Abstract In this article I reflect the context and the experiences of my research on humanitarianism as a form of governance in the Syrian refugee crisis in Lebanon. With more than every fifth person in Lebanon being a Syrian refugee as well as a strict non-camp policy, the refugees’ living conditions differ a lot. Moreover Lebanese politics are highly intertwined with the conflict in neighbouring Syria. While the country has a very weak government, it has a strong presence of supra-national organisations and a very diverse scene of non-governmental organisations, reaching from international and local organisations over Syrian grassroots initiatives to mainly Gulf-financed Islamic charities. Initially, the research focused primarily on the interplay of different humanitarian actors in dealing with the Syrian displacement in Lebanon. Though, in this regard, humanitarianism can be reconstructed as a field of social and political struggles, humanitarian approaches focus generally on needs and not on political demands for more rights. Experiences in Beirut suggested that resistance towards the humanitarian regime was rather to be found at its margins, where its rationalities where rejected. In this sense attempts to cross the European border regime can also be read as acts that challenge logics of humanitarian government and regional containment.
Wie werden Flüchtlinge regiert? Wie funktioniert das Zusammenspiel humanitärer Akteure im Regieren von Flucht? Wie können Governance-Strategien im Kontext der massiven Fluchtbewegungen im Nahen Osten und vor dem Hintergrund fragiler Staatlichkeit und transnationaler Konflikte untersucht werden? Mit diesen Fragen begann ich im Januar 2014 einen mehrmonatigen Feldforschungsaufenthalt im Libanon.
In diesem Artikel werden Kontexte und Erfahrungsräume dieses Forschungsaufenthaltes reflektiert. Es werden Herausforderungen und erste Erkenntnisse der Erforschung des dortigen humanitären Regimes, insbesondere von Libanons Politiken gegenüber syrischen Flüchtlingen, aufgezeigt. Damit ergibt sich abschließend ein Blick auf die Ränder des humanitären Regimes, wo Politiken des Containments als Teil ‚humanitären Regierens‘1 deutlich werden.
Libanons Politik gegenüber syrischen Flüchtlingen
Der Libanon ist das am stärksten vom Krieg in Syrien betroffene Nachbarland. Bei einer eigenen Einwohner_innenzahl von circa 4,5 Millionen hat der Libanon knapp 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen (UNHCR 2014). Die Zahl der nicht als Flüchtling registrierten Syrer_innen im Libanon ist unbekannt; schätzungsweise handelt es sich um mehrere Hunderttausend. Bisher können syrische Staatsangehörige visumsfrei einreisen.2 Die Solidarität und Aufnahmebereitschaft der libanesischen Gesellschaft sind groß. Teilweise liegt das an Verwandtschaftsbeziehungen und politischen Allianzen über die Grenze hinweg sowie daran, dass viele Libanesen selbst schon einmal Zuflucht in Syrien gefunden haben — der letzte Krieg mit Israel liegt erst acht Jahre zurück, der libanesische Bürgerkrieg knapp 25 Jahre. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen allerdings mit der Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt stark zu. Auch die Wirtschaft ist durch den Krieg in Syrien stark beeinträchtigt. Besonders in weniger gut bezahlten Jobs kommt Konkurrenz auf. Syrische Flüchtlinge sind bereit beziehungsweise gezwungen, für Hungerlöhne zu arbeiten. Umgekehrt spüren viele Flüchtlinge, dass sie bei der Arbeitssuche zunehmend Diskriminierungen ausgesetzt sind (vgl. Mitri 2014; International Crisis Group 2013; Harb/Saab 2014; fortlaufende Gespräche und Beobachtungen).
Die Äußerungen mehrerer Minister lassen jedoch befürchten, dass die Visumsfreiheit bald aufgehoben wird. Sozialminister Rashid Derbas zum Beispiel erklärte, man könne doch auf syrischer Seite in sicheren Gebieten internationale Flüchtlingslager einrichten: „Die Flüchtlinge leben hier unter unmenschlichen Bedingungen und daher begannen wir darüber nachzudenken, dass es in Syrien sichere Gegenden gibt“ (Daily Mail 2014). Derselbe Minister präsentierte ein paar Tage später eine weitere Idee: Nur wer aus einer Gegend Syriens komme, die in der Nähe der libanesischen Grenze liege, solle in den Libanon fliehen dürfen. Und der ehemalige Premierminister Najib Mikati fand: „Wir sollten ab heute keinen einzigen Flüchtling mehr ins Land lassen“ (Mikati 2014).
Dass der Ruf nach einer härteren Gangart durchaus schnell in die Tat umgesetzt werden kann, demonstrierten die libanesischen Behörden im Frühjahr und Sommer 2014 mit vehementen Aktionen: Unter anderem wurden syrische Geschäfte geschlossen, palästinensische Syrer_innen abgeschoben und ihnen die Einreise verweigert. Landesweit einheitliche Gesetze zum Umgang mit den Schutzsuchenden wurden jedoch nicht verabschiedet. Die Reaktionen der libanesischen Politik reflektieren die Überforderung des Landes, in dem staatliche Institutionen nur sehr schwach entwickelt sind (Human Rights Watch 2014; Anonymus 2014a; b).
Der regionale Vormarsch der IS-Milizen sowie die im August ausgebrochenen Kämpfe zwischen Djihadisten und der libanesischen Armee in der libanesischen Grenzstadt Aarsal setzen die überwiegend sunnitischen Flüchtlinge zusätzlich unter Druck. Bei alledem ist es beachtlich, wie die tief gespaltene libanesische Gesellschaft bisher ohne weitreichendere Eskalationen so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Dabei laufen im Libanon nicht nur politische und militärische Strategien der Regionalmächte zusammen, die an einer fortschreitenden Destabilisierung des Landes kein Interesse haben, sondern auch humanitäre Gelder von westlichen wie auch Golfstaaten fließen ins Land (Mitri 2014; International Crisis Group 2013).
Humanitäres Regime
Mit den Fluchtbewegungen aus Syrien wuchs der humanitäre Sektor im Libanon rapide an. Bereits bestehende Organisationen wurden größer und wichtiger, andere entstanden neu. Die Dichte der verschiedensten humanitären Organisationen ist mittlerweile sehr groß, und sie haben gewichtigen Einfluss auf die Flüchtlingspolitik des Landes. Das Zusammenspiel staatlicher Institutionen, internationaler und zwischenstaatlicher Organisationen, sozialer und religiöser Netzwerke sowie von NGOs und Initiativen von Flüchtlingen formiert ein transnationales humanitäres Regime. Fragen der Unterbringung, des Zugangs zu Krankenhäusern und Schulen, zum Arbeitsmarkt und zu Unterstützungsleistungen stehen im Vordergrund der täglichen Arbeit der humanitären Akteure. Politische Motivationen und kulturell-religiös unterschiedliche Konzeptionen humanitären Handelns beeinflussen dabei die Ausrichtung ihres humanitären Handelns. Wie Einfluss und Entscheidungsgewalt innerhalb des humanitären Regimes verteilt sind, ist in den Aufnahmeländern sehr unterschiedlich. Im Libanon ist aufgrund der staatlichen Laissez-faire-Politik das Engagement humanitärer Organisationen besonders wenig koordiniert bzw. reguliert. Die Koordination wird viel eher von den UN-Institutionen, insbesondere vom UNHCR, betrieben. Dabei bleiben allerdings diverse lokale Organisationen aus verschiedenen Gründen außen vor.3
Ethnographische Regimeanalyse
Methodologisch ist meine Forschung als ethnographische Regimeanalyse angelegt. Sie baut auf Annahmen einer Anthropology of Policy auf, die Macht als einen Aushandlungsprozess begreift. Demnach wird Macht weder nur von oben noch von unten ausgeübt, sondern entfaltet sich in den Wechselwirkungen zwischen den skalar verschieden positionierten Akteuren. Chris Shore und Susan Wrigth beschreiben den Forschungsprozess der Anthropology of Policy auch als ein studying through (1997: 14). Forschungspraktisch, so Sabine Hess und Serhat Karakayali, ermöglicht der Regimebegriff, „eine Vielzahl von Akteuren in die Analyse einzubeziehen, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen sind, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik“ (2007: 48). Methodisch bedient sich die ethnographische Regimeanalyse eines Methodenmixes, wobei in meiner Forschung qualitative Interviews, Gespräche und Beobachtungen, Dokumenten- und Diskursanalysen sowie Mappings zentrale Bestandteile der empirischen Forschung sind.
Der Anthropologe Didier Fassin beschreibt, dass es gerade im Bereich des „humanitarian government“ zu neuen Machtkonstellationen („new constellations of power“) komme (Fassin 2007a). Nicht nur werden humanitäre Argumente für die Durchsetzung (zwischen-)staatlicher Politiken herangezogen, sondern auch lokale, nicht-staatliche Akteure gewinnen an Bedeutung, indem sie den humanitären Diskurs anrufen.
Im Libanon betreten allerdings nicht nur neue Akteure die Bühne humanitärer Politik. Organigramme oder Listen, die auch jenseits der UN-koordinierten „response“4 einen Überblick darüber geben, wer wo mit welchen Schwerpunkten arbeitet, sind nicht erhältlich. Auch eine legislative Rahmung der libanesischen Politik gegenüber den syrischen Flüchtlingen ist bestenfalls rudimentär vorhanden. In Interviews mit Vertreter_innen von UN-Institutionen, islamischen Wohlfahrtsverbänden, libanesischen und ausländischen NGOs sowie syrischen Aktivist_innen gingen denn auch die Beschreibungen, wie Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Einflussbereiche innerhalb des humanitären Feldes verteilt sind, entsprechend der jeweiligen Positionen weit auseinander. Die Erarbeitung eines Mappings, das als Grundlage für meine ethnographischen Fallstudien dienen soll, stellte sich entsprechend als größere Herausforderung als angenommen heraus, da es höchstens perspektivisch anzulegen ist.
Flüchtlingspolitische Realitäten im Libanon
Über dieses Mapping hinaus wollte ich in meiner Erkundung des humanitären Regimes im Libanon zwei Fallstudien in Flüchtlingslagern durchführen, um dort das Zusammenspiel der humanitären Akteure in der täglichen Praxis zu untersuchen und greifbarer zu machen. Welche Organisationen sind in den Lagern vor Ort? Was machen sie? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen ihnen und wie koordinieren sie ihre Arbeit? Wie wirken die Initiativen und Reaktionen der Flüchtlinge in dieses Zusammenspiel? Im Libanon gibt es keine offiziellen Lager für syrische Flüchtlinge, sondern nur sogenannte Informal Tented Settlements (ITS), die nicht offiziell vom Staat, sondern bestenfalls von den lokalen Kommunen genehmigt sind. Oftmals sind es einfach Privatpersonen, die Parzellen ihres Ackers vermieten. Diese Lager entstehen als lose Ansammlungen. Ein libanesischer NGO-Mitarbeiter fasste es in die Worte: „Es gibt niemanden, der diese Camps ‚verwaltet‘, es gibt Organisationen, die ihre Services dort hinbringen“ (Interview, 08.02.2014). Zudem sind diese Camps nicht das dominierende Unterkunftsmodell: Zwar leben circa 150.000 der syrischen Flüchtlingsbevölkerung im Libanon verteilt auf über 400 ITS, andere mieten aber Rohbauten, Garagen, Wohnungen oder kommen bei Gastfamilien unter (UNHCR Lebanon 2014; Harb/Saab 2014: 8). Mit dem Argument, dass humanitäres Handeln wahrscheinlich deutlicher in Flüchtlingslagern als in Urban Displacement-Situationen zu Tage tritt, sollten sich die Fallstudien ursprünglich ausschließlich auf die ITS fokussieren. Bei der Sondierung entsprechender Lager spielten Kontakte und Erreichbarkeit, Sicherheit, die Bedeutung der konfessionellen Segregation und auch das Zusammenkommen verschiedener humanitärer Akteure und ggf. die Durchführung bestimmter Projekte eine Rolle.
Während ich noch überlegte, wie ich die Forschungen in einem Lager am besten umsetzen könnte, spielten sich in meinem Alltag in Beirut, wo ich seit Anfang 2014 mit Unterbrechungen lebe, ganz andere Dinge ab, die zwar auch Bezüge zur Flüchtlingspolitik hatten, aber zunächst überhaupt nicht Gegenstand meiner Forschungen sein sollten: Im Studienjahr 2009/10 hatte ich selbst in Syrien studiert und einen Freundeskreis aufgebaut. Über diese Freund_innen und Bekannten hatte ich seit Beginn des Syrien-Konfliktes 2011 mitbekommen, wie Existenzgrundlagen wegbrachen, Wohngegenden zerstört wurden, Arbeitsplätze verloren gingen, nahestehende Personen verschwanden und getötet wurden, sie flohen oder sich in seltenen Fällen weiterhin in Syrien engagierten. In Beirut erlebte ich, dass soziale Netzwerke durchaus funktionierten und sich Leute wieder trafen, aber auch, wie die schwierigen Zukunftsperspektiven im Libanon an den Nerven vieler Syrer_innen bzw. palästinensischen Syrer_innen zehrten. In nachdenklich-ruhigen Momenten, aber auch inmitten von Beiruts vielfältiger Ausgehszene, bei Ausstellungseröffnungen oder in Kneipen, hörte ich immer wieder den Satz: „Ich fühle mich im Libanon wie in einem Gefängnis.“ Meine überwiegend syrischen Mitbewohner_innen hatten ihr Studium noch in Syrien abgeschlossen oder hatten in Syrien oder im Libanon studiert, mussten dann aber ihr Studium unterbrechen, weil sie das Land verlassen mussten oder weil sie sich die Studiengebühren im Libanon nicht mehr leisten konnten. Sie gehörten zur syrischen Mittelschicht und konnten es sich, wenn auch unter prekären Umständen, erlauben, in Beirut zu wohnen. Sie nahmen keine humanitären Dienstleistungen in Anspruch — und nur einmal diskutierten wir, ob es etwas bringen könnte, sich beim UNHCR zu registrieren. Sie arbeiteten oder suchten Arbeit, manchmal waren es gerade humanitäre Organisationen, über die sich projektgebunden kleinere Arbeitsverträge für sie ergaben. Obwohl das Überleben im Libanon soweit irgendwie funktionierte, wussten sie weder, wie es im Libanon vor, noch zurück gehen sollte. Sie grübelten über ihre Zukunftsperspektiven, fragten sich ob sie notfalls auch zurückgehen würden und welche Möglichkeiten es gab, nach Europa zu gelangen.
Auch mit Taxifahrern oder dem in Beirut fast omnipräsenten Wachpersonal ergaben sich ab und zu Alltagsgespräche. Meist waren es Libanesen, die ohnehin schon im Niedriglohnbereich arbeiteten und die darüber klagten, dass sie Arbeit verlören, weil die Flüchtlinge für noch weniger Geld arbeiten würden. Auch der Blick in die libanesischen Tageszeitungen verdeutlichte, wie sich der Flüchtlingsdiskurs verschärfte. Die Politiker_innen überschlugen sich fast mit realistischen und unrealistischen Ideen, wie die Flüchtlingszahlen begrenzt werden könnten. Außerdem waren es im Sommer 2014 nicht mehr nur einzelne Dörfer, die abendliche Ausgangssperren für Syrer_innen verhängten, sondern auch zwei Stadtteile am Rand von Beirut. Spätestens als im Juni der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein Flüchtlingslager im Libanon besuchte, humanitäre Hilfe versprach und ein drittes Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge aus Syrien mit 10.000 Plätzen in Deutschland ankündigte, war das Anlass genug für mich, einen Artikel zu schreiben, der einen Bogen von der libanesischen zur europäischen und deutschen Flüchtlingspolitik schlug. Dabei waren nun nicht mehr nur die offiziellen Aufnahmeprogramme und humanitäres Handeln im Libanon relevant, sondern auch die irregulären Wege nach Europa, die Menschen aus Syrien auf ihrer Flucht nehmen müssen und die entsprechenden Grenz- und Visapolitiken der Schengenländer. Die reguläre Visavergabe für syrische Staatsangehörige ist in Deutschland z.B. mittlerweile stark eingeschränkt. Wo vor dem Krieg ein Besuch in Deutschland auf Einladung von Verwandten oder Bekannten noch möglich war, ist es seit Beginn des Krieges ungleich schwerer geworden, ein normales Besucher_innenvisum beziehungsweise auch ein Visum für Studium oder Arbeit zu erhalten.
Humanitarismus und Containment — Anordnungen der humanitären Bühne
Mit Blick auf Europa gerieten sowohl die Realitäten der hochgerüsteten Grenze wie auch der Zusammenhang zwischen Humanitarismus und Containment-Politiken im Sinne einer Eindämmung bzw. Eingrenzung der Krise deutlicher in meine Wahrnehmung. Dass europäische Politiker_innen für eine „regionale Lösung“ und „heimatnahe Unterbringung“ plädieren ist nichts Neues. Auch die Höhe der humanitären Gelder, die in die Region fließen, im Verhältnis zur Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge und der Todesfälle an Europas Außengrenzen lassen leicht einen Zusammenhang zwischen Humanitarismus und Containment herstellen.
Was bedeutet aber dieser Zusammenhang für die Konzeption meiner Forschungsperspektive? Lager werden oft mit Containment in Verbindung gebracht, Michel Agier beschreibt eine Dualität von Kontrolle und Rettung, entlang derer das humanitäre Regieren in Flüchtlingslagern verläuft (Agier 2008). In diesem Sinne sind die Lager im Libanon aber atypisch. Sie entstehen als relativ wilde Ansammlungen, eine Lagerverwaltung gibt es nicht.
Der Libanon bietet Zuflucht, ohne dabei innerhalb des Landes durch Lager oder ähnliches die Anwesenheit der Flüchtlinge zu zonieren. Umfassende Kontrollmechanismen innerhalb des Landes und an der libanesisch-syrischen Grenze gibt es kaum; der Libanon hat viel eher eine Nicht-Politik gegenüber den syrischen Flüchtlingen. Containment bzw. Kontrolle und Eindämmung der Flüchtlingskrise werden stattdessen eher von der EU in Bezug auf den gesamten Libanon betrieben. Hierzu tragen die geographische Lage des Landes zwischen Mittelmeer, Syrien und Israel sowie die EU-Grenzpolitik bei.
Der Blick auf das Alltagsleben geflüchteter Syrer_innen in Beirut zeigte aber eine weitere Dimension des flüchtlingspolitischen Regimes im Libanon, welches auf weitgehende regionale Zonierungsprozesse und die Politik des regionalen Containments verweist (Hess 2012; Walters 2009). In diesem Sinne kontrollieren humanitäre Praktiken auch Transiträume, indem sie beispielsweise die Berücksichtigung bei humanitären Aufnahmeprogrammen oder Hilfsleistungen vor Ort entlang der Kriterien von ‚Vulnerabilität‘ ausrichten. Damit tragen die entsprechenden Institutionen und Organisationen zu Unterscheidungen zwischen ‚legaler‘ und ‚illegaler‘ Migration bei und strukturieren Flucht und Migrationswege (Ratfisch/Scheel 2010).
Widerständigkeit — an den Rändern des humanitären Regimes
In absoluten Zahlen steht der Libanon weltweit an dritter Stelle der Flüchtlingsaufnahmeländer und in relativen Zahlen eindeutig an erster Stelle. Die Gesellschaft ist stark NGOisiert, humanitäre Organisationen sind sehr präsent und beeinflussen das öffentliche Leben. Gleichzeitig ist ihr Wirken vielerorts unkoordiniert und damit auch inkohärent. Verschiedene Ansätze humanitären Engagements treffen aufeinander. Die Flüchtlinge selbst sind natürlich auch aktiv an der Ausrichtung der Politiken des Regimes beteiligt; sie eignen sich dessen Logiken an und entwickeln ihre eigenen Strategien in Bezug darauf. Innerhalb des humanitären Regimes finden somit Kämpfe um Macht, Einfluss und Deutungshoheit statt: Im Libanon durch das Zusammenkommen von Geldern aus den Golfstaaten und westlichen Geldern, von islamischen Charities und westlichen bzw. internationalen Organisationen, vielleicht noch mehr als anderswo.
Diese Aushandlungen zu erforschen bringt nicht nur wissenschaftlich interessante Erkenntnisse zu den Funktionsweisen humanitärer Macht und verschiedenen humanitären Konzeptionen, sondern sie sind auch bzgl. der Einschätzung der Effektivität und Konfliktualität innerhalb des humanitären Regimes von praktischer Bedeutung. Ausgewählte Fallstudien – etwa wie ursprünglich anvisiert in Lagern – können tiefer gehende Einblicke in das Zusammenspiel und die Aushandlungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Akteuren des humanitären Regimes liefern.
Auch wenn sich die Kriterien für eine Berücksichtigung unter den humanitären Maßstäben bisweilen stark unterscheiden, folgt humanitäres Handeln allgemein dem Imperativ, Leben zu retten und Leiden zu lindern, adressiert politische Forderungen nach mehr Rechten jedoch nicht. So verweist denn Michel Agier auch auf eine spezifische Praxislogik humanitären Regierens, die darin bestehen würde, dass sie ‚Politik‘ gerade ausklammert, sich apolitisch gibt und vielmehr durch die Produktion von ‚Ausnahmezuständen‘ regiert. Politische Forderungen der Flüchtlinge würden dem zuwider laufen und seien Momente, die das Lager in einen öffentlichen Raum verwandeln (2008: 318f.). Ähnlich stellt Fassin (2007b) in der humanitären Praxis einen Gegensatz zwischen denjenigen fest, die ihr Leben freiwillig opfern oder riskieren können, und denjenigen, die vermeintlich passiv auf Rettung warten.
Meine Alltagserfahrungen im Libanon warfen viel eher die Frage auf, ob politisch interessante und überraschende Momente nicht viel eher an den Rändern des Regimes zu beobachten sind, dort wo seine Rationalitäten und Technologien nicht mehr greifen oder in Frage gestellt werden.
Beispiele für solche Ränder sind etwa Versuche, das europäische Grenzregime zu überwinden. Sie stellen auch eine Ablehnung der humanitären Logik dar und sie widersetzen sich dem regionalen Containment. Meist sind es Menschen, die sich eben nicht damit zufrieden geben wollen, mit humanitärer Unterstützung zu überleben. Es sind Menschen, die überhaupt die Mittel haben, eine irreguläre Reise nach Europa zu finanzieren und damit eben nicht dem Opferbild des humanitären Diskurses entsprechen. Sie verdeutlichen mit ihren Praxen die Handlungsmacht von Migration und Flucht. Auch wenn sie durchaus Berührungspunkte mit dem humanitären Regime haben — so entziehen sie sich dennoch den Abhängigkeitsstrukturen einer humanitären Verwaltung im Erstzufluchtsland.
Ein anderes Beispiel sind die vielen Syrer_innen, die sich bewusst ohne den Rückgriff auf humanitäre Unterstützung im Libanon durchschlagen und sich oftmals sogar selbst humanitär engagieren.
Meine Feldforschungen sollen daher weiterhin Funktionsweisen und Aushandlungen innerhalb humanitärer Regime beleuchten — aber anstatt zwei Lager zu vergleichen, werde ich meine Recherchen mit einem Blick auf die Ränder des humanitären Regimes kontrastieren. Denn so wichtig die Interaktionen zwischen institutionalisierten und diskursprägenden Akteuren sind, so wichtig ist es, den Blick gleichzeitig dorthin zu richten, wo Dissenz und politische Alternativen sich stärker formieren.
Literatur
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