Unscheinbar kommt das 100-seitige Buch von Jörg Huwer daher, doch es zeigt sich ein ganzes Stück Geschichte darin — und das ohne wissenschaftlichen Jargon. Trotz Huwers Interesse für das historische Detail gelingt es ihm dabei, auf den größeren Vergesellschaftungszusammenhang aufmerksam zu machen. So versteckt sich hinter der Analyse von Ford als zentralem Arbeitgeber für die ‚Gastarbeiterinnen‘ und ‚Gastarbeiter‘ in und um Köln auch die Geschichte der Stadt Köln und ihre Verschränkung mit der Geschichte und den Praxen der Migration. Der Autor bedient sich eines breiten Spektrums an Quellen: migrationssoziologische Literatur aus den 1970er Jahren, Graue Literatur und bundesministerielle Daten. In den Fußnoten finden sich nicht nur spannende Buchtitel, sondern ebenso anschauliche wie eindringliche Zeitungsberichte aus den 1960er und 1970er Jahren, die Einblick in die Diskurse und Auseinandersetzungen der Zeit geben. Zudem hat Huwer Interviews mit ehemaligen Ford-Arbeitern und AktivistInnen geführt. Man ist erstaunt über die Heterogenität der Diskurse und die Zusammenführung des Autoren
Arbeit, Stadt und Migration
In einem ersten Kapitel analysiert Huwer die Situation der MigrantInnen aus der Türkei in Köln von den 1960er Jahren bis zu den frühen 1970er Jahren im Zusammenhang mit ihrer sozialen und betrieblichen Eingliederung. Ab Juli 1971 waren die ‚türkischen‘ MigrantInnen die größte MigrantInnengruppe in Köln. 41% aller MigrantInnen aus der Türkei in Köln arbeiteten in der Metallindustrie. Die Ford-Werke hatten einen derart großen Arbeitskräftebedarf, dass zwischen 1961 und 1973 11.000 ‚türkische‘ Arbeitskräfte dort beschäftigt waren, die somit die größte geschlossene ‚türkische‘ Industriearbeiterschaft außerhalb der Türkei darstellten. Der ‚Arbeitsethos‘ der Türken erfülle die Ansprüche der Wirtschaft: jung, kräftig, ungelernt, diszipliniert und duldsam – oder, wie es in der Korrespondenz des Westfälisch-Lippischen Landschaftsverbands mit der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung zum Türken lautet, der „wenn er richtig angefasst wird, durchaus einzufügen und brauchbar zu sein“, scheine (S. 23). Das Bild verdeckt, so Huwer, eine differenzierte historische Perspektive auf die Migration, denn Einwanderer selber berichten über die ersten Jahre ihres Aufenthalts nicht selten, dass es „entbehrungs- aber auch ereignisreiche Zeiten waren, in der sie nicht „Opfer, sondern aktiv handelnde Subjekte“ waren (S. 24). Die Ford-Werke waren schon 1961 mit 1.480 ArbeitsmigrantInnen (davon 1.000 ItalienerInnen) einer der größten Arbeitgeber für ausländische ArbeitnehmerInnen. Die Personalabteilung fasste Ende der 1960er die Situation folgendermaßen zusammen:
„90% der ungelernten und angelernten Arbeitskräfte sind im Grunde mit ihrer Tätigkeit, die sie ausüben, zufrieden und zeigen keine Mobilitätsabsichten. […] Nach einer gewissen Geläufigkeit stereotyper Arbeitstätigkeiten kann sich der Mitarbeiter sogar mit seinen Kollegen über seine Freizeitbeschäftigung (z.B. Fußball) während der Arbeitszeit unterhalten, ohne dass die Qualität der Arbeit darunter leidet.“ (S. 37).
Dieses Bild, so Huwer, sollte sich in den folgenden Jahren verändern. Unter dem Eindruck sozialkritischer Analysen, Berichte und Dokumentationen über die harten Arbeitsbedingungen, die nun breit in der Öffentlichkeit und Politik diskutiert wurden, ballte sich eine Verärgerung im Betrieb zusammen. Die Segmentierung und Spaltung am Arbeitsplatz zeigte sich auch in den sozialen Beziehungen während der Produktion in den Betriebshallen des Werks. Der Entstehung von Teilmärkten entsprach eine polarisierte Belegschaft. Je deutlicher wurde, dass es sich nicht mehr um eine vorübergehende Migration und Arbeit handelte, desto zentraler wurde auch das Gefühl von Ungleichbehandlung.
„Der Beschluss zu einem ,Kampf um Anerkennung‘, mit dem der Sozialphilosoph Axel Honneth eine mit großer Wahrscheinlichkeit eintretende Konsequenz aus dem Vorhandensein größerer benachteiligter und depravierter Gesellschaftsgruppen sieht, konnte aus dieser Situation heraus gefällt werden.“ (S. 50).
In der Fußnote 116 definiert der Autor sehr kurz nur das Konzept des Kampfs um Ankerkennung bei Honneth, der das Konzept in Anlehnung an E.P. Thompsons Begriff der „moralischen Ökonomie“ entwickeln soll, so Huwer. Zu viele und ungeklärte Widersprüche zwischen dem sozialliberalen „Anerkennungskonzept“ und der sozialhistorischen Analyse proletarischer Kultur werden dadurch allerdings übersehen. Thompson entwickelt mit der sozialen Metapher der „moralischen Ökonomie“ einen sozialhistorischen Analyserahmen, in dem das moralische Bewusstsein beziehungsweise das kollektive Wissen und sozio-kulturelle Erklärungsmuster als historische Dynamik und weniger als Reaktion auf Ungerechtigkeit erfasst werden. Die kurze Erwähnung verheißt einen tiefgreifenden Bezug zur „moralischen Ökonomie“, der sich als unausgeführtes Highlight entlarvt, das kurz aufflackert und leider doch unausgeführt bleibt. Offen bleibt, warum das Konzept die soziale Situation und den im folgenden Kapitel beschriebenen Wilden Arbeitskampf theoretisch zu erklären vermag.
„Gastarbeiter entdecken den wilden Streik“
Das Streikjahr 1973 hält Huwer in Anlehnung an die Migrationshistorikerin Karen Schönwälder als bedeutenden Wendepunkt für die Migrationspolitik und -geschichte fest. Nach dem Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 in München wurde die ‚Ausländerfrage‘ zum Thema der Inneren Sicherheit (vgl. S. 55). Neben dem Wilden Streik bei Ford ereigneten sich 1973 weitere Streiks, da die ArbeiterInnen mit den ausgehandelten Tarifabschlüssen seitens der IG Metall im Frühjahr nicht zufrieden waren. Die Streikbereitschaft war in den unteren betrieblichen Arbeitssegmenten konzentriert, wo in der Regel MigrantInnen beschäftigt waren. Der sogenannte ‚Ausländerstreik‘ trat in dieser Dynamik in Erscheinung und weckte in der Öffentlichkeit, bei der ‚alten‘ als auch der ‚Neuen Linken‘ politisches Interesse. Hierzu Huwer: „In den Augen der Presse stießen sie in die Lücke, welche die Gewerkschaften hinterließen, indem es diesen bis dahin nicht gelungen war, die ausländischen Arbeiter in das sozialpartnerschaftlich organisierte System der industriellen Beziehungen Westdeutschlands einzubinden“ (S. 58f.). Das Konzept der Neuen Linken, die Betriebe zu politisieren und den Hörsaal zu verlassen, trat im Zuge der ‚proletarischen Wende‘ der APO ein.
Als nach den Sommerferien im August türkeistämmige Arbeiter entlassen wurden, die verspätet die Arbeit aufgenommen hatten, obwohl sie sorgsam aus der Türkei mitgebrachte Atteste vorzeigen konnten, eskalierte die Situation im Betrieb. Unter den Entlassenen waren auch Arbeiter, die an zentralen Stellen der Produktion eingesetzt wurden. Deren Fehlen löste eine weitere Stresssituation und Arbeitsbelastung aus. Derweil weiteten sich die Wilden Streiks auch in anderen Betrieben des Landes aus. Auch für Ford waren im Voraus Aktionen für die Zeit nach den Werksferien geplant gewesen, in deren Rahmen die Erhöhung des Stundenlohns um 60 Pfennig mehr gefordert werden sollte. Huwer geht gekonnt einer lebendigen historischen Darstellung nach, die detailliert über den Streikablauf, die außerbetriebliche Organisierung in den Cafes in der Stadt und die unterschiedlichen Akteure und Perspektiven berichtet. Die Zeitungen etwa sorgten für umherschweifende Informationen über die zunehmende Beteiligung der Gastarbeiter an den Wilden Streiks 1973 in Deutschland und für eine diskursive Verbindung lokaler Streikaktionen mit der Konjunktur der Streiks in (West-)Deutschland. Nicht nur die Forderungen aus anderen Betriebskämpfen kursierten, sondern auch die lebhaften Formen, mit denen die Streiks durchgeführt wurden. Die Nachrichten von den Kämpfen veränderten das Alltagswissen der GastarbeiterInnen.
Am ersten Tag des Streiks bei Ford standen die Rücknahmen der Kündigungen, Lohnerhöhungen und die Verringerung des Arbeitstempos im Vordergrund. 2.500 deutsche und türkische Arbeiter demonstrierten hierfür vor dem Werkstor. Am Wochenende wurde der weitere Verlauf organisiert und Flugblätter verfasst. Aus den Dokumenten der Vertrauenskörperleitung listet Huwer die Regeln auf, die während des Streiks berücksichtigt werden sollten: 1. Kein Alkohol während des Streiks, 2. Gewalt nur gehen Provokateure, nicht gegen Arbeitswillige, 3. Keine Beschädigung von Maschinen. Das erste Abendessen nach der Betriebsbesetzung, von Spesen der Roten Hilfe organisiert, war zwar international, aber die türkischen Arbeiter dominierten. In den türkischen Reihen konnte man religiöse Hodschas wie auch Kommunisten, Türken und Kurden sehen. Bekannte politische und ideologische Grabenkämpfe wurden bewusst vermieden. Stattdessen zählte der soziale Kontaktaufbau und Geselligkeit.
„Türkische Geschichtenerzähler unterhielten die Streikenden mit Witzen über den Streik, Lehrstücken und Volksmärchen. So gestaltete sich der Streik-,Alltag‘ deutlich unterschiedlich von dem eines von der IG Metall geführten Arbeitskampfes, bei dem zwar eine emotionalisierte Sprache zur Motivation der Arbeitnehmer eingesetzt wurde, meistens jedoch nur zum Zwecke der Demonstration von Kampfbereitschaft“ (S. 81).
Es entstand ein „Gemeinschaftsgefühl“, das nach Huwer auch mit den feudalen Formen von sozialer Gemeinschaftsbildung zusammenhing, kamen doch viele der Arbeiter aus sozialen Verhältnissen, die – ob nun aus der Stadt oder dem Land –mit dörflichen Strukturen zusammenhingen. Auf der anderen Seite vollzog sich mehr und mehr ein Distanzierungsprozess der ‚deutschen‘ Arbeiter vom Streik. Einerseits verschärfte die über die Teuerungszulage hinausgehende Forderung, die Entlassungen zurückzunehmen, dann die türkischnationale Symbolik und zuletzt die Abwertung des Streiks durch die Betriebsgruppen die Distanzierung. Neben der Dissonanz zum „migrantischen Streik“ vermischte sich, so Huwer, auch eine Abwendung zum Streik, da er mehr und mehr als Streik der „studierten Chaoten“ wahrgenommen wurde. Gemeint sind linke ehemalige Studierende, die als Betriebsaktivitsinnen in den 1960er Jahren die Hörsäle mit den Fließbändern ausgetauscht haben. Die Arbeiter artikulierten schnell, dass man sie nicht als Interessensvertretung anerkennen wollte (S. 83).
Als der türkische Konsul das Werk am Dienstag besuchte, radikalisierte sich der Streik nochmal. Auf die Zugeständnisse der Gewerkschaftsleitung, einer Pauschalzahlung von 280 DM und die Bezahlung der Streiktage, reagierten die Streikenden mit der Fortsetzung ihres Arbeitskampfs. Am Donnerstagmorgen traf der morgendliche Demozug auf eine Gegendemonstration von mehrheitlich deutschen Arbeitern und Angestellten. An der Stelle eskaliert der Streik, Schlägereien beginnen, die Polizei schreitet ein und beendet den Streik. Für Huwer steht die politische Analyse in der gewaltvollen Beendigung des Streiks fest: „In der Zerschlagung des Streiks entlud sich die Wut der deutschen Arbeiter über die Tatsache, dass die türkischen Migranten für kurze Zeit die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz übernehmen konnten“ (S. 87). Die türkische Tagespresse war empört über das Vorgehen der Polizei und der Sekretär der türkischen Botschaft verteidigte sogar den wilden Streik der migrantischen Arbeiter gegen die Etikettierung als linksradikale Politik.
‚Türkenterror‘ zwischen Antirassismus und Klassenkampf
In einem letzten Teil fragt Huwer nach der kollektiven Erinnerung an den Streik. Die ‚Türkisierung‘, ‚Muslimisierung‘ und zeitgleich ‚Terrorisierung‘ der Arbeiter bei Ford dominierte schnell in der Boulevardpresse, wie man unschwer am Aufmacher „Türkenterror in Köln“ in der Abendpost erkennen kann. Las man die Auseinandersetzungen symptomatisch offenbarte sich darin ein Begehren zu verstehen, weshalb es zu diesem radikalen Aufstand kam. Möglicherweise stand der Streik exemplarisch für die Spannungsverhältnisse in Deutschland und die Realität der ‚Gastarbeit‘. Die Türken seien radikaler in ihrer Kampfbereitschaft und anfälliger für ‚Agitatoren‘ von außen, hieß es im Abendblatt (S. 91). Es läge an der fehlgeleiteten Integration und der Ghettoisierung beziehungsweise Isolation der Gastarbeiter, die wiederum unter sich (besonders unter den Türken) ein spiegelbildlich gesprochen umso stärkeres Gemeinschaftsgefühl etablierten, das von Linken gezielt angesprochen, schnell ein Strohfeuer legen könne, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Für Huwer veränderte sich in dieser Zeit das kollektive Bild des ‚Türken‘ in der Öffentlichkeit. Aus dem passiven, gehorsamen und stummen Gastarbeiter wurde der ‚Türkenterrorist‘, der, wenn er denn zu laut wurde, der Impulsivität und Unzugänglichkeit beschuldigt wurde. Die Widerborstigkeit wiederum ist in letzter Instanz jedoch auch nicht die eigene, sondern diejenige der radikalen linken Gruppen, denen die Türken aus Naivität zum Opfer fielen. Die BILD registrierte eine weitere Veränderung: Die sind keine Gäste mehr, hieß es nach Ford. Als Gast benimmt man sich freundlich, ansonsten gehört man vor die Tür gesetzt (S. 92). Huwer setzt der Ethnisierung und Stereotypisierung in der Boulevardpresse die Stereotypisierung der radikalen Linken gegenüber:
„Auch von der Protestbewegung wurden die türkischen Migranten stereotypisiert, indem sie das Schema eines neues Typus des industriellen Arbeiters, des „Massenarbeiters“ oder — in etwas klassischerer Terminologie — in das eines sich seiner Klasse bewusst werdenden Mitglied des Subproletariats, eingepasst wurden. Dabei wurde den ausländischen Arbeitern nicht die Rolle einer Avantgarde zugesprochen, vielmehr seien sie Bestandteil der gesamten Streikbewegung von 1973, die von einigen als Zeichen für das Aufkommen einer ,anderen Arbeiterbewegung‘ jenseits gewerkschaftlicher Disziplinierung gesehen wurde“ (S. 94).
Die Integration in die industriellen Arbeitskämpfe der aus dem ländlichen Gebiet der Türkei stammenden halb-feudalen Arbeiter wurde innerhalb der Linken dementsprechend als ein Lernprozess innerhalb der kapitalistischen Auseinandersetzungen gewertet.
Für die Geschichte der Migration und ihre Rekonstruktion aus der Perspektive der Migration spielt der Streik neben weiteren sozialen Kämpfen von Migrantinnen und Migranten eine nach wie vor zentrale Rolle. Mit den Auseinandersetzungen um die Frage, wessen Geschichte wie geschrieben wird, ringt eine ganze Generation um politisches Selbstbewusstsein und Versöhnung mit der kollektiven, widersprüchlichen und inter-generationellen Erfahrung der (Post)Gastarbeiterzeit. Die Frage, bis wann Teile der Arbeiterschaft sich international wussten und in welchem historischen Ereignis Rassismus die Internationalität warum begrenzen kann, erfährt hier eine exemplarische Analyse, die auch heute noch zentraler Bestandteil von Analysen zu Solidarität ist.
Die gegenwärtigen sozialen Kämpfe in der Stadt, die sich auch immer gegen Rassismus als sozialem Verhältnis richten, etwa bei Kotti&Co, beim Bündnis gegen Zwangsräumung wie auch im Kampf der Flüchtlinge zeigen nicht nur die aktuelle Dynamik von Ausbeutung und Rassismus. Sie zeigen auch, dass es sich lohnt auf das politische Erbe der ersten Generation zurückzublicken. Mal mehr und mal weniger bewusst bauen wir auf den Konflikten und mit dem politische Erbe heute auf vielen Pfaden weiter.
Jörg Huwer (2013): Gastarbeiter im Streik. Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973. edition DOMiD, Köln. ISBN: 978-3-9816133-0-8. 114 Seiten. 12,00 Euro.
Erstpublikation: kritisch-lesen.de