Im Folgenden dokumentieren wir die Pressemitteilung des Rats für Migration (RfM) vom 29. April 2015 anlässlich des fortgesetzten Sterbens im Mittelmeer.
Der Rat für Migration empfiehlt dringende Reformen: Europa muss Dublin abschaffen und einen fairen Lastenausgleich schaffen, Deutschland muss sich endlich konsequent zu Einwanderung bekennen und einen überparteilichen Konsens finden.
Nach den tragischen Schiffsunglücken in den vergangenen Wochen hat die Politik scheinbar schnell reagiert und am 23. April einen ‚außerordentlichen EU-Gipfel’ einberaumt. Doch die Beschlüsse des Sondergipfels sind ein Dokument der Hilflosigkeit Europas, erklärten am Mittwoch Mitglieder des Rats für Migration (RfM), einem bundesweiten Wissenschaftler-Verbund. Nur ein Punkt im 10-Punkteabkommen bezieht sich auf Seenotrettung, stattdessen soll das Budget für Grenzschutz verdreifacht werden. Das Mandat der aufgestockten Frontex-Mission Triton ist weiterhin auf Grenzabwehrmaßnahmen ausgerichtet. „Dieses überbordende Kontroll- und Sicherheitsparadigma soll den Bürgerinnen und Bürgern Handlungsfähigkeit suggerieren“, erklärt Prof. Dr. Sabine Hess von der Universität Göttingen. „Doch Menschen, die in Krieg, Elend und Verachtung leben, werden sich davon nicht abschrecken lassen – sie werden weiter ihre Länder verlassen und vor den Toren Europas sterben.“
„Tote vor den Grenzen der Festung Europa sind die neue Währungseinheit der europäischen Flüchtlingspolitik!“, kritisiert auch Prof. Dr. Klaus J. Bade, der den RfM gegründet hat und bis 2012 Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) war. „Mitverantwortlich dafür ist auf europäischer Ebene Deutschland beziehungsweise das Bundesinnenministerium, das bei der Flüchtlingspolitik vorwiegend an Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr denkt.“
Dr. Bastian A. Vollmer von der Universität Oxford warnt vor einem Schlepperdiskurs, der eine Zuspitzung des Feindbilds ‚Schlepper‘ generiert. Er kritisiert den aktuellen Fokus auf das sogenannte ‚Schlepperunwesen‘ und bezeichnet das als zynisch. „Die europäische Politik der Einwanderungsverhinderung sowie die Militarisierung der EU-Außengrenze hat diesen lukrativen Wirtschaftssektor erst zum Blühen gebracht.“
Handlungsempfehlungen: Was muss sich ändern?
Auf europäischer Ebene
Die Seenotrettung muss entkoppelt werden von allen Fragen der Asylsuche. „Wir brauchen für den kommenden Sommer ein humanitäres Moratorium für ganz Europa, das mit der Logik des Grenzschutzes bricht und die Fluchthilfe und Seenotrettung zur Priorität macht“, sagt Dr. Vassilis Tsianos von der Universität Hamburg. Ferner seien sichere Schutzkorridore einzurichten und die Seenotrettungsaktion Mare Nostrum in ein neues Programm zu überführen. „Das ist das Gebot der Stunde.“
Der Rat fordert die Abschaffung des Dublin-Abkommens. Es sei laut Erkenntnissen der Migrationsforschung gescheitert, wie zuletzt eine Studie des renommierten Migration Policy Institute zeigte. „Das ‚Dublin-System‘ hat nie seinen Zweck erfüllt, Flüchtlinge in dem ersten Land, welches sie in der EU betreten haben, festzuhalten“, sagt Prof. Dr. Dietrich Thränhardt von der Universität Münster. Außerdem sollten Länder, die Flüchtlingen in der Not helfen, nicht automatisch für die Erstaufnahme und weitere Verwaltung verantwortlich sein. Hier ist ein dringender europäischer Lastenausgleich notwendig. Auch menschenrechtlich sei Dublin fragwürdig: „Dieser verwaltungstechnische Verschiebebahnhof hindert Familien über Jahre daran, sich dort niederzulassen, wo sie eine unterstützende Infrastruktur finden würden“, sagt Prof. Dr. Sabine Hess. „Dublin produziert ein binneneuropäisches Apartheidssystem, in dem zwei Klassen von Mobilitätsrechten vergeben werden.“
Die Wissenschaftler fordern darüber hinaus eine Aufhebung der Visumpflicht für Flüchtlinge aus bestimmten Ländern: Der überwiegende Teil von Bürgerkriegsflüchtlingen stammt zurzeit aus Syrien, Eritrea und Somalia. Flüchtlinge aus Syrien können in Europa beispielsweise mit Anerkennungsquoten von über 89 Prozent rechnen. Dennoch gibt es keinen Weg für sie, legal zu fliehen und in Europa einzuwandern.
In Deutschland
Langfristig müssen Flucht und Asyl im Kontext von Einwanderung und Migration gedacht werden. Der Königsteiner Schlüssel wird Konflikte zwischen Ländern und Kommunen nicht lösen und ist nur eine Annäherung an ein solidarisches System.
Der Rat für Migration gibt zu bedenken, dass Maßnahmen weit in die Zukunft gedacht werden müssen und empfiehlt die Einrichtung eines Zentrums für Integrations- und Migrationsgestaltung: Deutschland brauche einen Ort, wo Wissen und Analyse mit Fragen der praktischen Umsetzung Hand in Hand gehen. Es braucht Begleitforschung zur Analyse menschengerechter Integration und Gleichbehandlung ebenso wie Analysen zur Stärkung des demokratischen Zusammenhalts der Einwanderungsgesellschaft.
Integration sollte an die Stelle der Abschreckung treten: Flüchtlinge und Asylsuchende sollten sofort arbeiten dürfen, Sprachkurse erhalten und nur dort untergebracht werden, wo es auch Arbeit gibt. „Hier hätte die Politik die Bevölkerung auf ihrer Seite“, sagt Klaus J. Bade: 72 Prozent der Deutschen befürworten einen schnellen Zugang zu Arbeit, nur 24 Prozent sind dagegen (Focus 17/2015: 25). Überall gibt es praktische Unterstützung für Flüchtlinge, die insgesamt stärker ist als die Flüchtlingsfeindschaft.
Dieser laufende und wachsende ‚Aufstand der Anständigen‘ sollte von allen Parteien und Politikern konstruktiv genutzt werden, statt durch das Bedienen populistischer Ressentiments Stimmen am rechten Rand fangen zu wollen. Dafür brauchen wir in Deutschland eine Veränderung des politischen Leitbildes und einen politischen Konsens. Die Botschaft muss lauten: Migration ist keine Option, sondern eine Tatsache, die wir konstruktiv gestalten müssen.
AutorInnen: Prof. Dr. Klaus J. Bade, Prof. Dr. Sabine Hess, Prof. Dr. Dietrich Thränhardt, Dr. Vassilis Tsianos, Dr. Bastian A. Vollmer, Prof. Dr. Andreas Zick.
Kontakt für Presseanfragen: 030-2007 6480 / info@rat-fuer-migration.de
Quelle: http://www.rat-fuer-migration.de/pdfs/RfM_Pressemitteilung_Asylpolitik_2015.pdf