Widerstand im Warten

Migration und Inhaftierung in der Republik Zypern

Nina Violetta Schwarz

Abstract From an ethnographic perspective the article highlights the situation of detained migrants in the Republic of Cyprus, who are subjected to a status of waiting due to their imprisonment. Therefore the paper focuses on the one hand on the overall situation of waiting, on the other hand on migrant’s tactics to deal with the uncertain, as they can often not receive any information on their administrative status. Whether or not they will be released, obtain a residence permit, or even will be deported is frequently obscured. The article explores migrant’s reactions to those conditions as well as individual or collective resistance and tries to open a perspective on autonomous political movements.


Keywords europäisches Grenzregime, Gefängnis, Haft, migrantische Kämpfe, Republik Zypern, Transitmigration, Ungewissheit, Warten


Seit knapp einem Monat befindet Manu1 sich in Einzelhaft in einer zyprischen Polizeistation im Süden der Insel. Seine Zelle ist vier Quadratmeter groß mit integrierter Toilette. Sie wird bei meinem Besuch schnell verschlossen und wir werden beide, er von drinnen und ich von draußen, von den Beamt_innen in ein videoüberwachtes Büro geführt. Die Gründe für seine Inhaftierung: keine gültigen Papiere, vorheriger Aufenthalt in einem anderen EU-Staat. Zur Dauer, seiner Perspektive und den juristischen Möglichkeiten der Verteidigung: keine Auskunft. „Sie sagen: Warte. Es wird jemand kommen. Aber es kommt niemand.“ Den Blick auf den gebohnerten Boden zwischen seinen Füßen gerichtet, sagt Manu mit fester Stimme: „Ich will nicht mehr warten! Niemand darf so lange im Ungewissen gehalten werden.“ Er blickt kopfschüttelnd auf: „Aber sie werden mich weiter ignorieren. Sie wollen uns einfach fertig machen, selbst wenn ich jetzt zurückgehe, bin ich doch fertig. Ich bin kaputt! – Und weißt du, wovor ich wirklich Angst habe? – Dass ich einfach hier bleibe.“ 2

Zahlreiche Gespräche und Begegnungen, wie jene mit Manu, machen deutlich, dass Warten die prägende Lebensrealität für alle Asylsuchenden, nicht nur in der Republik Zypern3, darstellt. Es wird bei der Ausländerbehörde darauf gewartet, einen Asylantrag stellen zu können. Es wird auf die Antwort des Asylantrages gewartet; es wird auf finanzielle Unterstützung während der Asylantragstellung gewartet und auf Leistungen für Unterbringung und Bildung wird gewartet. Es wird auf die mögliche Abschiebehaft gewartet und es wird in Haft auf die Abschiebung, die Freilassung, auf das Ungewisse gewartet. Warten stellt das verbindende Element zwischen den verschiedenen Lebenssituationen von Asylsuchenden dar und bildet die konkurrenzlose Beständigkeit in ihrem Leben. An wohl keinem Ort spitzt sich das Warten der Asylsuchenden so sehr zu wie in Hafteinrichtungen, in denen voller Ungewissheit gewartet wird.

Während meines Rechercheaufenthaltes im September 2012 zur Situation von Asylsuchenden in der Republik Zypern, zeigte sich einmal mehr, welche Relevanz die Inhaftierung für die Asylsuchenden, die Republik Zypern und damit auch für die EU hat: In Zypern sind inhaftierte Migrant_innen wie Manu einem unzureichenden und oft rechtswidrigen Asylsystem ausgesetzt (vgl. KuB e.V. 2013: 5). Ihre Lebenssituation auf der Insel ist zumeist desillusionierend und perspektivlos: „Hunderte von Migrant_innen ohne regulären Aufenthaltsstatus, darunter auch abgelehnte Asylsuchende, werden nur aufgrund ihres Aufenthaltsstatus über lange Zeiträume hinweg unter schlechten Bedingungen in Haft gehalten“ (Amnesty International 2012). Es ist vielmehr die Regel als die Ausnahme, dass abgelehnte Asylsuchende routinemäßig festgenommen werden, um auf ihre Abschiebung zu warten, auch wenn diese erst Jahre später vollzogen wird.4

Bezogen auf die EU-politische Relevanz bestätigte sich in meiner Forschung einmal mehr die Formel kritischer Migrationsforscher_innen: Eine völlige Abschottung Europas ist weder durchsetzbar noch das Ziel der EU (vgl. Heimeshoff et.al 2014; Hess/Kasparek 2010; TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe 2007). Auch die in diesem Artikel relevanten Abschiebezentren dienen nicht der absoluten Ausgrenzung.5 Die hegemoniale Logik der europäischen Sicherheit benötigt Abgrenzung und Differenzierung, um den Schutz vor einer Bedrohung legitimieren zu können (Lorey 2011: 72). Es handelt sich bei Inhaftierungsanstalten für Migrant_innen um eine Form der Regulierung von Mobilität, um die Entschleunigung migrantischer Bewegungen, die der Selektion6 von Migrant_innen dient (Panagiotidis/Tsianos 2007: 84). Dieses Management der Migration verwaltet Wege, Routen und Übergänge und zielt auf die Produktivität von Mobilität.

Eckpunkte der Forschung

In der dem Beitrag zugrunde liegenden Ethnographie war und ist es vor diesem Hintergrund mein Forschungsinteresse, die Situation von inhaftierten Migrant_innen in der Republik Zypern zu beleuchten, die als untergeordnete Subjekte zum Warten gezwungen werden. Im Fokus stehen die Situation des Wartens in Hafteinrichtungen und der Umgang mit dieser unsicheren Lebensphase, in der es häufig keine Anhaltspunkte für eine mögliche Entlassung, des Erhalts eines Aufenthaltstitels oder einer Abschiebung gibt. Wie gehen inhaftierte Personen in der Republik Zypern mit der Situation des Wartens um? Was bedeutet die Lebensrealität ‚Warten‘ während einer ungewissen Inhaftierung? Der Fokus dieser Ethnographie des Wartens liegt folglich nicht auf dem Inhaftiert werden oder dem Verlassen der Hafteinrichtung, sondern auf dem Raum und der Zeit dazwischen: Es geht mir um das Inhaftiert sein und das Warten in Haft. Die aus den gegebenen Bedingungen resultierenden individuellen Handlungen inhaftierter Migrant_innen bilden den Kern der Forschung. Sie öffnen den Blick für widerständige Praktiken sowie für autonome politische Projekte migrantischer Bewegungen: Konkret interessiert mich, welche Taktiken Personen in Haft entwerfen und nutzen, um ihre Situation unter den gegebenen Bedingungen zu verbessern. Diese Fragen erfordern eine migrationspolitische Kontextualisierung und so schließt sich die Frage an: Welche Rolle spielt dieses Warten lassen inhaftierter Migrant_innen für die Republik Zypern und die europäische Migrationspolitik?

Dokumentationsreise Zypern

Um diese Aspekte herauszuarbeiten habe ich die ethnographische Erhebung im universitären Rahmen mit einer aktivistisch motivierten Dokumentation verknüpft. Die Organisation und Durchführung einer Dokumentationsreise zur Situation von Asylbewerber_innen im griechischen Zypern durch die Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V. in Berlin Kreuzberg (KuB) im Jahr 2012 bildete die Grundlage für diese Ethnographie. Ziel der Dokumentationsreise war die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Basis zur Bewertung von Asylverfahren in der Republik Zypern im Rahmen der europäischen Verantwortung für den Flüchtlingsschutz. Das Regelwerk der Dublin-II-Verordnung sollte kritisch beleuchtet werden, beruht es doch auf der Annahme der Gleichheit aller europäischen Asylsysteme. Das Ergebnis der Reise ist eine schriftliche Dokumentation in Form einer Broschüre, die einen wissenschaftlich fundierten Bericht beinhaltet, der als Argumentationsgrundlage gegen Dublin-II-Überstellungen von Asylsuchenden in die Republik Zypern von RichterInnen und AnwältInnen bereits erfolgreich genutzt wurde.7

Theoretische Schlaglichter

Haftzentren sind Orte der Entschleunigung und Regulierung von Migration (vgl. Cuttitta 2010; Walters 2011; Panagiotidis/Tsianos 2007; TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe 2007; Virilio 1980). Das Warten in Haft ist dessen Zuspitzung. Das Warten und die daraus resultierenden Handlungen im Kontext von asymmetrischen Machtverhältnissen werden in der kritischen Migrationsforschung häufig nur am Rande behandelt.8 Ich möchte gerade solche Ansätze zum Warten in Haft herausstellen und mit Erkenntnissen des Soziologen Javier Auyero (2011) zu Zeitlichkeit und Macht verbinden. Auyero schildert das Warten als komplexen Prozess sich reproduzierender Machtverhältnisse am Beispiel des Main Welfare Office in Buenos Aires: „Waiting is one of the ways of experiencing the effects of power. Making people wait… delaying without destroying hope… adjourning without totally disappointing are, according to Bourdieu (1977: 28), integral parts of the working of domination.” (Auyero 2011: 5)

Ich beziehe mich vor diesem Hintergrund auf die Begriffe Taktik und Strategie in Anlehnung an Michel de Certeau (1988). Diese Begriffe ermöglichen einen analytischen Blick auf das Nutzbarmachen und das aktive Umwandeln von vorgegebenen Strukturen und Räumen. So kann der Fokus auf inhaftierte migrantische Subjekte im Kräftefeld europäischer Migrationspolitik zugespitzt und der Blick auf wechselseitige Machtverhältnisse und ihre Verschiebungen erweitert werden.

Strategie, so de Certeau, ist als eine Berechnung von Kräfteverhältnissen zu verstehen und geht mit dem Ziel eines gewissen Nutzens einher. Strategisch Handeln kann nur ein mit Macht ausgestattetes Subjekt, wie zum Beispiel Eigentümer_innen, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution. Taktik ist demgegenüber ein Handeln aus Berechnung, bestimmt durch die Abwesenheit des Eigenen (Raumes). Die Taktik hat nur den Ort des Anderen und formt daraus ihre taktische Handlung. „Sie ist eine Bewegung innerhalb des Sichtfeldes des Feindes“, die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt (von Bülow, zitiert nach de Certeau 1988: 89). Weil die kalkulierende Taktik kein grundlegend eigenes Feld hat, trennt sie im Umkehrschluss auch keine klare Grenze, keine sichtbare Totalität von dem Anderen.9

Von Oroklini bis Lakatameia: drei Hafteinrichtungen in der Republik Zypern

Das Warten in Haft findet in der Republik Zypern an unzähligen und sehr verschiedenen Orten statt. 10 Dies spiegelt sich auch in den von mir besuchten Hafteinrichtungen wieder, die unterschiedlicher nicht sein können: Die Isolationshaft in Oroklini ist an eine kleine Polizeistation der Stadt Larnaca angegliedert. Ursprünglich wurden solche Orte für die kurzzeitige Unterbringung von Gefangenen konzipiert. Die Hafteinrichtung von Oroklini wird, wie auch diverse andere Einzelunterbringungen im Land, als Abschiebegewahrsam genutzt, in welchem die Betroffenen Wochen oder Monate lang inhaftiert werden, bis sich eine Möglichkeit der Abschiebung ergibt (Amnesty International 2012: 22). Wenn ihre zeitnahe Abschiebung nicht möglich ist, werden Inhaftierte häufig nicht wie vorgeschrieben in den Abschiebegewahrsam verlegt, sondern verbleiben auf unbestimmte Zeit in den lokalen Polizeistationen, in diesem Fall in Oroklini. Es handelt sich dort um eine zwei Quadratmeter große Zelle mit integrierter Toilette.

Ein großer Unterschied zwischen den Orten der Inhaftierung zeigt sich zwischen der Isolationshaft in Oroklini und dem Zusammenleben mehrerer Gefangener in Block 9 und 10 des Nicosia Central Prison oder in der Polizeistation in Lakatameia. Zudem sind die Handhabungen in der konkreten Haftsituation, z.B. der Möglichkeit des Hofganges an jedem der einzelnen Standorte, unterschiedlich geregelt. Die größte Abschiebehafteinrichtung ist an das Zentralgefängnis der Hauptstadt Nicosia angeschlossen. Sie unterteilt sich in den Block 9 für Frauen und den Block 10 für Männer. Während der Recherche 2012 wurden dort ca. 80 Personen in Abschiebehaft festgehalten.11

Die Inhaftierten haben jedoch nicht in jeder größeren Hafteinrichtung Zugang zu einem Ort an der frischen Luft. In der Polizeistation in Lakatameia gibt es keine Möglichkeit ans Tageslicht zu gelangen. Das moderne Gefängnisgebäude wurde komplett ohne Fenster gebaut und ist nur durch Neonröhren beleuchtet. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist laut Berichten der Inhaftierten einseitig und verzichtet vollkommen auf frisches Obst und Gemüse. Gegenwärtig leben ca. 60 Männer in der Einrichtung.12

Die Konditionen der Haft liegen weit unter der europäischen Norm. Isolationshaft, physische und psychische Gewalt sind in den Polizeistationen keine Einzelfälle. Auch die Dauer der Haft steht aus europarechtlicher Perspektive vor allem bei abgelehnten Asylbewerber_innen in keinem Verhältnis zur Begründung ihrer Inhaftierung.

Methodische Verortungen: Zu Netzwerken und verdeckter Forschung

Die ethnografisch-aktivistische Arbeit an diesen Orten orientierte sich an den jeweiligen Bedingungen, unter denen die Asylsuchenden warten müssen. Auf den ersten Blick scheint der Zugang zu spezifischen, machtbesetzten Räumen der Hafteinrichtungen problematisch, deren Zweck nun darin besteht, inhaftierte Personen wegzusperren und zugleich Dritten den Zutritt zu verwehren. In diesem Kontext war die grundlegende Annahme von Ansätzen kollaborativen Forschens bedeutsam, dass die Art des Zugangs zum Feld die Bedingungen der Forschung (mit-)konstituiert (vgl. Ott 2012).

Eine wichtige Rolle spielte die praktische Beratungsarbeit innerhalb des KuB e.V. in Berlin Kreuzberg. Erst über diesen Pool von Kontaktpersonen und die politische Positionierung des Vereins war eine vielfältige Netzwerkarbeit zwischen den Akteur_innen in Haft, Berater_innen in Deutschland und Zypern sowie anderen engagierten Personen möglich. Das methodische Vorgehen dieser Ethnographie kann daher insofern als kollaborative Forschungspraxis bezeichnet werden, als durch die mehrmonatigen Vorbereitungen und die Arbeit in den verschiedenen migrantischen Communities und Netzwerken in Berlin sowie in der Republik Zypern die Möglichkeiten geschaffen wurden, aufgrund persönlicher Kontakte in Hafteinrichtungen zu gelangen und gezielt einzelne Personen zu besuchen. Diesen Inhaftierten war das Anliegen des Forschungsteams bekannt und weil sich unser Kommen herum sprach, gab es viel mehr Anfragen zu Gesprächen, als wir aufgrund unserer begrenzten Kapazitäten berücksichtigen konnten. Den Beamt_innen in den jeweiligen Hafteinrichtungen traten wir im Team in den meisten Fällen als Privatpersonen gegenüber, die Inhaftierte besuchen wollten. Ein offenes Auftreten als Forschungsteam, das die Haftbedingungen vor Ort dokumentieren wollte, hätte das Risiko der Abweisung, der Änderung der Haftzustände oder des Wegsperrens von einzelnen Personen mit sich gebracht. Zudem bestanden Bedenken, dass inhaftierte Gesprächspartner_innen nach unserer Abreise wegen der Kontaktaufnahme zu uns sanktioniert werden könnten.13 Der Zugang zu den Hafteinrichtungen basierte folglich v.a. auf dem durch die vorbereitende Netzwerkarbeit geschaffenen Vertrauen, dass wir jegliche Geheimnisse nicht ausplaudern würden. Im Anschluss an Vassilis Tsianos und Serhat Karakayali (2008) bezeichne ich meine Untersuchungsform als Forschungsaktivismus, der sich aus der Synthese politischer und theoretischer Fragestellungen konstituiert und damit ein Bekenntnis zur Einsicht sein muss, dass Forschung niemals objektiv sein kann, „sondern immer Partei ergreift; (…) sie ist Teil eines Dispositivs, in dem Subjektpositionen generiert werden“ (ebd.: 337).

Warten lassen als Strategie

Die Kontrolle der Migration durch die Inhaftierung von Personen in der Republik Zypern und das Unterbrechen ihrer Mobilität durch das Wartenlassen in Haft ist Teil eines flexiblen Grenzregimes, das an seinen durchlässigen Grenzen jene Zirkulation zu regulieren versucht. Die Grenzen sind zum einen durchlässig in Bezug auf die Selektion von nützlichen und unnützen Migrant_innen, von richtigen und falschen Geflüchteten, durch das europäische Grenzregime, und zum anderen in Bezug auf das taktische Unterlaufen von Grenzen und das Nutzen von Lücken in den Gesetzmäßigkeiten durch die Migrant_innen selbst. Bei Foucault ist Zeitlichkeit in der gesellschaftlichen Praxis in erster Linie an Machtbeziehungen gekoppelt. Für ihn ist die Kontrolle des Körpers Grundlage jeglicher disziplinierender Macht und dies „kann nur durch die aktive Kontrolle von Raum und Zeit, einer speziellen räumlichen und zeitlichen Ordnung generiert werden“ (Foucault 1994 [1975]: 194). Zeitlichkeit, schließt sich Auyero (2011) an, ist manipulierbar und kann, mit Macht ausgestattet, verdeckt und offen produktiv gemacht werden. Zeit ist ein Element der Machtverhältnisse und damit Teil eines reziproken Verhältnisses von Dominanz (vgl. 2011: 7). Das folgende Zitat spricht für viele Inhaftierte und eröffnet den Blick auf eine solche Dominanz sowie auf die asymmetrische Beziehung zwischen migrantischen Subjekten und den staatlichen Autoritäten: „They keep people for a long period of time in a very bad and harsh situation. No TV, no radio and nothing for passing the time. This is so cruel and grim. Even you can’t keep animals in cages without reason - but we are here and we don’t know why.” (Brief Lakatameia: 2012_10_12_Lakatameia_2)

Das Wartenlassen der inhaftierten Personen durch die zyprischen Autoritäten ist meines Erachtens ein politischer Versuch, die Mobilität Einzelner zu unterbrechen und damit die Bewegungen der Migration zu regulieren. Es trägt, unter anderem durch die Aneignung migrantischen Wissens und persönlicher Daten Inhaftierter konstitutiv zum Ausbau des flexiblen europäischen Grenzregimes bei. Die Praxen staatlicher Akteur_innen zielen dabei auf die biolegitimatorische Regulierung14 des mobilen Subjekts und damit auf die ‚Sicherung’ des Staates vor dem Anderen. Das, wie Auyero es nennt, „poor people´s waiting“ (2011: 7) ist ein willkürlicher und verunsichernder Prozess, bei dem Warten in Unterwerfung münden kann, wobei die Unsicherheit ein zentrales Moment bildet.

Warten mit Taktiken – Widerstand im Warten

Vorherrschendes Gefühl und damit eine große Belastung für die Inhaftierten stellt die angesprochene Ungewissheit über die eigene Haftdauer und die mögliche Abschiebung dar. Viele der Inhaftierten wissen nicht, ob und wann sie entlassen oder abgeschoben werden. In den Polizeistationen gibt es keine Ansprechpartner_innen und eine absolut willkürliche Informationspolitik. Der Großteil der inhaftierten, (abgelehnten) Asylbewerber_innen hat keinerlei Möglichkeit, das verbriefte Recht einer juristischen Vertretung in Anspruch zu nehmen. Ungewissheit und Willkür prägen den Alltag in Abschiebehaft. Sie bewirken eine ständige mentale Belastung und schließlich Entkräftung der inhaftierten Personen.

Die Migrant_innen unterliegen dieser Macht zu großen Teilen, doch sie mobilisieren auch immer wieder widerständische Kräfte. Es sind die verschiedensten Formen der Ablehnung der Haftbedingungen und des sozialen Umgangs durch das Haftpersonal sowie die implizierte Weigerung „auf diese Weise regiert zu werden” (Foucault 1992: 12), die ich als Widerstandspraxen verstehe. Diese reichen von einer kalkulierten Unterwerfung über eine Anpassung an gegebene Strukturen bis hin zu konkreten Anklagen erfahrener Missstände durch die Kontaktaufnahme zu Organisationen, Gruppen und Anwält_innen wie auch durch radikale kollektive wie individuelle Protestaktionen.

Zugrunde liegt ein Widerstandsbegriff, der sich neben der klassischen Form des Protests auf jegliche Form der Ab- bzw. Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Machtverhältnisse bezieht (Hechler/Philipps 2008) – unabhängig davon, ob die widerständige Handlung einer individuellen Verbesserung der eigenen Situation, einem kollektiven Anspruch des Anprangerns von Missständen oder beidem zugrunde liegt (vgl. ebd. 8). Widerstand ist dabei immer eine taktische Handlung, wobei eine Taktik nicht zwingend widerständig sein muss. Mit der Verwendung dieses Widerstandsbegriffs geht es mir weniger um den Anspruch, die kleinen, alltäglichen Ablehnungen als widerständig zu glorifizieren, als vielmehr darum, neben Widerständen in Form konkreter Konfrontationen auch die Ausweichmanöver der zum Warten gezwungenen Menschen sichtbar zu machen und dabei die Nicht-Anerkennung ihrer Behandlung zu markieren.

Netzwerke bilden und Kontakte nutzen

Besonders deutlich wird der taktische und teilweise auch strategische Charakter des Verhaltens meiner Gesprächspartner_innen im Prozess der Kontaktaufnahme zu mir und uns als Forschungsteam. Die Kontaktaufnahme geschah von uns ausgehend oder wir wurden angesprochen. Die Forderungen nach Besuchen in Hafteinrichtungen und das Bemühen, die Kontakte über Telefonate oder SMS zu halten, waren vom Wunsch der inhaftierten Personen geleitet, die eigene Situation zu verbessern. Die Anrufe diktierten uns, zu welcher Person wir wann, in welche Hafteinrichtung kommen sollten. Teilweise geschah dies über die Communities bereits in Deutschland, sodass die Anrufe uns den Zeitplan vor Ort in Zypern vorgaben. Die kritische Erweiterung de Certeaus Ansatzes zu Strategie und Taktik durch Sue Ruddick (1991) kann die Annahme erlauben, dass dieses Verhalten insofern als strategisch verstanden werden kann, als dass die Kontakte zu uns hergestellt wurden, bevor wir als Team in die Haftzentren kamen. Die Handlungen vollzogen sich aus dieser Perspektive ohne das Wissen der jeweiligen Autoritäten, weshalb die inhaftierten Personen bewusst widerständig agierten. In jedem Fall aber schrieben sich die inhaftierten Migrant_innen in unser Forschungsprogramm somit autonom ein und veränderten dies durch ihre Anrufe und Forderungen.

Auch wenn der Zugang zu Kommunikationsmedien begrenzt oder, wie im Fall des Internets, verboten war, spielten Mobiltelefone eine existenzielle Rolle. Deutlich wird hier, dass die Möglichkeit, sich über Mobiltelefone mitzuteilen und Unterstützung oder Solidarität zu mobilisieren, trotz der Reglementierung taktisch und strategisch vollzogen und genutzt wird. Auch eine gemeinsame Über-Nacht-Aktion des Verfassens von Briefen mit dem Ziel, über das Forschungsteam eine europäische Öffentlichkeit zu erreichen und diese über die eigene Situation zu informieren, ist eine aktive Form der Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse. So kam es in der auf meinen Besuch in der Hafteinrichtung in Lakatameia folgenden Nacht zu einer spontanen Aktion der Inhaftierten: Sie entschieden sich, ihre persönliche Geschichte und ihre Erfahrungen mit dem zyprischen Asylsystem niederzuschreiben. Diese Entscheidung basierte maßgeblich darauf, dass ein persönliches Treffen mit allen dort inhaftierten Personen durch die Besuchsregelung von 15 Minuten pro Tag unmöglich war. Die Inhaftierten agierten also bewusst innerhalb der herrschenden Ordnung und unterliefen sie dadurch gleichzeitig. Die Kommunikation war charakterisiert durch das offene Anprangern von Missständen, der damit einhergehenden Bezugnahme auf einen Menschenrechtsdiskurs und der deutlichen Aufforderung an das Forschungsteam, eine Position der Vermittlung einzunehmen und die Informationen außerhalb Zyperns weiterzutragen: “I beg you to send our voices and stories to authorities and societies and inform them whats happening here” (Brief Lakatameia: 2012_10_12_Lakatameia_2). Auch dem folgenden Ausschnitt, in dem die Vertreibung aus Syrien thematisiert wird, geht die Bitte um Verbreitung voraus: “If the Cyprus government cannot extend sympathy and solidarity to the Syrians during war, when will they do such a humanitarian gesture?” (Brief Lakatameia: 2012_10_13_Lakatameia_9).

Diese Kontaktaufnahme aus geschlossenen Räumen heraus ist eine taktische Form der offensichtlichen, aktiven Suche nach einer Lebensverbesserung. Diese Taktik profitiert von Gelegenheiten, von den Lücken im System. Gelegenheiten für die Inhaftierten sind in diesem Zusammenhang Besuche von Menschenrechtsorganisationen und Unterstützer_innengruppen.: “I don´t expect you to help me too much. Just I wrote this lines to inform you about what is happening in this small Island. This is not just my fable. Hundreds of Milad´s were and are living in cold cells in Cyprus without committing any offences” (Brief Lakatameia: 2012_10_12_Lakatameia_2).

Unter den benannten Gesichtspunkten verstehe ich Kontaktaufnahmen dieser Art als „eine Gelegenheit beim Schopfe packend” (de Certeau 1988: 85), d.h. ohne Zögern die Lücke im Haftsystem zu nutzen. Die Situation ist unbekannt; es ist unklar, ob für die individuelle Situation Besserung erreicht werden kann. Dennoch wird strategisch gehandelt und eine widerständige Praxis im Sinne einer Ablehnung und damit einer Überwindung von Isolation vollzogen.

To be overready und die kalkulierte Unterwerfung

Die meisten Kontaktpersonen sind immer vorbereitet, um Lücken und un- oder semikontrollierte Felder im Migrationsmanangement zu nutzen. Dies geschieht nicht nur durch die beschriebene spontane Forderungshaltung in Bezug auf Unterstützer_innen, sondern auch in akribischer bürokratischer Vorbereitung. Nach de Certeau ist die Ansammlung der Erfolge auf Seiten der Taktiker_innen nicht möglich, doch die kalkulierende Vorbereitung trägt zur „Kunst des Schwachen” (de Certeau 1988: 22) bei. Taktisch klug hatten alle Kontaktpersonen konsequent ihre persönlichen Unterlagen, die hinsichtlich ihres Aufenthaltes relevant sind, dabei. Es wurden unzählige gut sortierte Mappen vorgelegt, die neben Asylanträgen und -ablehnungen auch Heiratsurkunden, Abschlusszeugnisse, Krankenversicherungsnachweise u.v.m. beinhalteten. Die vorbereiteten Dokumente bedienen die Kategorien der EU-Migrationspolitik und ihnen liegt ein weit verbreitetes, auf Netzwerken, Erfahrungen und gegenseitiger Unterstützung beruhendes Wissen hinsichtlich der Migrationsbedingungen zugrunde. Die Personen sind jederzeit bereit, ihre Situation (EU-)bürokratisch angemessen darzulegen sowie zu rechtfertigen und zielen darauf ab, den Dokumentationspflichten des europäischen Asylverfahrens zu entsprechen (vgl. Tsianos/Karakayali 2008: 339). Diese Handlung resultiert meines Erachtens aus einer aktiven Resignation15, die sich an die herrschende Ordnung anpasst, um bestimmte Ziele zu erreichen. Milad und Mohammed sind Beispiele für die Annahme, dass die inhaftierten Personen taktisch overready sind: Milad verfasste einen zehnseitigen Brief, der seine Migrationsgeschichte detailliert beschreibt und fügte als Anlagen alle für das europäische Asylverfahren relevanten Unterlagen bei. Diese Mappe besitzt er in mehrfacher Ausführung. Mohammed, der wegen seiner überdurchschnittlich langen Inhaftierung von 55 Monaten ein sehr bekannter Fall in der Republik Zypern ist, führte bei unseren Treffen in Block 10 des Nicosia Central Prison einen Handkoffer mit. Dieser enthielt mehrere Mappen handschriftlicher Dokumente, die seine letzten zehn Lebensjahre als iranischer Geflohener in der Republik Zypern und als Inhaftierter in diversen Hafteinrichtungen beschreiben. Zudem weisen die Mappen seine persönlichen Unterlagen zum Aufenthalt und bspw. Beweise zu regelmäßig entrichteten Krankenversicherungsbeiträgen auf. Sein Bekanntheitsgrad verschaffte ihm zudem mehrere Erwähnungen in Zeitungsartikeln sowie in Berichten von Amnesty International. Dies sind Formen der strukturellen Anpassung an die gegebenen Forderungen durch die zyprischen Behörden und das europäische Asylsystem.

Andere Formen sind die kalkulierte Unterwerfung oder das Sich gut stellen mit den zuständigen Beamt_innen. Bei späteren Besuchen der Polizeistation Oroklini war zu beobachten, dass Manu sich konsequent mit den Beamt_innen gut stellte, indem er mit ihnen Späße auf Griechisch machte und sich die Wut, die er uns beschreibt, ihnen gegenüber nicht anmerken lässt. Im Vergleich zur passiven Resignation, die zum Erstarren führt, tritt hier eine aktive Resignation zutage, in der das Individuum vermeintlich unterliegt und zeitgleich Handlungen vollzieht. In diesem Zusammenhang, so berichtete er, ist er häufig diskriminierenden Äußerungen und Umgangsweisen ausgesetzt, die er über sich ergehen lässt, um seine Situation nicht zu verschlechtern. Aus einem Kalkül heraus passt er sich an und erträgt abwertende Behandlungen. In dem folgenden Textauszug wird der Versuch deutlich, die Beamt_innen durch ein Verständnis der eigenen Situation davon zu überzeugen, ihn zu unterstützen: „Ich habe immer wieder zu den Polizisten gesagt: ‚Morgen um 9 müsst ihr bitte bei der Ausländerbehörde und beim Konsulat anrufen. Ich muss doch hier raus. Bitte vergesst es nicht‘“. (Transkription Interview Manu: 2012_10_01_Oroklini_1; frz.-dt. Übersetzung durch die Autorin).

Manus Verhalten zielt auf die Verbesserung seiner Situation und seine Taktik wird von der Hoffnung auf Verständnis und Hilfe durch die Beamt_innen getragen. Auch hier werden die ‚Lücken’ im Haftalltag aufgespürt und aktiv taktisch genutzt: einerseits durch eine jederzeit abrufbare bürokratisch legitimierte Darlegung des eigenen Falles hinsichtlich der Kategorien des EU-Asylsystems (Overready-Sein) und andererseits durch kalkulierte, d.h. taktisch genutzte Unterwerfungsgesten gegenüber den Exekutivorganen (Sich gut stellen). Daran anschließend verstehe ich diese Handlungen als ein Mitgehen mit dem staatlichen und europäischen System als eine systemimmanente Hinwendung zur hegemonialen Praxis, wobei genau diese an anderer Stelle gezielt unterlaufen wird. Es besteht ein Wissen um das Wesen des Diskurses mit der gleichzeitigen Annahme, geringe Durchsetzungskraft gegenüber der staatlichen Autorität zu besitzen. Der „stille Widerstand“ tritt hier als Macht der weniger Mächtigen auf und stellt nicht zwingend die Auflösung von Macht dar, er markiert vielmehr die Macht selbst (Hegland 1995: 65–80).

Da trotz sorgfältiger Aufbereitung aller Dokumente und einem höchstrichterlichen Urteilsspruch keine Rechtssicherheit besteht16 und vielmehr Willkür herrscht, würde ich es als ein mimetisches Overready sein, im Sinne Homi K. Bhabhas (2000), bezeichnen.17 Für Bhabha trägt Mimikry immer auch einen Hauch Spott in sich. In dem Überbereit sein manifestiert sich nicht nur das Wissen um das Asylsystem, es führt es ad absurdum. „Das bedrohliche an der Mimikry besteht in ihrer doppelten Sicht, die durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig deren Autoritäten aufbricht“ (ebd.: 130). Diese Form der Destabilisierung des Asylsystems verstehe ich im Sinne Bhabhas als widerständige Praxis (ebd: 134). Mimikry ist keine intendierte Widerstandsform, sondern eine unbewusste Verunsicherung und stellt doch eine basale Möglichkeit des kraftvollen Agierens gegen die herrschende Ordnung dar (vgl. Struve 2013: 149). Somit kann das Overready sein des inhaftierten Subjekts als stumme, systemimmanente Anklage des EU-Grenzregimes gewertet werden.

Gemeinschaft nutzen

Trotz einiger Überschneidungen stellt sich die Situation für Manu ganz anders dar als für Personen wie Mohammed oder Martha, die in großen Abschiebezentren mit anderen Personen gemeinsam inhaftiert sind. Die Unterbringung mit anderen Personen in der gleichen Situation bietet ganz andere Möglichkeiten zu agieren als die Einzelhaft. In großen Unterkünften bestehen zudem Möglichkeiten zu erfahren, was außerhalb der Gefängnismauern geschieht. So ist es Manu zwar möglich, sich in das Gedächtnis der Beamt_innen einzuschreiben, doch die taktischen Möglichkeiten, eine kollektive Auflehnung zu vollziehen, sind ohne Gleichgesinnte gleichwohl geringer. Gemeinsam inhaftierte Menschen können sich in Anderen wieder erkennen, Wissen teilen und Solidarität erfahren. Aus der Situation, gemeinsam inhaftiert zu sein, kann eine soziale Einheit entstehen. Diese zeigt sich in der konkreten und konstanten Bezugnahme aufeinander. Die inhaftierten Personen sprachen und schrieben auch immer über andere Fälle, andere Geschichten und Biographien. Sie zogen die Beschreibungen von Personen heran, mit denen sie inhaftiert waren oder sind, um ihre Erzählungen zu bekräftigen und zu fundieren. Die Über-Nacht-Aktion des Verfassens von Briefen in der Polizeistation in Lakatameia zur anklagenden Beschreibung der eigenen Situation ist nur ein Beispiel dafür, wie sich eine Gruppe aus Individuen mit verschiedenen Hintergründen zu einer sich gegenseitig stützenden Interessengruppe formiert. Mit der Übergabe der Briefe in englischer Sprache wurden zudem diverse Dokumente als Belege einzelner Asylantragstellungen oder anderer Begründungen unrechtmäßiger Inhaftierung ausgehändigt. Saeed, gebürtig aus Teheran, hat mit einigen Inhaftierten, die kein Englisch, aber Farsi sprachen, gemeinsam die jeweilige Migrationsgeschichte und die Erlebnisse in der Republik Zypern verfasst. Bis morgens um vier Uhr haben sie gesprochen, übersetzt und geschrieben, berichtete er am darauf folgenden Tag durch die Sprechmuschel der massiven Glasscheibe. Auch während dieser 15-minütigen Besuchszeit wurden kurz, aber prägnant die einzelnen Geschichten zusammengefasst und auf den entsprechenden Brief verwiesen. Außerdem durfte eine dritte Person, deren Geschichte aus Saeeds Perspektive besonders kompliziert war, den verglasten Bereich betreten und er übersetzte seine Erzählung von Farsi ins Englische. Diese soziale Verbindung konstituiert sich über die Aktion des Wartens, das aktive Warten auf das gleiche Ungewisse. So entsteht eine Community mit zweifachem Nutzen: Zunächst einmal gilt es, voneinander zu lernen, von Erfahrungen anderer zu profitieren und diese so für sich nutzbar zu machen. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit anderen Inhaftierten eine Möglichkeit, mit dem Nichtzustand, im Sinne eines In-Between18 des Wartens umzugehen. Die zusammenkommenden marginalisierten Gruppen aus verschiedenen sozialen Feldern sind als Individuen in einem gleichen Zusammenhang verbunden und beziehen sich daher in den Gründen ihrer Anwesenheit aufeinander. Im Anschluss an den stummen, systemimmanenten Widerstand durch das Overready sein, formiert sich diese kollektive Widerstandsform zunächst still, um dann außerhalb der Gefängnismauern möglichst laut auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Der organisierte Aufstand von 2010, bei dem der Block 10 des Zentralgefängnisses von Inhaftierten teilweise in Brand gesteckt wurde, ist ein Beispiel für den erprobten Aufstand und eine radikale Widerstandspraxis einer Gruppe, die zu einer sozialen Einheit wurde und einzelne Schicksale in einer Masse von Rechtsverstößen anprangerte. Von dieser Form des kraftvollen kollektiven Widerstandes berichtet eine seit langem inhaftierte Person im Gespräch während der Besuchszeit im Gefängnishof von Block 10:

„Ein Ägypter wurde inhaftiert, obwohl sein Fall noch nicht abgeschlossen war; es lagen keine Gründe für eine Inhaftierung vor. Er versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Die anderen Leute riefen einen Krankenwagen, was die Polizei nicht zuließ. Nichts geschah. Daraufhin entstand ein Tumult und ein paar Leute legten Feuer im Block 10. Die Feuerwehr kam sehr spät und nur fünf Leute durften danach ins Krankenhaus, obwohl viele Blut husteten.” (Gedächtnisprotokoll 26.09.2012).

Das taktische Verhalten wird zugespitzt und in einer radikalen Auflehnung vollzogen. Die Formen des Protests basieren auf integrativen, solidarischen Momenten des Inhaftiertseins oder des Migriertseins und lassen diesen aus der Gemeinschaft heraus möglich werden.

Fazit

Die Menschen der Hafteinrichtung Lakatameia, der Einzelhaft von Oroklini und dem großen Abschiebegewahrsam von Block 9 und 10 des Nicosia Central Prison werden in einem Übergangs-Zeit-Raum festgehalten und das Warten in demselben ist von Ungewissheit und Willkür geprägt. Aus dem Warten in Haft resultiert ein taktisches und strategisches Verhalten zur Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen. Dieses manifestiert sich in ganz unterschiedlichen Handlungsformen. Ihnen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie von Gelegenheiten und spontanen Möglichkeiten profitieren und die ‚Lücken im System’ für sich nutzbar machen. Diese Handlungen unterliegen häufig dem herrschenden nationalen und transnationalen politischen System und dennoch konstituieren sie eine herausfordernde Kraft im Netz transnationaler Migrationspolitiken: Taktisches Verhalten artikuliert sich dann zu Formen des Widerstandes gegen die herrschende Ordnung. Das aktive Engagement zur Verbesserung der eigenen Situation zeigt sich zum einen in der Kontaktaufnahme nach ‚draußen’ und zum anderen in dem Overready sein hinsichtlich asylrelevanter Dokumente. Die mimetische Anpassung an hegemoniale Strukturen ist als ‚stumme’ Auflehnung zu verstehen und erscheint zunächst als unsichtbare Widerstandspraxis.

In diesem Zusammenhang ist es für Migrant_innen unerlässlich, zu wissen, welche Aspekte in Bezug auf das europäische Asylsystem wofür relevant sind und wer außerhalb der Hafteinrichtung hilfreich sein könnte. Dieses migrantische Wissen wird über soziale Einheiten, Netzwerke und Communities generiert und verteilt. Migration ist existentiell an Netzwerke gebunden und kann auf dieser Basis zum einen Wissen verbreiten und zum anderen solidarisch Formen des Protestes aktivieren und manifestieren. Die Empfindungen von Unsicherheit und die Erfahrungen mit staatlicher Willkür im Prozess des Wartens führen dazu, sich als inhaftiertes Subjekt und als Gruppe gegen die herrschende Ordnung zu stellen.

Einmal mehr wird hier belegt, dass die Bewegung der Migration „(…)Wissen besitzt, eigenen Regeln folgt und ihre Praxis kollektiv organisiert“ (Moulier Boutang 2002: 2). Die Taktiken im Warten richten sich gegen eine herrschende Ordnung, sind Teil der asymmetrischen Machtbeziehung und artikulieren sich in unsichtbaren und sichtbaren Widerstandsformen.

Grenzen und Gefängnismauern sind schwer durchdringbar. Es wird einmal mehr deutlich, dass die Bewegung der Migration auch unter diesen Bedingungen um ihre Rechte kämpft, etwa wenn es zu organisierten Aufständen kommt oder in den alltäglichen Praktiken der Verständigung, Organisation und der fordernden Bezugnahme auf unterstützende Initiativen.

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  • Volume: 1
  • Issue: 2
  • Year: 2015


Nina Violetta Schwarz studierte Kulturwissenschaften, Französische Philologie, Regionalstudien Afrika und Europäische Ethnologie in Bremen und Berlin. Sie ist Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und promoviert an der HU-Berlin zu Migration im Transit, Gender, Imagination und Menschenrechtsdiskurs in Marokko/Spanien aus rechtsanthropologischer Perspektive. Außerdem ist sie in diversen Bündnissen und Vereinen in der nationalen und internationalen Flüchtlingssolidarität tätig. Kontakt: mailto:Ninaschwarz@posteo.de