Abstract This article documents a debate concerning the Italian operation Mare Nostrum which took place between October 2013 and November 2014 in the Central Mediterranean. First, the relevant context concerning the tragedy at Lampedusa on the 3rd of October 2013 is given. Second, the debate concerning the ambivalence of the operation between humanitarianism and military intervention is documented. Third a short follow-up to developments after the cessation of Mare Nostrum is provided.
Im Juni 2014 begann auf der Mailingliste des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung eine Diskussion, die bald auf andere Mailinglisten überschwappte. Auslöser war die Frage nach einer (vorläufigen) Einschätzung der so genannten Mare Nostrum-Operation, der humanitär-militärischen Operation zur Rettung von Bootsflüchtlingen im zentralen Mittelmeer, welche von der italienischen Regierung kurz nach den Schiffsunglücken vor Lampedusa im Oktober 2013 ausgerufen wurde. In der Debatte wurden durchaus konträre Positionen geäußert, die aber letztendlich auf die Ambivalenzen und relevanten Fragen im Bezug auf eine Analyse des gegenwärtigen Europäischen Grenzregimes verweisen. Der folgende Text wird den politischen Kontext beschreiben und die Debatte dokumentieren.
Lampedusa und die Reaktionen der EU
Nach den Schiffsunglücken vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa im Oktober 2013, die rund 400 Todesopfer forderten, ließ sich eine diskursive Neuausrichtung in den politischen und medialen Auseinandersetzungen um das europäische Grenzregime beobachten. Auch wenn die offiziellen Politikziele einer Verhinderung irregulärer Migration durch die Aufrüstung der europäischen Außengrenze nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurden, so geriet diese kompromisslose Position dennoch in die Defensive: Zum ersten Mal standen tatsächlich die migrantischen Todesopfer im Zentrum der Debatte. Versuche, die Schuld an den Todesfällen vermeintlich kriminellen Schleppern zuzuweisen, konnten sich damals nicht durchsetzen, vielmehr wurde — vor allem auch medial — vermehrt der Zusammenhang zwischen der Aufrüstung der europäischen Außengrenze, dem dadurch erhöhten Risiko auf den Fluchtrouten nach Europa und den Todesfällen thematisiert. Letztendlich formierte sich die Erkenntnis, dass sich eben nicht lediglich Unglücke, Tragödien oder Katastrophen vor Lampedusa ereigneten, sondern dass die Todesfälle konkrete Konsequenzen des europäischen Grenzregimes und durch spezifische Politiken und Institutionen verschuldet sind.
Die Antworten der europäischen Institutionen auf die Ereignisse von Lampedusa erfolgten schnell. Auf dem Ratstreffen der europäischen Justiz- und InnenministerInnen (JHA) am 7. und 8. Oktober 2013 wurde die so genannte Task Force Mediterranean (TFM) gegründet, die unter der Federführung der Kommission Konsequenzen aus den Todesfällen von Lampedusa im Bereich der Migrations-, Grenz- und Asylpolitik prüfen sollte. Am 9. Oktober 2013 besuchten Kommissionspräsident Barroso und Innenkommissarin Malmström gemeinsam mit dem italienischen Ministerpräsidenten Letta und Innenminister Alfano Lampedusa (Europäische Kommission 2013a). Der EU-Gipfel bestätigte am 25. Oktober 2013 den Auftrag an die TFM (Europäischer Rat 2013a), und auch das Europäische Parlament verabschiedete eine Resolution ähnlichen Inhalts am 23. Oktober 2013 (Europäisches Parlament 2013). Am 4. Dezember 2013 wurden die ersten Ergebnisse der TFM vorgelegt. Sie dienten als Grundlage der Diskussionen auf dem JHA-Ratstreffen am 5. und 6. Dezember 2013 sowie für den EU-Gipfel am 19. und 20. Dezember 2013.
Während eine detaillierte Analyse der Ergebnisse der TFM (Europäische Kommission 2013b; Europäische Kommission 2014a) noch aussteht, ist jedoch festzuhalten, dass die TFM keinen grundlegenden Politikwechsel, sondern nur ein Aufstocken, Harmonisieren oder Verbessern existierender Mechanismen vorschlägt. Ähnliches gilt es für die JHA-Ratstreffen wie auch die EU-Gipfel zu konstatieren. Trotz Erklärungen, dass sich Unglücke wie vor Lampedusa nicht wiederholen dürften, wurden weder konkrete Maßnahmen beschlossen, die diese künftig verhindern würden, noch eine Neuausrichtung europäischer Migrations- und Grenzpolitik in Aussicht gestellt. Angekündigt wurde lediglich, dass sich der EU-Gipfel im Juni 2014 noch einmal eingehender mit Fragen der Migrations- und Asylpolitik befassen werde (vgl. Europäischer Rat 2013b). Aufgrund der Ukraine-Krise und drängender Entscheidungen zur Besetzung der Spitzenämter in der EU wurde diese Ankündigung nicht umgesetzt und scheinbar an den Rat der InnenministerInnen übergeben.
Ungeachtet der Betroffenheit und des neuen diskursiven Fokus auf die Todesopfer des Grenzregimes fuhr die Europäische Union fort, zentrale restriktive Maßnahmen zu ergreifen. Noch am 10. Oktober 2013 verabschiedete das Europäische Parlament die Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) (Europäische Union 2013), welche am 22. Oktober 2013 in Kraft trat. EUROSUR, ein technologisches Informations- und Kommunikationssystem, innerhalb dessen von Satelliten, Drohnen und weiteren Überwachungsinstrumenten erhobene Daten über die europäische Außengrenze ausgetauscht werden, dient primär der Unterbindung irregulärer Migration und stellt damit einen Meilenstein in der Technologisierung der Grenze dar. Der Einsatz der erhobenen Daten zur Rettung von Flüchtlingen auf hoher See war von Anfang an umstritten, und obwohl der Gesetzestext explizit auf das Sterben auf hoher See Bezug nimmt, wird gleichzeitig festgehalten, dass EUROSUR lediglich einen „Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes und der Rettung des Lebens von Migranten“ (Europäische Union 2013: (1)) leisten soll. Das System wurde am 2. Dezember 2013 in Betrieb genommen. Am 15. Mai 2014 wurde zudem die so genannte Seeaußengrenzenverordnung (EU) Nr. 656/2014 verabschiedet (Europäische Union 2014), die eigentlich völkerrechtswidrige Pushback-Operationen auf hoher See im Rahmen der Einsätze der europäischen Grenzschutzagentur Frontex legalisiert (siehe auch den Beitrag von Matthias Lehnert in dieser Ausgabe).
Mare Nostrum
Zeitgleich zu dieser europäischen Dynamik zwischen humanitären Absichtserklärungen und der Fortsetzung von Aufrüstungsmaßnahmen setzten sich die Migrations- und Fluchtbewegungen über das Mittelmeer weiter fort. Damit bestand auch weiterhin die Gefahr neuer Schiffsunglücke mit Todesopfern.
Die italienische Regierung rief daher schon am 18. Oktober 2013 den humanitären Notstand in der Straße von Sizilien aus — also dem Teil des Mittelmeers zwischen Tunesien, Libyen und Sizilien — und begann die so genannte Operation Mare Nostrum, die zugleich als humanitäre und militärische Operation beschrieben wurde. Als Ziele der Operation wurden einerseits die Seenotrettung, andererseits die Verfolgung von Schleuserkriminalität angegeben. In die Operation einbezogen waren Marine, Luftwaffe, Carabinieri, Guardia di Finanza, Zoll, Küstenwache, das Militärkorps des Italienischen Roten Kreuzes sowie verschiedene dem Innenministerium unterstellte Polizeieinheiten, die mit der Migrationskontrolle befasst sind. In der Operation kamen Amphibienschiffe, Drohnen, Aufklärungsflugzeuge, Helikopter sowie mehrere Fregatten und Patrouillenschiffe zum Einsatz (vgl. Ministero della Difesa 2014).
Das Operationsgebiet von Mare Nostrum reichte anfangs bis an die libyschen Hoheitsgewässer. Mit Hilfe der eingesetzten Überwachungstechnik wurden Flüchtlingsboote aufgespürt und die InsassInnen auf italienisches Festland gebracht. Dies stellt einen elementaren Unterschied zur Praxis dar, Flüchtlingsboote auf hoher See aufzubringen und zur Rückkehr nach Libyen zu zwingen (Pushback/Refoulement), wie sie vor allem 2009 durchgeführt und welche vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im viel beachteten Fall Hirsi ./. Italien als Verstoß gegen die Menschenrechte charakterisiert wurde (vgl. Buckel 2013: 6.3.3).
Die Kosten der Operation wurden mit rund 9 Mio. Euro pro Monat angegeben, die aus dem italienischen Staatshaushalt kamen. Finanzielle Unterstützung von Seiten der EU oder anderer EU-Mitgliedsstaaten gab es nicht in nennenswertem Umfang (vgl. Carrera/den Hertog 2015). Die europäische Grenzschutzagentur Frontex war zwar auch mit den Operationen Hermes und Aeneas im Mittelmeer präsent, eine funktionierende Koordination oder sogar direkte Zusammenarbeit mit Mare Nostrum gab es jedoch nicht.
Schon Ende Mai meldete die italienische Marine den Aufgriff oder die Rettung von rund 43.000 Menschen im Rahmen von Mare Nostrum seit Jahresbeginn. Damit wurden in den ersten fünf Monaten des Jahres 2014 ebenso viele Menschen nach Italien gebracht wie im gesamten Jahr 2013. Im Juli 2014 wurden schon 67.000 Aufgriffe gemeldet, eine ähnliche Größenordnung wie im Jahr 2011, als die Aufstände des so genannten Arabischen Frühlings zu starken Aufbruchsbewegungen nach Europa führten (vgl. Cuttitta et al. 2011).
In einer Pressemitteilung erklärte der UNHCR Italien (2014) Mitte August, dass seit Anfang des Jahres schon über 100.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien geflohen seien. Dabei kämen knapp die Hälfte der Flüchtlinge entweder aus Eritrea oder aus Syrien. Zudem meldete der UNHCR 1.565 tote oder vermisste Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, 1.300 davon seit Anfang Juni. Dieser plötzliche Anstieg korrespondiert mit einer wenig publizierten Veränderung der Operationspraxis. So hatten sich die in Mare Nostrum eingesetzten Patrouillen Ende Mai von den libyschen Hoheitsgewässern zurückgezogen und überwachten dadurch einen wesentlich kleineren Teil der Straße von Sizilien. Ab August kam es zudem immer wieder zu massiven Unglücken mit oftmals vielen Hundert Toten.
Humanitarismus und Militarisierung
In den meisten Beiträgen zu der Debatte wurde bezüglich der Bewertung der Operation Mare Nostrum eine Ambivalenz deutlich. So schrieb Paolo Cuttitta, der seit über einem Jahrzehnt zum Grenzregime im Mittelmeer forscht:
„An sich ist die Operation eine grundsätzlich gute, teilweise ist sie aber auch nicht so gut. Keine Rückführungen, sondern Rettungsaktionen, die bis nahe an die libyschen Hoheitsgewässer reichen: das ist gut. Nicht gut ist, dass durch das humanitäre Element der Rettungsaktionen das gesamte Grenzregime in der Öffentlichkeit nicht in Frage gestellt, sondern gerechtfertigt wird.“
Auch Nina Perkowski, die als Politologin zu Frontex forscht, schloss sich dieser Bewertung an:
„Problematisch ist das Ganze trotz der positiven Seite der ‚Seenotrettung‘ allemal. Das humanitäre Element ist problematisch, es verschleiert Strukturen von Gewalt und Exklusion, die hinter den unsicheren Überfahrten stehen. Mare Nostrum kann schon deshalb nicht die ‚Lösung‘ sein, die muss viel fundamentaler ansetzen. Seenotrettung ja, bitte, aber die Darstellung Europas als Retterin der armen MigrantInnen, die ausgebeutet werden, die Militarisierung des Mittelmeers, die Normalisierung gefährlicher Überfahrten, das sind Dinge, die mir längerfristig eher Bauchschmerzen bereiten.“
Judith Gleitze, für borderline europe auf Sizilien tätig, schrieb:
„Ich halte die Zwiespältigkeit der Mission für zentral. Einerseits werden viele Leben gerettet, andererseits ist das Ziel, die so genannten Migrationsflüsse genau im Auge zu behalten, um zu verstehen, wer wo wann wohin will. Es bleibt meiner Meinung nach eine militärische und keine humanitäre Mission. Das sieht man allein an der Art der gewählten Rettungsaktion: Die Flüchtlinge müssen oft tagelang auf Marineschiffen zubringen, die dafür absolut nicht ausgerüstet sind. Auch die Nicht-Aufstockung der Mittel bei der Küstenwache, die eigentlich für die Rettung auf See zuständig ist, zeigt, dass es hier nicht um rein humanitäre Zwecke geht.“
Die Ambivalenz zwischen Humanitarismus und Militarisierung macht eine klare Einordnung der Operation Mare Nostrum schwierig. Sie offenbart, dass Humanitarismus und Militarisierung eben keinen Widerspruch darstellen, wie schon in den Debatten um die NATO-Intervention in Jugoslawien Ende der 1990er Jahre deutlich wurde, die auch mit einer humanitaristischen Logik gerechtfertigt wurden. Auch die Debatten um die stabilisierenden Effekte humanitaristischer Interventionen im Grenzregime verweisen darauf, dass Humanitarismus und Gewalt sich nicht per se gegenseitig ausschließen. Mit dem Verweis auf das schützenswerte menschliche Leben lassen sich gleichwohl Einsätze von ÄrztInnen wie auch Bombardements rechtfertigen. Welchen starken politischen Einfluss die Logik des Humanitarismus gegenwärtig hat, zeigte sich auch an einem Einwurf in die Debatte, der eine eindeutigere Positionierung auch der DiskutantInnen selbst einforderte:
„Ich fände es auch gut, einen anderen [appellativeren; Hinzufügung d. A.] Ton anzuschlagen — es geht hier ja nicht um wissenschaftliche Analysen (die sicher auch ihre Notwendigkeit haben), sondern um Menschenleben und um das, was Menschen durch ihre Bewegungen (im doppelten Sinne) erreichen.“
Strategien und Ziele
Die Einschätzung, ob Mare Nostrum andere Motive verfolgte als die bloße Rettung von Menschenleben war dabei durchaus umstritten. Schon in der initialen Fragestellung kritisierte Bernd Kasparek von bordermonitoring.eu:
„Ich halte den Kritikstrang, die Operation diene vor allem dazu, den Institutionen der Grenze (hier: Marine, Küstenwache, …) mehr Wissen über die Routen zu verschaffen sowie eine Legitimation und Finanzierung des Ausbaus von Überwachungstechnologie zu schaffen für eine recht dünne Kritik. Es ist die übliche Ambivalenz zwischen einer skandalisierenden Anrufung an den Staat, dass etwas getan werden müsse, und einer simplifizierenden Analyse staatlichen Handels, welches immer nur monolithisch als sinister verstanden wird.“
Auch Fabian Georgi, der als Politikwissenschaftler vor allem zur Rolle der IOM forscht, äußerte Zweifel an dieser Lesart:
„Mein Eindruck ist, dass Mare Nostrum nach der Bootskatastrophe vom Oktober 2013 recht spontan begonnen wurde, um auf die massive Kritik zu reagieren. Insofern ist Mare Nostrum ein ambivalenter ‚Erfolg‘ der Kämpfe der letzten Jahre. Dass es da feinsinnige Hintergedanken gab (mehr Überwachungstechnologie) finde ich nicht überzeugend. Angesichts der Tatsache, dass EUROSUR beschlossene Sache ist, bräuchte es diese Rechtfertigung nicht. Inwiefern die italienische Regierung die Operation von vorneherein als ‚Zwischenlösung‘ gesehen hat, bin ich mir nicht sicher. Ich denke, es handelt sich hier um ad-hoc-Politik in Reaktion auf eine Legitimationskrise. Möglicherweise war es gar als Symbolpolitik gemeint, nur dass es nun reale Auswirkungen im zentralen Mittelmeer hat.“
Klar ist, dass sich diese Positionen nicht unbedingt gegenüberstehen müssen. Gerade im Anschluss an den Ansatz der Regimeanalyse, der politisches und institutionelles Handeln als Ergebnis von Konflikten und Aushandlungen sieht, diskursive und praktische Zwänge, situative Allianzen und unintendierte Effekte in den Mittelpunkt rückt, relativieren sich die Fragen nach Motiven und Absichten. So schrieb auch Judith Gleitze:
„Meiner Meinung nach ist Mare Nostrum ein sehr verzweifelter Versuch, Menschenleben zu retten. Das, was die Mission eigentlich will, nämlich ‚Schlepperbanden‘ schnappen und deren Arbeit eindämmen, kann die Mission gar nicht leisten.“
Praktiken und Kontinuitäten
Einen wichtigen Hinweis auf die Kontinuitäten des Grenzregimes im Mittelmeer gab Paolo Cuttitta:
„Ich will nochmals unterstreichen, dass wir bei Mare Nostrum kaum was Neues gesehen haben, außer Ausmaß (mehr Mittel), Resultat (mehr Menschen aufgefangen, mehr Schlepper verhaftet), und Resonanz.
Weitere Unterschiede zwischen Mare Nostrum und der Vergangenheit, wie die Verteilung der aufgefangenen MigrantInnen auf verschiedene Häfen, manifestierten sich schon lange vor dem Massaker vom 3. Oktober vor Lampedusa, haben also nicht mit Mare Nostrum zu tun, sondern mit dem politischen Willen der Letta-Regierung, und später der Renzi-Regierung, zumindest etwas anders vorzugehen als zuvor.
Ansonsten waren alle wichtigen Merkmale des jetzigen italienisch-nordafrikanischen Grenzregimes grundsätzlich schon früher vorhanden.“
Paolo Cuttitta bezieht sich dabei darauf, dass schon das Bossi-Fini-Gesetz von 2002, also die immer noch einschlägig gültige italienische Migrations- und Asylgesetzgebung, vorsah, dass Marineschiffe internationale Gewässer patrouillieren dürfen. In der Tat ist Mare Nostrum auch nicht die erste italienische Militäroperation dieser Art in der Straße von Sizilien. Vielmehr begannen die ersten Patrouillen der italienischen Marine schon im Jahr 1995 — mit der expliziten Erlaubnis, Schiffe auch auf hoher See aufzubringen. Das Bossi-Fini-Gesetz hat diese Praxis lediglich ausgeweitet. 2004 wurde zudem die Operation Constant Vigilance gestartet, die zwar vom Umfang her wesentlich kleiner war, sich qualitativ aber kaum von Mare Nostrum unterscheidet. Paolo Cuttitta betonte daher an anderer Stelle, dass es eine qualitative Kontinuität bezüglich des Engagements italienischer Behörden bezüglich der Rettung von MigrantInnen gebe, und lediglich die neue humanitaristische Rhetorik rund um den Beginn von Mare Nostrum vorgibt, es handle sich um eine neue Entwicklung (Cuttitta 2014: 8).
Auch von Judith Gleitze kamen weitere Hinweise auf die tatsächlichen Praktiken der an der Operation Mare Nostrum beteiligten Akteure.
„Ich finde Mare Nostrum nach wie vor zwiespältig. Positiv und eine Zäsur sind die massenhafte und breite Rettung, negativ ist und bleibt das militärische Denken dahinter. Hinzu kommt die Praxis der Identifizierungen an Bord, die von mitfahrender Polizei durchgeführt wird, die Diebstähle an MigrantInnen durch Marinesoldaten, die mögliche Kooperation mit Libyen. Ich finde es im Moment schwer, eine eindeutige Position dazu einzunehmen.
Die Kommandanten, zumindest die, mit denen wir reden konnten, rühmen sich einerseits und zu Recht der Seenotrettung. Andererseits beschreiben sie es wie einen Kriegseinsatz.“
Detailliertere Informationen zu den Praktiken finden sich in der Broschüre Rescue at sea — The situation in the Sicilian Strait von borderline europe (2014).
Arabischer Frühling und die Krise Schengens
Eine andere Bewertung von Mare Nostrum steuerte Helmut Dietrich bei, der im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration schon seit den 1990er Jahren die Dynamiken der europäischen Grenzen verfolgt:
„Zum ersten Mal in der ca. 30-jährigen Geschichte der Festung Europa gibt es etwas zu feiern. Erstmals wurde das Prinzip durchbrochen, dass mehr Überwachung mehr Tod bedeutet. Erstmals konnte ein Höchstmaß an Aufrüstung nicht in noch mehr Abschottung umgewandelt werden, wie beabsichtigt, sondern konnte zweckentfremdet werden: Militärs als Seenotretter in Massendimensionen — diese Perspektive geht klar in die Richtung ‚Schwerter zu Pflugscharen‘.
Ein Riesensieg, den vor allem die Flüchtlinge und MigrantInnen errungen haben, und an zweiter Stelle die nordafrikanischen Aufstände, die das nordafrikanische Küstenwachensystem ziemlich außer Kraft gesetzt haben, bis heute. Und erst an dritter Stelle lag es an der entstehenden kritischen Öffentlichkeit in Europa.
Wir haben es also mit einer historischen Zäsur zu tun. Die Antwort der Festung Europa wird unberechenbar sein. Die Festung Europa ist, trotz allergrößter Aufrüstung, in ihrer tiefsten Krise.“
Dabei geht es Helmut Dietrich bei weitem nicht um bloßen Optimismus. Vielmehr betrachtet er die Verknüpfung zwischen humanitärer und militärischer Mission aus entgegengesetzter Perspektive kritisch: In Mare Nostrum lernen die Soldaten das Retten, und verlernen das Schießen.
„Und das ist der tiefere Grund, warum die italienische Regierung, die EU und die Militärstrategen Mare Nostrum stoppen werden. Sie brauchen für künftige Kriege eine mörderische Mentalität. Wie ist es denn, wenn die italienische Marine im Herbst 2014 beispielsweise die libyschen Häfen besetzten sollte, und wenn das nur mit Kriegseinsätzen geht?“
Diese Bewertung findet sich auch wieder in dem Beitrag von Aktiven bei verschiedenen antirassistischen Netzwerken, der unter dem Titel Sieben Thesen zur italienischen Marineoperation Mare Nostrum erschienen ist (Afrique Europe Interact et al. 2014):
„Mare Nostrum sollte das Sterben reduzieren, um einer handfesten Legitimationskrise des Migrationsregimes vorzubeugen. Als Seenotrettungsprogramm ist Mare Nostrum unterdessen für eine große Zahl von Flüchtlingen und MigrantInnen zur (halben) Brücke nach Europa geworden. Genau das sollte — so ungewöhnlich es erscheinen mag — als ein an Bedeutung kaum zu überschätzender Lichtblick bzw. Erfolg der letzten Monate verstanden und anerkannt werden, im Übrigen auch mit Blick auf die ebenfalls existentiell in Mitleidenschaft gezogenen Angehörigen.“
EU, Frontex Plus, Triton
Innerhalb der EU stand die italienische Regierung mit der Operation isoliert da. Nina Perkowski verwies auf die sich entfaltende Konstellation in der EU:
„Auf der anderen Seite habe ich gehört, dass es von Seiten anderer EU-Mitgliedsstaaten durchaus großen Druck auf Italien gab, Mare Nostrum einzustellen — eben weil es so dargestellt wird, dass es ein ‚pull factor‘ für Flüchtlinge und MigrantInnen ist und die Anzahl der Ankünfte erhöht hat. Es würde mich also nicht überraschen, wenn es nun eingestellt werden soll.“
In der Tat weigerte sich die EU standhaft, die Operation finanziell zu unterstützen oder anderweitig Verantwortung zu übernehmen. Italien wurde sogar vorgeworfen, zu viele Flüchtlinge ins Land zu holen, die sich dann innerhalb der EU weiterbewegten, quasi ein Wiederaufflammen des Konflikts, der 2011 nach den Revolutionen in Nordafrika im Besonderen zwischen Italien und Frankreich ausgetragen wurde (vgl. Kasparek/Tsianos 2013). Dieser Konflikt führte letztendlich zu einer Reform des Schengen Acquis, der nun die zeitweise Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen aufgrund von quantitativ hohen Flüchtlingsbewegungen innerhalb des Schengener Raums erlaubt.
Am 27. August erklärten daher der italienische Innenminister Angelino Alfano und die damalige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström nach einem gemeinsamen Treffen in Brüssel, dass die Frontex-Operationen Hermes und Aeneas zur neuen Operation Frontex Plus zusammengelegt werden sollten (vgl. European Commission Audiovisual Services 2014). Diese solle „so schnell wie möglich“ (Alfano) gestartet werden, damit dann Mare Nostrum langsam durch die italienische Regierung heruntergefahren und beendet werden könne. Cecilia Malmström machte dabei aber klar, dass es sich keineswegs um eine Fortsetzung von Mare Nostrum unter der Flagge der EU handeln solle, sondern dass der Fokus auf der Schengen-Grenze Italiens und ggf. Maltas liegen solle.
Tatsächlich begann die italienische Regierung gegen Ende des Jahres 2014 langsam, Mare Nostrum herunterzufahren. Die Operation hatte damit insgesamt rund 150.000 Menschen gerettet (Gleitze 2015) und auf italienisches Festland gebracht. Dennoch kam es im Jahr 2014 zu 3419 Todesfällen auf hoher See (vgl. UNHCR 2014).
Am 1. November 2014 startete die angekündigte Frontex-Operation unter dem Namen Triton. Wie zu vernehmen war, hatte der vorgeschlagene Name Frontex Plus große Widerstände innerhalb von Frontex ausgelöst, suggeriere er doch, dass die Operation vom Auftrag her über das hinausgehe, was Frontex bisher getan hätte. Auch wenn Frontex also nicht müde wird zu betonen, welche hohe Priorität die Rettung menschlichen Lebens für die Agentur hat: Das Mandat Tritons unterscheidet sich wesentlich von der Mission Mare Nostrum. Zielte letztere primär auf die Rettung von Menschenleben ab, so ist Triton zuallererst eine Grenzschutzoperation, die sich in erster Linie gegen das irreguläre Überschreiten der europäischen Außengrenze im Mittelmeer richtet (vgl. Frontex 2014), und damit eine Rückkehr zum status quo ante darstellt. Die Operation ist mit einem monatlichen Budget von 2,9 Mio. Euro (Europäische Kommission 2014b) ausgestattet und im Wesentlichen auf eine 30-Seemeilen-Zone rund um die süd-italienische Küste beschränkt (vgl. Gaiani 2014).
Über die Ausrichtung des Grenzregimes im zentralen Mittelmeer scheint sich mittlerweile eine veritable Auseinandersetzung entwickelt zu haben. Laut einer Meldung von adnkronos (2014) hatte der Leiter der operativen Abteilung von Frontex, Klaus Rösler, in einem Schreiben an den Leiter der Grenzpolizei im italienischen Innenministerium gefordert, dass Seenotrettungseinsätze auf die 30-Seemeilen-Zone der Operation Triton beschränkt werden sollen. Hintergrund ist die fortgesetzte Praxis der italienischen Seenotrettungszentrale in Rom, Notrufe aus dem gesamten zentralen Mittelmeer entgegenzunehmen, gegebenenfalls auch an Triton weiterzuleiten oder auch die italienische Marine zu verständigen. In dieser Hinsicht scheint Mare Nostrum noch nicht vollkommen zum Erliegen gekommen zu sein. Außerdem wird berichtet, dass die italienische Regierung eine Neuauflage von Mare Nostrum in Betracht zieht (vgl. Anonymus 2015).
Forderungen
Ist es daher, trotz der vielen Menschen, die auch während der Operation Mare Nostrum im Mittelmeer ihr Leben verloren haben, angebracht, eine Fortsetzung der Operation zu fordern?
Paolo Cuttitta verneinte dies:
„Einfach zu sagen, es lebe Mare Nostrum, Europa muss mitmachen, wäre nicht genug. Mare Nostrum soll weitermachen, aber auch verbessert werden. Das Ziel muss sein, den Leuten die Überfahrt mit den Gummibooten (und die damit verbundenen Erpressungen usw.) gänzlich zu ersparen. Das heißt aber nicht, wie es etwa die italienische Regierung meint, dass sie drüben bleiben sollen, sondern ihnen die Möglichkeit angeboten wird, in Sicherheit überzufahren.“
Und auch Judith Gleitze teilte dies:
„Unsere Forderungen sind natürlich eher, nicht Mare Nostrum zu verlängern, sondern: Erstens eine vernünftige Aufstockung der Küstenwache zur Rettung auf See, zweitens sollte Menschenrettung tatsächlich humanitär laufen, nicht militärisch und drittens bleiben legale Einreisewege die einzige Möglichkeit, das Sterben zu stoppen.“
Helmut Dietrich skizzierte einen pragmatischen Vorschlag, wie in diese Richtung agiert werden könnte:
„Flüchtlingspolitisch richtig wäre, die Einrichtung eines richtigen Flüchtlingsfährdienstes zwischen Nordafrika und Südeuropa anzugehen. Dazu müssten große Reedereien angesprochen werden, zeitgleich auch etablierte Kreise in Italien, der EU und Nordafrika, die bei erneuten großen Schiffstragödien offen aus dem Konsens der Festung Europa ausscheren werden. Das Ganze müsste von der Forderung nach freiem Geleit flankiert werden.“
Bewertung
Trotz der skizzierten Ambivalenzen der Operation einerseits, und der aufgezeigten Kontinuitäten des Grenzregimes im Mittelmeer andererseits stellt Mare Nostrum — gerade im Vergleich mit der Frontex-Operation Triton — weiter eine Option für einen Kurswechsel in der EU-Grenzpolitik dar. Denn zum ersten Mal wurde versucht, das Primat der Rettung von Menschenleben in der Grenzpraxis durchzusetzen, wenngleich auch nicht mit einem Apparat, der dafür ausgelegt und geeignet war.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Mare Nostrum lediglich eine Ad-hoc Reaktion auf die durch die Unglücke von Lampedusa verursachte Legitimationskrise des europäischen Grenzregimes war. Doch gerade durch die Koexistenz von Mare Nostrum einerseits und Triton andererseits wurde die Fragestellung, ob das Grenzregime auf das Leben oder auf das Sterben abzielt, in unvorhersehbarer Weise zugespitzt.
Mare Nostrum hat nicht nur Bewegung in die europäische Politik der Seegrenzen gebracht. Durch die temporäre Aufnahme und die darauf folgende Weiterwanderung vieler Tausend MigrantInnen und Flüchtlinge steht auch das europäische Asylsystem, und in ganz besonderer Weise das Dublin-System unter Druck (vgl. Kasparek/Tsianos in dieser Ausgabe). Zum ersten Mal seit der Schaffung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems scheint eine grundlegende Revidierung der first-country-rule (Dublin) greifbar zu sein, während Vorschläge zur Ermöglichung legaler Migration nach Europa auf dem Brüsseler Tisch liegen. Diese Diskussion geht einher mit einem Wiederaufwärmen des Blair-Schily-Plans von 2004, der die Schaffung von Aufnahmelagern in Nordafrika vorsah, aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Die Dynamiken des europäischen Grenzregimes könnten in den nächsten Jahren also einen neuen Höhepunkt erreichen. Mare Nostrum mag lediglich der Auftakt zu diesen neuen Entwicklungen gewesen sein.
Literatur
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