen Bewegungen besteht. Die meisten MigrantInnen kommen legal und regulär nach Mauretanien. Doch wie der mauretanische Migrationsforscher Ali Bensaâd trocken bemerkt: „[D]iese Einwanderung ist weder formalisiert oder staatlich organisiert oder kontrolliert. Deshalb ist sie auch keine Überschreitung oder illegale Aktion, sondern schlicht dem Informellen überlassen“ (Bensaâd 2008: 179). Die Unterscheidung zwischen regulärer und irregulärer Migration macht keinen Sinn. Dies trifft auch auf die meisten anderen westafrikanischen Länder zu, in denen Migration und die Anwesenheit von MigrantInnen eine Normalität im alltäglichen Leben darstellen. Auch wenn die Bewegungsfreiheit innerhalb des ECOWAS-Raums einigen Einschränkungen unterliegt, so wurde das Konzept der irregulären Migration sowie die Klassifikation von Staaten als Transitländer erst aufgrund europäischer und internationaler Einflussnahme eingeführt (vgl. Fall 2007).

Bereits vor dieser Illegalisierung waren die Beziehungen zwischen westafrikanischen MigrantInnen und mauretanischen BürgerInnen nie ohne Spannungen. Die westafrikanischen MigrantInnen trafen in Mauretanien auf eine Bevölkerung, die sich noch nicht von ihrer Geschichte als Sklavenhaltergesellschaft gelöst hatte. Die Unterscheidung zwischen ‚schwarzen‘ (haratin, ehemalige SklavInnen) und ‚weißen‘ (beidane) maurischen EinwohnerInnen, sowie den Ethnien der Halpulaar und Soninké aus dem Süden sind prägend für die sozialen Beziehungen. Jenseits der Sklaverei scheinen heute informelle Abhängigkeiten von größerer Relevanz zu sein. Darüber hinaus führten nationalistisch gefärbte Spannungen Ende der 1990iger Jahre zu einem Grenzkrieg mit Senegal und zur Vertreibung von mehreren Zehntausend ‚schwarzer‘ MauretanierInnen aus Südmauretanien. Der Versöhnungsprozess und die Rückkehr der Flüchtlinge aus dem Senegal gehen seitdem nur langsam vonstatten. In Anbetracht dieser Historie fällt es der mauretanischen Gesellschaft schwer, eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Die Anwesenheit von MigrantInnen aus dem subsaharischen Süden verkompliziert diesen Prozess weiter, obwohl sie als notwendige Arbeitskräfte über Jahrzehnte hinweg willkommen waren. Dies war die ungefähre Ausgangslage in Mauretanien, als ab 2005 eine wachsende Zahl von MigrantInnen ankam, um von hier aus die Überfahrt auf die Kanarischen Inseln zu wagen.

Spanische Grenzen in Afrika

Angesichts der steigenden Zahl von MigrantInnen, die auf den Kanarischen Inseln ankamen, führte Spanien ab dem Jahr 2000 verschiedene Maßnahmen ein, um der Migration Herr zu werden: zum Beispiel Legalisierungen, verstärkte Grenzüberwachungen wie etwa durch das SIVE Programm zur Überwachung von Spaniens Südküste (Sistema Integrado de Vigilancia Exterior) sowie den Einbezug von Transit- und Herkunftsländern in den Kampf gegen die Migration. Insbesondere im Plan África (Gobierno des España 2006), der erst 2006 veröffentlicht wurde, entwickelte Spanien ein enge Verzahnung von Migrations- und Entwicklungspolitiken und eröffnete als ersten Schritt einer verstärkten Kooperation im Hinblick auf Migration eine Reihe von Botschaften in Westafrika. Auch innerhalb der Europäischen Union wollte Spanien eine führende Rolle in der Formulierung von europäischen Migrationspolitiken einnehmen (vgl. Casas/Cobarrubias/Pickles 2010: 82f.; Pinyol 2007: 3f.). Spanien entwickelte dabei eine Herangehensweise, welche Kooperation seitens der afrikanischen (Partner-)Länder mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit belohnt, ähnlich wie es auch der Gesamtansatz der Europäischen Union vorsieht.

Zur Abwehr der Migrationsbewegungen mit dem Ziel Kanarische Inseln intensivierte Spanien zunächst seine Patrouillen auf Hoher See. Unterstützt durch Flugzeuge versuchten die spanische Marine wie auch die Schiffe der Guardia Civil, Boote aufzuspüren und diese dann in Richtung der afrikanischen Küste zurückzudrängen. Seit Herbst 2006 wurden diese Bemühungen durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex im Projekt HERA (vgl. Kasparek/Wagner 2012) koordiniert. Trotz dieser Bemühungen schlüpften viele Boote durch die Maschen, und viele der abgefangenen MigrantInnen mussten auf die Kanarischen Inseln gebracht werden, weshalb die Ankunftszahlen nicht signifikant sanken. Ganz im Gegenteil kamen im Jahr 2006 mehr als 30.000 MigrantInnen auf den verschiedenen Inseln an, die bis dahin höchste Zahl. Diese Entwicklung stellte ohne Frage das Hauptmotiv der spanischen Behörden dar, die Migrationskontrollen auch auf das afrikanische Festland auszuweiten. 2006 schloss die spanische Regierung zwei Abkommen mit der mauretanischen Regierung, welche im Sommer und Herbst 2006 schrittweise folgende Maßnahmen nach sich zogen: 250 spanische PolizistInnen sowie BeamtInnen der Guardia Civil wurden in Nouadhibou und Nouakchott stationiert. Diese brachten Überwachungstechnik mit, unter anderem einen Helikopter mit Nachtsichtgerät. Ein Überwachungsflugzeug wurde an die mauretanischen Sicherheitskräfte übergeben. Die leere Schule Nr. 6 in Nouadhibou wurde von der spanischen Armee zu einem Internierungslager namens Centro de Estancia Temporal de los Inmigrantes (CETI; Cruz Roja Española 2008: 14) umgebaut, welches aber von den MigrantInnen bald ‚Guantanamito‘, also Klein-Guantanamo, genannt wurde. Gemeinsame Patrouillen von spanischen und mauretanischen Sicherheitskräften wurden in den Häfen und anderen Küstengebieten durchgeführt, während die Anwesenheit mauretanischer BeamtInnen auf spanischen Schiffen Patrouillenfahrten in den Hoheitsgewässern Mauretaniens wie auch die Rückschiebung von MigrantInnen ermöglichte. Darüber hinaus beaufsichtigte die spanische Polizei die mauretanische Küstenwache, um deren Patrouillen zu intensivieren und Möglichkeiten der Bestechung zu unterbinden. Mauretanische Einheiten wurden durch Frontex in Überwachungstechniken geschult, und die mauretanische Küstenwache wurde mit Schiffen, Schlauchbooten, Quads und Überwachungstechnologie ausgerüstet.

Diese Maßnahmen zielten darauf ab, MigrantInnen schon vor dem Erreichen des offenen Meeres aufzuspüren. Bald wurde die Kontrolle auch auf Fischereihäfen ausgeweitet, zudem wurden Videoüberwachungen und militärische Sperrgebiete eingerichtet. Aber nicht nur diese versicherheitlichten Gebiete wurden patrouilliert. Auch die Viertel der Altstadt von Nouadhibou, die überwiegend von MigrantInnen bewohnt wurden, unterlagen nun einer erhöhten Überwachung. MigrantInnen wurden in wiederholten Razzien verhaftet, in das Internierungslager transferiert und nach einigen Tagen mit Kleinbussen an die senegalesische oder malische Grenze abgeschoben.

Die Verantwortung für massive Menschenrechtsverletzungen an MigrantInnen (vgl. APDHA/AME 2009) wurden von der spanischen Regierung den Mauretaniern zugeschoben. Spanien unterstütze nur (vgl. Buckel 2013). Auch das Spanische Rote Kreuz, das in Guantanamito tätig war und dort ausgedehnte Erhebungen über MigrantInnen durchführte, wies alle Verantwortung für das, was MigrantInnen im Lager und bei der Deportation angetan wurde, weit von sich und zog sich auf eine humanitär begleitende Rolle zurück:

„Die Interviews mit zurückgekehrten Migranten wurden in diesem Zentrum geführt, wo auch humanitäre Hilfe geleistet wurde durch das Spanische Rote Kreuz und den Mauretanischen Roten Halbmond, die keinerlei Verantwortung tragen für die Verwaltung des Zentrums und die Inhaftierung der Insassen. Diese Hilfe ist äußerst notwendig, wie auch der Bericht des Spanischen Flüchtlingsrats CEAR über das Zentrum anerkennt.“ (Cruz Roja Española 2008: 15)

So kam im Jahr 2007 die Transitmigration ausgehend von Mauretanien auf die Kanarischen Inseln weitgehend zum Erliegen. In dem (unter europäischer Mitarbeit entstandenen) Dokument der „Nationalen Strategie für das Migrationsmanagement in Mauretanien“ wurde dies als „spektakulärer“ Erfolg gefeiert (RIM 2010: 42). Die enge Zusammenarbeit mit einem Drittstaat habe sich als ausschlaggebend für die Verringerung der Transitmigration erwiesen. Dennoch stellte der Stopp der Transitmigration nicht das Ende der spanischen Aktivitäten in Mauretanien dar. Gemeinsam mit der Europäischen Union trieb Spanien eine Reihe weiterer Maßnahmen zur Integration Mauretaniens in das europäische Grenzregime voran. Dies beinhaltete neben der Nationalen Strategie auch einen damit verknüpften Aktionsplan.

Die spanisch-europäischen Verhandlungen mit Mauretanien konnten dabei den Umstand nutzen, dass es vor der spanischen Intervention seit dem Jahr 2000 praktisch keine eigenen kohärenten mauretanischen Migrationspolitiken gab. Prägnant wird dies in der Studie Migration Profile Mauretania dargelegt, welche von UNHCR, IOM und der Europäischen Union finanziert wurde. Sie stellt fest, dass die vereinzelten mauretanischen Migrationsgesetze wahllos und uneinheitlich seien. Migration würde eher toleriert denn gesteuert. Die einschlägigen Gesetze und Verordnungen seien häufig nicht einmal veröffentlicht, und die Behörden würden sie nicht kennen (UNHCR/EU/IOM 2007: 127). Ein weiterer Aspekt, der den Kampf gegen Transitmigration in Mauretanien begünstigte, bestand darin, dass sich kaum mauretanische BürgerInnen unter den MigrantInnen, die sich auf den Weg auf die Kanarischen Inseln machten, befanden. Anders als etwa im Senegal oder in Mali bestand die Migration nach Europa fast ausschließlich aus TransitmigrantInnen aus anderen westafrikanischen Ländern.

Die Beteiligung Mauretaniens am Kampf gegen die Migration wurde zudem massiv durch Gelder aus der Entwicklungszusammenarbeit erkauft. 2006 stiegen die spanischen Zahlungen rapide an, nur um 2009, als die Bootsüberfahrten von Mauretanien auf die Kanarischen Inseln zum Erliegen kamen, ebenso rapide wieder zu fallen (vgl. Dünnwald 2014: 207). Die Europäische Union zeigte hier mehr Ausdauer. Auch nach 2009 finanzierte sie direkt und über Spanien mit erheblichen Summen Maßnahmen zum Ausbau der Steuerung und vor allem der Kontrolle sowie der Überwachung der Bevölkerung und der Grenzen in Mauretanien. Modernste Elektronik wurde eingesetzt, und eine Vielzahl von Kontrollstellen errichtet, um die Ankunft von MigrantInnen festzustellen und zu verhindern — und dies nicht nur an den Seegrenzen, sondern im Besonderen an der langen und porösen Landgrenze zum Senegal und zu Mali. Insgesamt 47 neue Grenzkontrollposten wurden errichtet, und das Überqueren der Grenze war von nun an nur noch an diesen Stellen erlaubt. Ausländische BürgerInnen sind seit 2011 verpflichtet, Ausweise mit sich zu führen, und einer Erfassung ihrer biometrischen Daten zuzustimmen. Diese Maßnahmen wurden mit erheblichem Druck gegenüber den MigrantInnen durchgesetzt, und einige mussten von Mauretanien wieder aufgehoben werden, nachdem sich die Regierung massiven Protesten und Drohungen seitens der Nachbarstaaten ausgesetzt sah. Wirtschaftlich ist das Land von den mehreren Zehntausend MigrantInnen abhängig, die im Lande leben. Dementsprechend leidet die mauretanische Wirtschaft, seit als Reaktion auf die neuen Politiken eine größere Anzahl von MigrantInnen begann, das Land zu verlassen. Mauretanische ArbeitgeberInnen tun sich mittlerweile schwer, Arbeitskräfte in Nouadhibou zu finden, die in den neuen Fischverarbeitungsfabriken, Ergebnis chinesisch-mauretanischer Joint Ventures, arbeiten wollen.

Die Einmischung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten untergräbt diese tradierte Freizügigkeit der Migration in Westafrika und befördert eine willkürliche Irregularisierung und Kriminalisierung der Migration und der MigrantInnen, die zu einer veränderten Wahrnehmung von Migration im Alltagsleben Mauretaniens führt.

Migrantischer Alltag in Nouadhibou

Heutzutage herrscht offener Rassismus unter den Sicherheitskräften und der Bevölkerung in Mauretanien. Dieser wurden dermaßen durch den Kampf gegen TransitmigrantInnen befeuert, dass die mauretanische Menschenrechtsorganisation Association Mauritanienne des Droits de l’Homme vor zunehmend fremdenfeindlichen Einstellungen gegenüber MigrantInnen warnte (Baye Ndiaye 2010).

Dennoch haben es einige MigrantInnen auch geschafft, in der Zwischenzeit Geschäfte aufzubauen, sofern sie bereit waren, mauretanische GeschäftspartnerInnen ins Boot zu holen und ihnen ausreichend Tributzahlung zu leisten. Erfolgreiche und schon lange etablierte HändlerInnen sind in die Position lokaler Vorsitzender von national und ethnisch organisierten MigrantInnen-Communities aufgestiegen, und waren so in der Lage, ihre Landsleute beim Aufbau ihrer Geschäfte zu unterstützen: Sie verfügten über die notwendigen Beziehungen zu den Behörden, die sie zu diesem Zweck einzusetzen vermochten. Dies geschah nicht immer aus altruistischen Motiven. Insbesondere die Ankunft größerer Gruppen von TransitmigrantInnen brachte auch Geld in die jeweiligen Städte und Communities. Viele machten gute Geschäfte mit ihnen, und die Neuankömmlinge mussten sich Solidarität erst erkaufen.

Die Razzien in migrantisch geprägten Vierteln und die hohen Auflagen beschäftigen viele MigrantInnen, die ich im Dezember 2012 in Nouadhibou treffe. Die nigerianische Geschäftsfrau Judy kann dies bestätigen. In ihrer Eigenschaft als Oberhaupt der nigerianischen Gemeinschaft in Nouadhibou wollte sie ein Vorbild sein und kümmerte sich von Anfang an um korrekte Papiere. Sie zahlte die Gebühr von 30.000 Ouguiya, etwa 80 Euro, für jedes Mitglied ihrer Familie und begab sich dreimal in die Hauptstadt Nouakchott. Doch die Papiere nehmen sie und ihre Familie nicht von der allgemeinen „Jagd“ auf MigrantInnen aus: „In der Vergangenheit wurde bei Kontrollen noch an unsere Türe geklopft. Heute werde die Türen einfach eingetreten.“

Ich traf Judy im Hof der Katholischen Mission, einem Treffpunkt nicht nur für ChristInnen, sondern auch für andere MigrantInnen in Nouadhibou, und einem der wenigen sicheren Orte für sie. Wiederholte Razzien haben nicht nur die nigerianischen MigrantInnen verunsichert. Viele verlassen ihre Häuser nur, wenn es absolut notwendig ist. In der Vergangenheit, sagt Judy, hätten sie sich regelmäßig getroffen, aber dieser Tage breche der Zusammenhalt zusammen. Viele sind dauerhaft verängstigt. Die nigerianische Gemeinschaft, wie auch viele andere migrantische Gemeinschaften in Nouadhibou, ist stark geschrumpft. Die Katholische Mission, die von Père Jérôme geleitet wird, leistet nicht nur soziale Unterstützung für alle MigrantInnen, sondern bietet auch medizinische Behandlung, die anderweitig unbezahlbar ist. Das ist im wahrsten Sinne Überlebenshilfe in einer Stadt, die zu einer Sackgasse für MigrantInnen geworden ist. Père Jérôme ist schon seit 2006 in Nouadhibou, und kümmerte sich damals um die MigrantInnen. Viele jener, die tot am Strand angespült wurden, wurden von ihm im Friedhof der Mission begraben.

Pierre, ein Flüchtling aus Ruanda, begleitet mich zu seinem senegalesischen Freund, Mohamed. Er hat einen kleinen Raum im Zentrum gemietet und muss Dusche und Toilette mit drei anderen teilen. Er pendelt als Händler zwischen Dakar und Nouadhibou. Mobiltelefone, von mauretanischen HändlerInnen aus den Golfstaaten importiert, lassen sich gewinnbringend in Dakar veräußern, und Kleidung aus Senegal verkauft sich gut in Nouadhibou. Pierre wie auch Mohamed wurden bei der letzten großen Razzia im April 2012 verhaftet, und auf Pickups zum Polizeigefängnis im Zentrum transportiert. Das Gefängnis war überfüllt, und ihnen wurde nicht einmal Trinkwasser angeboten, geschweige denn Essen. Wer Geld hatte, konnte Essen von außen bestellen, aber die meisten waren auf Verwandte angewiesen, die Wasser und Essen brachten. Während die Männer im Gefängnis festgehalten wurden, wurden die festgenommenen Frauen sehr bald abgeschoben. Am zweiten Tag wurde Pierre, der einen Flüchtlingspass des UNHCR vorweisen konnte, entlassen. Mohamed wurde am dritten Tag nach seiner Verhaftung nach Rosso, einer senegalesischen Grenzstadt, abgeschoben. Er sagt, dass er Glück hatte, denn er konnte bald zurückkehren und seine Waren in Sicherheit bringen. Doch meistens verlieren MigrantInnen durch die Abschiebung ihre gesamtes Hab und Gut (siehe auch Poutignat 2012).

David hat lange als Fischer, Händler und Bauarbeiter in Nouadhibou gearbeitet. Er erzählt, dass Arbeitsplätze zunehmend für MauretanierInnen reserviert würden, dies sei eine neue Strategie der Regierung. Nicht nur Fischer und Taxifahrer, auch Maurer erhalten nur dann Arbeit, wenn schon eine gewisse Anzahl an MauretanierInnen in der Firma eingestellt worden sind. Oft verlangen die Arbeitgeber mittlerweile nicht nur einen Aufenthaltstitel, sondern auch eine Arbeitserlaubnis. Diese wird jedoch nur auf Antrag bei der Innenbehörde in der Hauptstadt und gegen Gebühr ausgestellt. MigrantInnen haben daher mit immer mehr Hindernissen zu kämpfen.

David ist der Vorsitzende der kleinen gambischen Community, eine Aufgabe, die viel Ärger mit sich bringt, wie er sagt. „Viele von uns wollten nach Europa. Viele wollen dies immer noch“, sagt er und grinst. Wir sitzen auf einem Teppich in einem halbdunklen Raum, zusammen mit zwei anderen Gambiern. David kam schon 1992 nach Nouadhibou, er war damals 18 oder 19 Jahre alt. Viermal hat er versucht, nach Europa zu gelangen, viermal scheiterte er. „Wir haben keine Angst vor dem Meer. Wir wissen, dass es gefährlich ist“, sagt er. Lange schon gelang es niemandem mehr, die Kontrollen zu überwinden. Auch wenn Europa immer noch eine große Anziehungskraft ausstrahle, werde die Distanz immer größer. David erzählt von Informationskampagnen über illegales Reisen und Leben in Europa, die betrieben werden, um der Abreise der MigrantInnen zuvorzukommen. Lokale Vereine werden aus Europa bezahlt, um die Kampagnen durchzuführen, aber er glaubt nicht, was ihm erzählt wurde: „Sehen heißt Glauben.“ Der Druck auf die MigrantInnen wächst immer mehr. Viele seiner Landsleute sind verhaftet worden, einige wurden im April 2012 abgeschoben. Heutzutage besteht die gambische Community in Nouadhibou aus 300 Personen, vor ein paar Jahren waren es noch mehr als 2.000. Viele sind weitergezogen, seit Nouadhibou zur Sackgasse geworden ist. David ist geblieben. Er erzählt mir, dass er nun ein Restaurant betreibe, später finde ich heraus, dass er sogar zwei besitzt. In Nouadhibou ist es für MigrantInnen besser, Wohlstand nicht zu offen zu zeigen (Feldtagebuch Dezember 2012).

Remote Control? Europas fragwürdiger Erfolg

Spaniens erfolgreiche Interventionen und die europäischen Gelder haben in Mauretanien ein Kontrollregime installiert, dass MigrantInnen einem Generalverdacht unterwirft. Da die Entdeckung der potentieller TransitmigrantInnen kaum möglich ist, bevor diese die Boote besteigen, richtet sich die Kontrolle, der Verdacht und die Repression gegen alle MigrantInnen, und sogar gegen ‚schwarze‘ MauretanierInnen. Diese Politik ließ sich relativ leicht umsetzen, da es nur wenige MauretanierInnen unter denen gibt, die nach Europa aufbrechen wollen. Das kriminalisierte Bild des Transitmigranten ist das eines ‚schwarzen‘ Ausländers. Die Kontrolle der MigrantInnen heizt den Rassismus einer Gesellschaft an, in der es schon immer Spannungen zwischen Akteuren hinsichtlich einer maghrebinischen und einer subsaharischen Identität gab. Nicht nur der Transit wurde also durch die Externalisierung der europäischen Migrationspolitiken nach Mauretanien verhindert. Viele westafrikanische MigrantInnen haben Nouadhibou verlassen, und haben damit eine ernsthafte Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Andere fühlen sich eingeschüchtert. Gleichzeitig breitet sich das Überwachungsprogramm, welches von Europa initiiert wurde, jenseits Mauretaniens südlicher Grenzen aus, und ein fragwürdiges, autoritäres Regime profitiert von europäischen Geldern und nutzt diese, um die eigene Bevölkerung zu kontrollieren. Die europäische Intervention hat kaum kontrollierbare Prozesse in Gang gesetzt.

Der ‚Erfolg‘ der Externalisierung in Mauretanien war nicht allein der Effekt europäischer Verhandlungen mit der Regierung des Landes, durch die Gelder der Entwicklungszusammenarbeit im großen Stil in Überwachungstechnologien und die Ausbildung von Grenzschützern flossen. Letztendlich war der Erfolg erst möglich, nachdem spanische Sicherheitskräfte in Nouakchott und Nouadhibou stationiert wurden. Es ist also nicht nur die Kontrolle aus der Ferne, sondern auch die Überwachung des Territoriums und der mauretanischen Sicherheitskräfte aus der Nähe, die den Schlüssel zum Erfolg darstellen. Dies scheint sich immer noch zu bewahrheiten: im Dezember 2012 ist immer noch eine Einheit von rund 50 BeamtInnen der Guardia Civil in Nouadhibou stationiert, wo sie regelmäßig den Hafen und die Strände patrouilliert.

Ali Bensaâd warnt, dass sich Mauretanien dem Risiko aussetzt, eine künstliche Irregularität zu schaffen, indem es sich den europäischen Forderungen und Migrationspolitiken unterwirft und gleichzeitig die schon lange bestehenden Migrationsbeziehungen mit den Nachbarstaaten missachtet. Darüber hinaus stellt er fest: „Apart from social and regional tensions Mauritania risks to disturb its proper socio-economic system based largely on immigration“ (Bensaâd 2008: 2).

Mali: Sandkasten des Migrationsmanagements

Mali gehört, anders als Mauretanien, zum ‚Hinterland‘ der Migration in die Europäische Union. Mali hat eine lange Beziehung in Richtung Norden zu den Ländern des Maghreb, und in Richtung Süden zu den Staaten des Golfs von Guinea. Es ist ein Land mit vielfältigen Kulturen der Migration, das stark von regionalen Migrationsbewegungen geprägt ist, die quer durch die verschiedenen Ethnien als Abenteuer oder Unternehmung — aventure — aufgefasst werden. Personen, die aus anderen Ländern zurückkehren, werden nicht nur für den Reichtum, den sie mitbringen, gefeiert, sondern auch dafür, die Welt gesehen zu haben. Obwohl Arbeitsmigration zunehmend eine Notwendigkeit für viele Familien darstellt, kann das soziale und kulturelle Phänomen der Migration in Mali nicht auf den Zweck, im Ausland Geld zu verdienen, reduziert werden. Die wichtigste Migrationsverbindung mit Europa wurde von der ethnischen Gruppe der Soninké, aus der Region Kayes im Westen Malis, schon im 19. Jahrhundert etabliert. Die ersten gingen in französische Häfen wie etwa Marseille oder Le Havre, und seit den 1950er Jahren zogen viele in den Industriegürtel rund um Paris (vgl. Manchuelle 1997). In den 1990er Jahren nahm die Migration aus Mali nach Europa zu, und verbreiterte sich auf verschiedene ethnische Gruppen auch aus anderen Regionen des Landes. Anstatt nach Frankreich gingen viele MigrantInnen nun nach Spanien und arbeiteten dort im florierenden Bereich des Baugewerbes wie auch der Landwirtschaft. Migration, wie auch die migrantischen Rücküberweisungen, sind wichtige Faktoren in Mali, auch wenn die meisten MigrantInnen nach ein paar Jahren im Ausland zurückkehren. Dies erklärt, warum die malische Community in Frankreich nur aus rund 80.000 Menschen besteht, jene ohne legalen Aufenthaltsstatus eingeschlossen. Nichtsdestotrotz beendete Frankreich auch gegenüber Mali seine liberale Einwanderungspolitik in den 1970er Jahren, verschärfte zunehmend die Visavergabe und verstärkte Abschiebungsbemühungen.

Mali ist gleichzeitig Herkunftsland als auch ein wichtiges Transitland für MigrantInnen aus Kamerun, dem Kongo sowie einiger anderer afrikanischer Staaten. Die Hauptstadt Bamako ist eine wichtige Drehscheibe, um Pässe zu wechseln, Informationen einzuholen und die Weiterreise zu organisieren. Bamako entwickelte sich daher zunehmend nicht nur zu einem Ort der Abfahrt, des Transits und der Rückkehr von MigrantInnen, sondern auch zu einem Ort, an dem sich Aktivitäten, die auf diese Bewegungen einwirken sollen, entfalten. Bamako ist ebenso wie andere westafrikanische Städte zu einem Knotenpunkt für internationale Organisationen geworden, die sich mit der Migration beschäftigten. Verschiedene Organisationen versuchen hier, Wissen über die Migration zu erheben, Informationen zu verbreiten und die afrikanischen Gesellschaften vertieft in den Kampf gegen die bis dato unbekannte Figur des ‚illegalen Migranten‘ einzubinden.

Auch im Falle Malis stellten die Ereignisse von Ceuta und Melilla einen Wendepunkt dar. Nachdem die Sans-Papiers, die 1996 die Kirche St. Bernard in Paris besetzt hielten, verhaftet und abgeschoben worden waren, trafen sich einige der AktivistInnen von St. Bernard in Bamako mit anderen Abgeschobenen, etwa aus Angola, und gründeten die Association Malienne des Expulsés (Malische Vereinigung der Abgeschobenen, AME). Zuerst verfolgte die Vereinigung das Ziel, ihre Mitglieder bei der Reintegration in die Gesellschaft zu unterstützen, und anderen Abgeschobenen mit sozialer Unterstützung und politischen Aktivitäten zu helfen. Doch ohne Finanzierung blieb die Vereinigung bedeutungslos und entwickelte sich kaum, trotz eines konstanten Flusses von Abgeschobenen in Bamako. Erst im Oktober 2005 beschleunigten sich die Prozesse, und Strukturen bildeten sich unter den Abgeschobenen heraus: Nach dem Sturm auf Ceuta und Melilla kamen in einer Woche im Oktober 400 Abgeschobene aus Marokko am Flughafen Bamakos an, was in der Stadt zu einer breiten öffentlichen Debatte über die Geschehnisse führte (vgl. FORAM 2008).

Schon einige Jahre zuvor hatte die malische Regierung Strukturen entwickelt, die auf die malische Diaspora abzielten und malische MigrantInnen im Ausland unterstützen sollten. Doch das Ministerium für die Belange der AuslandsmalierInnen und Afrikanische Integration (MMEIA), sowie die untergeordnete Behörde, die Generaldelegation für die MalierInnen im Ausland (DGME) hatten weder Einfluss noch Auswirkungen auf die Migration, oder auf migrantische Communities. Das gleiche galt auch für den Hohen Rat für die MalierInnen im Ausland (HCME), der als Dachorganisation der Organisationen der malischen MigrantInnen gegründet wurde, aber unter mangelnder Finanzierung und Führungsstreitigkeiten litt (siehe auch Whitehouse 2013: 155ff.).

Die eher schwache Aufstellung wie auch die reservierte Position der Institutionen des malischen Staates gegenüber den nicht erfolgreichen MigrantInnen offenbarten sich bei der Ankunft der Abgeschobenen aus Marokko. Die DGME wie auch andere Behörden leisteten den Angekommenen keinerlei Unterstützung. Stattdessen war es die Zivilgesellschaft und besonders Aminata Draman Traoré, eine zentrale Figur der malischen Antiglobalisierungsbewegung, die den RückkehrerInnen Unterkunft und Essen verschaffte, die Sammlung ihrer Schilderungen organisierte und zusammen mit der AME und anderen Gruppen öffentliche Hearings und Proteste koordinierte. Dieser Protest, der sowohl eng mit der Geschichte der malisch-französischen Beziehungen verbunden ist, als auch im weiteren Kontext Afrikas in der Zeit der Globalisierung verstanden werden muss, organisierte sich weiter auf dem dezentralen Weltsozialforum 2006 in Bamako. Das Forum zog AktivistInnen und Organisationen aus Afrika, Europa und anderen Teilen der Welt an. Migration und Abschiebung waren die zentralen Anliegen des Forums, dargestellt durch Schilderungen von MigrantInnen und Theaterstücke. Malische Organisationen vernetzten sich während des Weltsozialforums mit europäischen und afrikanischen Menschenrechtsvereinigungen und transnationalisierten den Protest gegen Abschiebungen und die europäischen Anstrengungen, die Migration zu behindern. Gespeist aus diesen Ereignissen und Aktivitäten entstand eine ganze Reihe von Vereinigungen Abgeschobener, und die AME konnte sich eine Finanzierung durch verschiedene europäische NGOs sichern, und erweiterte ihre Arbeit wie auch ihre Sichtbarkeit.

Dealing with, dealing over migration

Als regionale Drehscheibe der Migration nach und von Europa, wurde Bamako zu einer Schlüsselstelle für das europäische Migrationsmanagement und einem strategischen Ort des europäischen Gesamtansatzes für Migration. Vor dem Hintergrund einer komplexen Mobilität von Personen — vor allem innerhalb Westafrikas, aber auch in Richtung Maghreb und Europa — formierte sich in Bamako eine weite Allianz politischer und Sicherheitskräfte, die exakt diese migrantischen Bewegungen nach Norden unterbinden will. Diese Allianz besteht aus der Europäischen Union zusammen mit einigen ihrer Mitgliedsstaaten, wie etwa Frankreich, Italien und Spanien, die alte und neue Ziele der Migration aus Mali sind. Auch die IOM und UN-Organisationen wie etwa dem UNHCR, das UNDP und die ILO sind Teil dieser Allianz. Der gemeinsame Nenner dieser Akteure ist ein Verständnis der oben genannten Migrationsbewegungen als problematisch, irregulär oder illegal, da sie nicht durch die Zielländern autorisiert sind. Doch wie schon erwähnt ist ein Großteil der Migration in Westafrika weder illegal noch irregulär. Erst wenn sie in den Maghreb oder sogar nach Europa führen, haben die irregulären Überschreitungen der Grenzen den Effekt, dass die Migration unautorisiert wird (vgl. Carling 2007). Zu meiner Überraschung musste ich jedoch feststellen, dass auf einer Konferenz zum Thema Menschenrechte, an der ich 2006 in Bamako teilnahm, sogar das UNHCR die ‚irreguläre‘ Migration in Westafrika als wichtiges Problem beschrieb. Auch die malische Regierung begann verstärkt gegenüber europäischen Verhandlungspartnern in Begriffen von Illegalität oder Irregularität über Migration zu sprechen.

Alle relevanten Institutionen — Botschaften, IOM, oder ILO — waren, verstärkt seit 2006, bemüht, Konferenzen zu organisieren, BeraterInnen in der Nähe der malischen Regierung zu installieren, sowie Workshops und regelmäßige Treffen bezüglich des Migrationsmanagements aufzusetzen. Im Rückblick auf die Aktivitäten werden sie am treffendsten durch einen Satz des damaligen Chefs des IOM-Büros in Bamako, Alexander Kapirovsky, charakterisiert, der sich beschwerte, dass alle ihre eigenen Workshops hätten, dass sich alle Beteiligten oft träfen, aber sich nichts ändere, wenn lediglich wieder und wieder über die Dinge geredet würde (Interview mit Alexander Kapirovsky, Dezember 2010).

Der zentrale Aspekt des Gesamtansatzes der Europäischen Union 2005 ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Drittstaaten. In Mali bedeutete dies, dass gegenüber den zuständigen Behörden und der Regierung Überzeugungsarbeit zu leisten war. Besonders die Herkunftsstaaten von Migration mussten davon überzeugt werden, dass eine solche Zusammenarbeit nützlich, notwendig und potenziell fruchtbar für das Land sei und, dass Kontrollmaßnahmen, Rückübernahmeabkommen oder Projekte der Entwicklungszusammenarbeit profitabel seien. Herkunfts- und Transitländer hatten dadurch eine verhältnismäßig günstige Verhandlungsposition gegenüber der Europäischen Union. Die Bemühungen gingen dahin, auf der Ebene der Regierungen, der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung als Ganzes eine neue Perspektive auf Migration zu etablieren — und dies nicht nur in Mali. Diese Disziplinierung der Migration (vgl. Geiger 2013) ging nicht allein den Weg einer einfachen Implementierung von Maßnahmen, sondern begab sich in Aushandlungen und adressierte sowohl malische Behörden als auch die Zivilgesellschaft. Doch Malis politische Elite versteht es recht geschickt zu unterscheiden, wann es angebracht ist, dem europäischen Diskurs zu folgen, und wann es vorzuziehen ist, die MigrantInnen, regulär oder irregulär, als fast schon konstitutiven Teil der malischen Gesellschaft zu preisen.

„La calebasse Bambara3

Eines Morgens im November 2011 hatte ich ein Treffen mit Boubacar auf dem Koulouba, dem Hügel über Bamako, wo der Präsidentenpalast liegt, umgeben von verstreuten Regierungsgebäuden. Boubacar ist ein höherer Angestellter der DGME, der Generaldirektion für MalierInnen im Ausland. Boubacar begrüßte mich herzlich und führte mich in ein Büro, wo zwei weitere Angestellte Tee tranken. Die Begrüßung dauerte einige Minuten, aber Boubacar kam — für malische Verhältnisse — recht schnell auf den Anlass meines Besuchs zu sprechen: die Migrationspolitik in Mali. Während ich mein Aufnahmegerät startete, stellte ich eine erste, allgemeine Frage zu Migration als Gegenstand der malischen Regierung. Dies bedauerte ich umgehend, denn Boubacar holte zu einem breiten und langen Überblick über die Bedeutung der Migration für Mali aus. Vorsichtig versuchte ich, die Frage auf die malische Haltung gegenüber der europäischen Migrationspolitik einzugrenzen, und Boubacar schwenkte auf eine absolut Europa-konforme Darstellung der Gefahren irregulärer Migration und der Vorteile von legaler Migration für Aufnahme- und Entsendeländer ein. Nach etwa einer halben Stunde stoppte ich mein Aufnahmegerät, innerlich resigniert wegen eines für platte Rhetorik verschenkten Vormittags. Ich startete einen eher informellen Smalltalk, während ich schon Worte für eine Verabschiedung suchte. Ich erzählte Boubacar, dass ich mit Organisationen zusammenarbeite, die Abgeschobene unterstützen, womit sich plötzlich Boubacars Tonfall änderte: er verlor seine offizielle Note. Wir wechselten Bemerkungen über die negativen Effekte europäischer Migrationspolitik für Mali, vor allem die regelmäßigen Abschiebungen, und Boubacar pries seinen Präsidenten, der die Unterschrift über das französische Rückübernahmeabkommen verweigert hatte. Während er seinen Computer nach Dokumenten zu durchsuchen begann, die für mich interessant sein könnten, fragte mich einer seiner Kollegen um Rat bezüglich einer in Spanisch verfassten Heiratsurkunde. Boubacar bat mich, selbst in seinem Computer nach Dokumenten zu suchen, und schließlich fanden sich einige Sitzungsprotokolle und ältere Berichte. Ich verabschiedete mich, und als Boubacar mich aus dem Gebäude nach draußen begleitete, erzählte er mir über ein Entwicklungsprojekt, für das er bei einer deutschen Organisation Förderung beantragt hätte. Es handelte sich um den Bau einer Umschließungsmauer einer Schule im Heimatdorf Boubacars, mit heftig überhöhtem Budget. Ich steckte den Antrag ein, versprach, bei der Agentur mal nachzufragen, und verließ das Regierungsviertel.

Zunächst war ich verärgert, dann verwirrt, und schließlich zunehmend fasziniert vom Verlauf der Begegnung mit diesem hohen malischen Verwaltungsangestellten. Boubacar hatte den einzigen Computer in der gesamten Abteilung, und auch er schien nicht besonders gut damit umgehen zu können. Dies wirft ein Licht auf die Kompetenz der Abteilung, die als technische Unterstützung für das Migrationsministerium dient. Die malischen Institutionen, die die Diaspora unterstützen sollen, scheinen mehr in einem symbolischen denn praktischen Sinne wichtig zu sein. Ebenso interessant ist der Wandel in Boubacars Haltung mir gegenüber. Die formelle und distanzierte Regierungsposition wurde von Boubacar und seinen Kollegen schnell fallen gelassen, als sie bemerkten, dass ich Beziehungen zu lokalen MigrantInnenorganisationen hatte und kein Verfechter offizieller Europäischer Migrationspolitik war. Es wäre sicher falsch, die Situation so zu interpretieren, dass Boubacar am Ende offener oder ehrlicher mir gegenüber gewesen sei. Aber das Beispiel zeigt die Fähigkeiten malischer Offizieller, ihre Argumentation schnell an verschiedene AdressatInnen anzupassen.

Das ‚Entwicklungs‘-Projekt in Boubacars Dorf verdeutlicht die Verpflichtungen von Personen in öffentlichen Ämtern. Als einer der wenigen aus dem Dorf mit einer festen Anstellung in der Regierung ist Boubacars sozialer Status davon abhängig, was er für seine Familie und sein Dorf tun, und wie er seine Arbeit für die Regierung in konkrete Vorteile ummünzen kann. Da jemand wie Boubacar mit seinem Gehalt wenig bewirken kann, begleitet die Suche nach zusätzlichem Geld den Alltag der bürokratischen Elite in Mali. Boubacar ist verpflichtet, seine Beziehungen spielen zu lassen, um Freunde und Familienangehörige in Beschäftigung in seiner Abteilung zu bringen und sich damit zugleich ein Netzwerk von Getreuen zu schaffen. Boubacars Aufbau einer Beziehung zu mir folgt dem Modell ‚Calebasse Bambara‘, wie es einer meiner Gesprächspartner (ein Malier, aber aufgewachsen in der Elfenbeinküste) halb verzweifelt nennt: die Art und Weise, wie soziale Beziehungen und daraus erwachsende Verpflichtungen die Haltungen und Praktiken in Mali dominieren, häufig zum Nachteil von Effizienz und Funktionalität. Boubacars Angebot, mir Dokumente zur Verfügung zu stellen, und seine fast gleichzeitige Frage nach Unterstützung bei der Beschaffung von Geldern ist ein vorsichtiger Versuch, reziproke Beziehungen zum gegenseitigen Profit aufzubauen. Boubacars Bitte um einen Gefallen ist eine der vielen Nuancen einer „petite corruption“, wie Olivier de Sardan (1996: 104) es nennt. Diese wirkt in der Logik des „cadeau“, der Gabe. Kontaktiert man eine Person mit spezifischen Kenntnissen oder herausgehobener Position, etwa einen Dorfältesten, so verlangt die Tradition die Gabe kleiner Geschenke, etwa Kolanüsse, als Zeichen des Respekts. Mit der kolonialen Einführung einer Verwaltungsbürokratie wurde diese Tradition generalisiert, und unentwirrbar mit verschiedenen Formen kleinerer oder größerer Korruption verknüpft. Boubacar blieb auf der sicheren Seite bei unserer Begegnung, auch weil er genau beachtete, dass die Verquickung seiner offiziellen Funktion mit privaten Interessen besser nicht innerhalb des Büros diskutiert werden sollte.

Boubacars Haltung kann einige der Schwierigkeiten illustrieren, mit denen die europäischen BeraterInnen konfrontiert sind, wenn sie malische Offizielle vom Sinn europäischer Migrationspolitik überzeugen wollen.

Malis Position bezüglich der europäischen Aktivitäten mit dem Ziel, das Migrationsmanagement nach Westafrika auszuweiten, lässt sich als zwiegespalten beschreiben. Einerseits sind die Europäische Union, Frankreich und — zumindest in der Zeit von 2006 bis 2012 — Spanien große Geberländer der Entwicklungshilfe wie auch wirtschaftliche Partner. Seit 2006 wurde die Kooperation in Fragen der Migrationspolitik mehr und mehr Vorbedingung für die Fortsetzung dieser Zahlungen, und auch eine Möglichkeit, weitere Gelder zum Fließen zu bringen.4 Andererseits ist Mali eine der treibenden Kräfte hinter den Integrationsbemühungen der ECOWAS, die für die Bewegungsfreiheit ihrer BürgerInnen steht und diese zu fördern sucht. Des weiteren ist Mali zu einem gewissen Grad von qualifizierten Arbeitskräften abhängig, die zumeist aus dem Senegal oder der Elfenbeinküste stammen. Fast ein Viertel der malischen Bevölkerung lebt im Ausland, größtenteils in westafrikanischen Ländern, und daher ist Malis Interesse an einem Ausbau der Migrationskontrolle eingeschränkt, schließlich könnten die Nachbarn ähnliche Maßnahmen verhängen. Die malischen MigrantInnen in Frankreich üben zudem durch Rücküberweisungen und Investitionen in Mali nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch sozialen und politischen Einfluss aus. Als es 2009 zur Unterzeichnung eines Rückübernahmeabkommens zwischen Frankreich und Mali kommen sollte, fanden diesbezüglich in Paris wie auch in Bamako Demonstrationen statt, die die öffentliche Meinung stark beeinflussten. Sie können als einer der Hauptgründe gesehen werden, warum der malische Präsident Amadou Toumani Touré darauf verzichtete, das Abkommen abzuschließen (vgl. Soukouna 2011). Die Position der malischen Regierung ist also von einem zweischneidigen Interesse an Politik und Diskurs über Migration und Migrationsmanagement geprägt.

Frankreich und Spanien: Hauptakteure im Migrationsmanagement

Sowohl Spanien als auch Frankreich als diejenigen EU-Mitgliedsstaaten, die am meisten von der Migration aus Mali beeinflusst waren, versuchten, Einfluss auf die malischen Politiken der Migration zu nehmen. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, wird in Mali als der zentrale Akteur gesehen, und von den migrantischen und Menschenrechtsorganisationen als ennemi (Feind) ins Visier genommen. Bis zu den 1970er Jahren benötigten malische Staatsangehörige kein Visum, um nach Frankreich zu reisen; danach jedoch wurden die Prozeduren zunehmend restriktiver. Der Kampf gegen die irreguläre Migration und die Sans-Papiers, sowie die Abschiebungen, die schon während der 1990er Jahre verstärkt wurden, waren von dieser Zeit an zentrale Elemente französischer Migrationspolitik. Nach den Ereignissen von Ceuta und Melilla intensivierte auch Frankreich seine Bemühungen um Rückübernahmeabkommen mit größeren westafrikanischen Staaten, wie etwa Mali. Während die meisten der Mali umgebenden Staaten nachgaben und die Rückübernahmen unterschrieben, weigerte sich Mali. Ein erster Versuch zu einem solchen Abkommen unter dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy scheiterte 2003 (vgl. Panapress 2003), es folgten langwierige Verhandlungen. Als Bedingung für die Unterzeichnung des Rückübernahmeabkommens verlangte die malische Regierung von Frankreich 5.000 Legalisierungen pro Jahr. Sie erhoffte sich, dass die geschätzten 20.000 MalierInnen, die ohne Papiere in Frankreich leben, damit innerhalb von vier Jahren regularisiert würden. Frankreich bot anfangs nur 1.500 Legalisierungen an und bestand auf einer Einzelfallprüfung, was im Wesentlichen der bis dato existierenden Praxis in Frankreich entsprach (vgl. Soukouna 2011: 56). Obwohl Frankreich sein Angebot später leicht verbesserte, scheiterten die Verhandlungen nach vielen Versuchen im Jahr 2009, und Brice Hortefeux, damaliger Integrationsminister Frankreichs, der persönlich nach Bamako gereist war, musste ohne malische Unterschrift abreisen.

Für Mali hatte das Scheitern des Abkommens sofort verschiedene negative Konsequenzen. Als erstes stoppte Frankreich die Unterstützung des codéveloppement, und auch die offizielle Entwicklungshilfe wurde von 60 Millionen Euro im Jahr 2008 auf 53 Millionen Euro im Jahr 2009 gesenkt. Danach erklärte Frankreich nahezu das gesamte malische Territorium zu einer Zone, die vom Terrorismus bedroht sei, was sofortige negative Effekte auf Handel, Tourismus und Reisen französischer BürgerInnen nach Mali im Allgemeinen hatte (vgl. Soukouna 2011: 59ff.). Doch auf der Straße und in den Medien Malis wurde die Weigerung, das Abkommen zu unterzeichnen, als Sieg, als Zeichen der Unterstützung für die AuslandsmalierInnen und als Symbol des Widerstands gegen das französische und europäische Interesse an der Migrationskontrolle gefeiert (vgl. Wiedemann 2009).

Spanien etablierte sich erst 2006 mit der Eröffnung einer Botschaft in Bamako. Diese fand im Rahmen der Plan África-Initiative zur Bekämpfung irregulärer Migration und der Intensivierung der Entwicklungszusammenarbeit statt. In dieser Zeit schloss Spanien eine Reihe nahezu identischer Rückübernahmeabkommen mit westafrikanischen Regierungen, die sogenannten Abkommen der zweiten Generation, die im Geiste der Politik des europäischen Gesamtansatzes formuliert sind. Die Rückübernahmeklausel ist in einem Anhang klar definiert, während über legale Migration nur in vagen Begriffen gesprochen, und diese zudem der Arbeitsmarktsituation in Spanien untergeordnet wird (vgl. Gázquez et al. 2011: 35). Auch mit Mali schloss Spanien ein entsprechendes Abkommen, welches eine Quote von rund 800 legalen temporären MigrantInnen pro Jahr vorsah (vgl Doumbia 2012). Es ist charakteristisch, dass dieser Plan für zirkuläre Migration nie in die Tat umgesetzt wurde. Ein einziges Mal, im Jahr 2009, durften 26 malische MigrantInnen für vier Monate in Spanien arbeiten. Danach beendete Spanien das Programm.

Der Plan África muss wie der europäische Gesamtansatz für Migration ein umfassender Ansatz gelesen werden, der nicht nur über restriktive Migrationspolitiken operiert, sondern auch über die Entwicklungszusammenarbeit. In den letzten Jahren wurde der Plan in der Öffentlichkeit, aber auch in einigen Publikationen kritisiert. Die spanische Politik des Plan África, sei in der Frage der Entwicklungsaktivitäten gescheitert (Martinez Bermejo/Rivero Rodriguez 2008; Romero 2008). Doch im Vergleich zu Frankreich agierten die spanischen DiplomatInnen wesentlich behutsamer. Obwohl es auch Spanien darum ging, Mali Maßnahmen zur Beschränkung der Migration aufzuzwingen, wurden gleichzeitig auch Anreize angeboten, auch wenn diese kaum umgesetzt wurden. Der nigerianische Soziologe Adepoju deutet die höhere Effektivität der spanischen Verhandlungen bezüglich der Migration in Afrika als Folge davon, dass Spanien keine koloniale Altlasten gegenüber Westafrika trage (vgl. Adepoju/Noorloos/Zoomers 2009: 66). Angesichts der komplexen und ambivalenten Beziehungen zwischen Frankreich und Mali, besonders im Bezug auf Migration (vgl. Quiminal 2012), ist dies sicherlich ein wichtiger Aspekt. Doch ebenso muss in Betracht gezogen werden, dass malische MigrantInnen Spanien in größerer Zahl erst in den 1990er Jahren erreichten, und es daher keine etablierten transnationalen Beziehungen, wie auch keine eingesessenen malischen Communities in Spanien gab. Abschiebungen aus Spanien wurden in Mali nie öffentlich thematisiert, auch die Proteste gegen die Rückschiebungen aus Ceuta und Melilla richteten sich eher gegen die Europäische Union als gegen Spanien. Charter-Abschiebungen aus Spanien wurden kaum zur Kenntnis genommen. Darüber hinaus verdoppelte Spanien in der Zeit, als Frankreich die Entwicklungsgelder stark kürzte, seine finanzielle Unterstützung für Mali (vgl. La Cimade 2009: 9; Serón et al. 2011: 44).

Das CIGEM

Die Europäische Union, durch ein Delegationsbüro in Bamako seit über 10 Jahren repräsentiert, war bis 2008 kein wichtiger Akteur im Feld des Migrationsmanagements in Mali. Auf dem Gipfel von Rabat 2006 beschlossen jedoch der damalige EU-Entwicklungskommissar Louis Michel und RepräsentantInnen Malis, Spaniens, Frankreichs und der ECOWAS, in Bamako ein Zentrum für die Information über und das Management von Migration, kurz: das CIGEM, zu installieren (vgl. Böwing/Janicki 2010). Das Zentrum wurde mit zehn Millionen Euro aus dem Topf des EU-Kommissariats für Entwicklungszusammenarbeit ausgestattet und im Jahr 2008 eröffnet. Aufgrund des relativ kleinen Budgets versuchte das CIGEM, verschiedene schon existierende Programme wie etwa das TOKTEN-Programm des UNDP5 in Mali, zu bündeln. Der vorrangige Auftrag des Zentrums, Arbeitsmigration von Mali nach Europa zu organisieren und zu begleiten, wurde sofort nach dem Abkommen von mehreren EU-Mitgliedsstaaten, die ihre volle Souveränität über die nationalen Arbeitsmärkte beibehalten wollten, abgelehnt. Seines ursprünglich angedachten Hauptauftrags beraubt, konzentrierte sich das CIGEM auf die übrigen Vorhaben: potentielle MigrantInnen über die Risiken der irregulären Migration aufzuklären, RückkehrerInnen zu beraten und die malische Regierung beim Entwerfen einer umfassenden Strategie für Migrationspolitik zu unterstützen. Keine dieser Aktivitäten war sonderlich erfolgreich. So bestand die besagte Migrationsstrategie 2011 nur aus rund einem Dutzend Seiten, und wurde nie fertiggestellt. Die Integration der RückkehrerInnen in den malischen Arbeitsmarkt scheiterte, da sich die Zusammenarbeit mit den malischen Institutionen als zu kompliziert herausstellte und ein formaler Arbeitsmarkt ohnehin kaum existierte. Die Informationskampagnen über die Risiken der irregulären Migration wiederum waren auch nicht erfolgreich. Der Ethnologe Isaie Dougnon wies darauf hin, dass malische MigrantInnen sich der Risiken der Migration durchaus bewusst waren, da Risiko ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts der Migration ist, wie es in den malischen Kulturen existiert (vgl. Dougnon 2012).

Im Rückblick ist es bemerkenswert, wie wenig erfolgreich die jahrelangen europäischen Bemühungen waren, in Bamako ein Migrationsmanagement einzuführen. Die Beschreibung der europäischen Aktivitäten ließe sich ausweiten, etwa um die von Spanien finanzierte Aufrüstung von 17 malischen Grenzposten, oder um eine Reihe spanischer Entwicklungsprojekte. Doch dies würde den Gesamteindruck nicht ändern. Insofern es stimmt, was mir in Mali erzählt wurde, ist mehr als fragwürdig, ob das spanische Material für die Grenzposten (darunter Allradfahrzeuge und Computer) je seine Bestimmungsorte erreicht hat. Die Kontrollpraktiken an Malis Grenzen haben sich nicht geändert. Nur wenige der geplanten spanischen Entwicklungsprojekte wurden überhaupt umgesetzt, und jene, die ich besuchen konnte, hatten mit schweren Problemen zu kämpfen und waren nach vielen Jahren immer noch nicht abgeschlossen.

Die Situation in Bamako unterscheidet sich von der in Mauretanien. Denn es gibt keinen klaren Willen Europas, in die Einbeziehung Malis in das externalisierte europäische Migrationsmanagement zu investieren. Kein EU-Mitgliedsstaat treibt die Zusammenarbeit mit Mali im Bereich Migrationsmanagement energisch voran, ganz im Gegenteil scheinen auch französische und spanische BeamtInnen sich kaum für das Thema erwärmen zu können. Auch die EU investierte selber kaum in den Prozess. Selbst nachdem das CIGEM eröffnet war, wurde ihm kaum Beachtung geschenkt. Darüber hinaus wurden Migrationsabkommen nicht von größeren Investitionen oder einer signifikanten Erhöhung der Entwicklungshilfe (mit Ausnahme Spaniens) begleitet. Da der Druck auf die afrikanischen Staaten an der Atlantikküste und am Mittelmeer die Stärke der irregulären Migration in Richtung Europa schon verringert hatte und damit erste Erfolge zeigte, blieb der Druck auf die malische Regierung verhältnismäßig niedrig.

Einer der Hauptgründe, warum die Strategie des europäischen Migrationsmanagements in Mali nicht funktionierte, liegt aber wohl in der ambivalenten, und diplomatischen Haltung der MalierInnen während der Verhandlungen über Migrationsabkommen, wie sie auch im Verhalten Boubakars zum Ausdruck kommt. Malische DiplomatInnen waren sehr bemüht, Konferenzen zu besuchen oder Positionspapieren zuzustimmen. Doch sobald es um die Realisierung vor Ort ging, schienen alle Bemühungen im Sande zu verlaufen.

Mit Blick auf die malische Seite lässt sich eine Reihe weiterer Gründe entdecken, warum Europa mit seinen Absichten scheiterte. Einer dieser Gründe ist die ambivalente Beziehung zu Frankreich, die durch eine gegen-hegemoniale Position großer Teile der malischen Bevölkerung gegenüber Frankreich geprägt ist. Ein weiterer Grund ist Malis Position als Herkunfts- und Transitland der Migration im Herzen Westafrikas, die einer Einführung von Migrationskontrolle entgegensteht. Während in arabischen Ländern Schwarze MigrantInnen als Eindringlinge diffamiert werden konnten, ist dies in Mali weder möglich noch erwünscht, da MalierInnen selbst zu diesen MigrantInnen zählen. Die Einführung von Kontrollmaßnahmen, die Zurückweisung potentieller TransitmigrantInnen an malischen Grenzen oder ihre Inhaftierung ständen im Widerspruch zu der integrativen Politik, die Mali in der Region verfolgt, und könnte in den Nachbarstaaten ähnliche Reaktionen auslösen. Zuletzt muss auch die Stärke der malischen Diaspora in Frankreich als maßgeblicher Einflussfaktor auf die Migrationspolitik gesehen werden.

Ein funktionierendes europäisches System des Migrationsmanagements in Mali einzuführen, wird daher eine Herausforderung bleiben. Jenseits praktischer politischer Interessen steht dem auch das malische Selbstbild einer Willkommensgesellschaft entgegen. Und auch die geringe Kapazität und die komplexen Interessen malischer Behörden bedeuten, dass es mehr als nur einige BeraterInnen braucht, um Einfluss auf die malischen Regierungsinstitutionen zu nehmen. Das CIGEM wurde im Dezember 2014 ohne Ankündigung geschlossen, und seine Webseite vom Netz genommen.

Die Konsequenzen der Grenzziehung in Afrika

Mit Blick auf den konzeptuellen Rahmen der EU-Externalisierung und der europäischen Migrationskontrolle wird gern dazu tendiert, Grenzen vor allem auf folgende Art und Weise zu denken: Europa etabliert Grenzen, um MigrantInnen daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Aus einer europäischen Perspektive werden dieser Prozess und seine Folgen vor allem unter den Aspekten Technologie, Recht und Menschenrechte analysiert. Doch dies verstellt die Sicht auf die Tatsache, dass die Grenzziehungsprozesse umfassender sind, und in spezifischen Wechselwirkungen mit den Gesellschaften stehen, auf die sie zielen. Die Grenzen in Afrika sind nicht die fixierten territorialen Linien, wie wir sie zu kennen glauben. Die Grenzen, oftmals Artefakte der Aufteilung kolonialer Interessensphären, schneiden mitten durch ethnische Gruppen und Landschaften. Grenzüberschreitende Mobilität ist deshalb eine alltägliche Praxis, und oft essentiell für das wirtschaftliche und soziale Auskommen nicht nur jener, die an der Grenze leben. Transnationale Familienbande, Freundschaften und Geschäftsbeziehungen sind regional weit verbreitet. Daher sind Grenzen in Afrika oftmals Räume, in denen Mobilität nur lose kontrolliert und Kontrollposten auf eine Vielzahl von Arten umgangen werden (vgl. Mechlinksi 2010).

Mauretanien hat nun, im Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Migration neue Grenzposten an den Grenzen zum Senegal und zu Mali etabliert, die mit elektronischer Datenverarbeitungstechnik ausgestattet sind. Sollten diese wie vorgesehen funktionieren, wird dies den Charakter afrikanischer Grenzen fundamental ändern. Nicht nur das Leben und die Beziehungen der ethnischen Gruppen beiderseits der Grenze werden darunter leiden, sondern auch die saisonale und Arbeitsmigration. Die Kontrollmaßnahmen und die Abschiebungen haben bereits negative Auswirkungen auf die mauretanische Wirtschaft gehabt, wie vor allem anhand des aktuellen Arbeitskräftemangels deutlich wird.

Tatsächlich gibt es Tendenzen, die Grenzen in Afrika einem Umbau zu unterziehen. Abgesehen von Prozessen, die von der EU vorangetrieben werden und auf die Bekämpfung ‚irregulärer Migration‘ abzielen, gibt es in Westafrika eine Reihe von Projekten und Prozessen, die mit ersteren mehr oder weniger stark verwoben sind. Dies trifft zuvorderst auf Projekte zur Bekämpfung des (islamischen) Terrorismus zu. Die EU, aber auch einzelne Mitgliedsstaaten wie Frankreich, und auch die USA führen solche Programme mehr oder weniger verdeckt in der gesamten Sahara/Sahelzone durch. Daneben gibt es aber auch breitere Bestrebungen einer Neudefinition der Grenzen in Afrika, wie zum Beispiel dem African Union Border Program (AUBP). Die deutsche Entwicklungsagentur GIZ verfolgt im Rahmen dieses Programms ein Projekt in Westafrika, in dem Grenzen neu vermessen werden, Grenzposten und auch Grenzkontrollmechanismen aufgebaut werden. Beide Entwicklungslinien, Terrorismusbekämpfung und die Transformation der Grenze operieren in unterschiedlichen politischen Sphären und sind nicht explizit Teil des EU-Programms zur Bekämpfung irregulärer Migration. Dennoch sind beide Teil eines größeren Prozesses, in dem Überwachungspraxen und Bevölkerungskontrollen in Westafrika zur Normalität zu werden drohen.

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  • Volume: 1
  • Issue: 1
  • Year: 2015


Stephan Dünnwald works at the Bavarian Refugee Council, Munich. Until 2014, he was researcher at the Centro de Estudos Africanos at ISCTE, Lisbon University Institute, and research fellow at the Lab for Critical Migration and Borderregime Studies, Institute for Cultural Anthropology and European Ethnography, University of Göttingen. He studied anthropology, sociology and geography at the Ludwig Maximilians University at Munich, and holds a Ph.D. in sociology from the University of Augsburg. He conducted research on refugees and migrants in Central and Southeastern Europe (Kosovo) as well as in West Africa (Mali, Mauritania, Cape Verde), focusing on social impacts of migration and (forced) return in countries of origin, the externalisation of European migration management, and bordering processes.