Jugendliche ohne Grenzen

Zehn Jahre Proteste und Kämpfe von geflüchteten Jugendlichen — Creating Utopia?

Ibrahim Kanalan

Abstract This article describes the emergence, activities, and struggles of young refugees from the initiative Youth without Borders (Jugendliche ohne Grenzen) in Germany. It argues that the reasons for the struggles of migrants and refugees are embedded in the social and public structures of discrimination and racism. Therefore, the struggles of Youth without Borders were not only against the special law for refugees, but also against social actors who victimize and objectify refugees in particular and migrants in general. The article also discusses the difficulties and challenges, which Youth without Borders has to face with other migrant and refugee organisations and how they handle them. The article summarizes the achievements of the last ten years and concludes that the struggle for more equality and less racism needs to be continued.


Strukturen der Diskriminierung

Gründe für migrantische Kämpfe und Proteste, die regelmäßig strukturelle staatliche und gesellschaftliche Ursachen haben, sind vielfältig. Eine dieser Strukturen, die Gegenstand verschiedener Kämpfe ist, ist das europäische und deutsche Migrationssystem. Dieses ist durch Sondergesetze, Rassismus, Kriminalisierung, Disziplinierung, Entpolitisierung sowie Marginalisierung geformt. Der Staat lässt seiner Repression und Ungerechtigkeit kaum Grenzen setzen. Dies kann am Beispiel des deutschen Asyl- und Aufenthaltsrechts demonstriert werden. Vor allem Geflüchtete — seien es aufenthaltsrechtlich geduldete Menschen oder Asylbewerber_innen — werden in jeder Lebenslage mit diskriminierenden Sonderregeln und Praxen des Asyl- und Aufenthaltsrechts konfrontiert. Hierzu zählen beispielsweise eingeschränkte Sozialleistungen, eine inadäquate medizinische Versorgung, die Unterbringung in Lagern und Containern, kein Zugang zu Sprachkursen, teilweise erhebliche Einschränkungen des Zugangs zu Bildung, sowie Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsverbote, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit — die sogenannte Residenzpflicht — und zahlreiche rassistische Praxen bei der Umsetzung dieser Sonderregelungen. Von einem menschenwürdigen Leben, autonomer Gestaltung des Lebens und Freiheit kann kaum die Rede sein. Die Folgen dieser diskriminierenden Regeln und rassistischen Praxen sind oft Isolation, Perspektivlosigkeit und die ständige Angst vor Abschiebung.

Und doch, trotz oder gerade wegen dieser massiven Diskriminierung, gibt es immer wieder Menschen, die sich diesem Repressionsmechanismus nicht unterordnen wollen. Sie wollen ihr Leben so gestalten, wie sie es möchten, und sich ihrer Autonomie und Würde keine Grenzen setzen lassen. Neben einer angemessenen Unterbringung und Bewegungsfreiheit ist der Zugang zu Bildung einer der wichtigsten Forderungen. Vor allem für Jugendliche ist dies ein erheblicher Aspekt. Sie wollen zur Schule gehen, die Sprache erlernen, eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren und später arbeiten. Dies sind zugleich Bedingungen, die unerlässlich sind, um als autonomes und kritisches Subjekt agieren zu können und um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Letztendlich geht es darum, eine Perspektive und Sicherheit zu erlangen und keine Angst vor der Abschiebung zu haben. Mit anderen Worten: um ein Leben ohne Angst und ein gesichertes Aufenthalts- bzw. Bleiberecht.

In diesem Beitrag werde ich versuchen, vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Strukturen die Entstehung, Aktivitäten und Kämpfe der Initiative Jugendliche ohne Grenzen darzustellen und die Eigenart ihrer Praxis im Vergleich zu anderen migrantischen Kämpfen herauszuarbeiten. Dabei werde ich aus meiner Perspektive als Gründungsmitglied dieser Initiative und aus einer fünfzehnjährigen Erfahrung als Aktivist die Analyse und Darstellung vornehmen.

Die Kämpfe um Studienerlaubnis und die Entstehung einer Initiative junger Geflüchteter

Der Grundstein für die Entstehung einer Initiative von geflüchteten Jugendlichen wurde schon im Jahr 2001 gelegt. Vor dem Hintergrund einer repressiven, entrechtenden Politik und Rechtslage haben sich damals drei junge Menschen in einer Berliner Beratungsstelle im Stadtteil Moabit (Bezirk Mitte) zusammengefunden, weil sie nicht studieren durften. Mit einer Aufenthaltsgestattung, einer Duldung oder einem irregulären Aufenthaltsstatus war ein Studium rechtlich unmöglich. Hätte der Sozialarbeiter der Moabiter Beratungsstelle — selbst einst nach Deutschland geflüchtet — wie die meisten anderen Beratungsstellen nur eine rechtliche Beratung vorgenommen, hätten wir alle drei danach nach Hause gehen und uns unserem Schicksal ergeben müssen. Aber der Sozialarbeiter motivierte uns, sich politisch für die eigenen Rechte einzusetzen und diese zu erstreiten.

Doch wie realistisch ist es, von einer Gruppe, die aufgrund von Krieg, Unterdrückung und Diskriminierung geflüchtet ist und die von Rassismus, Erniedrigung und Entrechtung betroffen ist, Widerstand, Protest und Aktivismus zu erwarten? Die Geschichte der migrantischen Kämpfe (vgl. Bojadžijevic 2008) zeigt, dass dies tatsächlich möglich ist, da die Bedingungen des Widerstandes genau in den oben skizzierten Strukturen und Erfahrungen liegen. Es ist also nicht unmöglich — auch wenn Widerstand, Protest und Kampf nicht einfach zu führen sind und viel Kraft, Geduld und politisches Bewusstsein voraussetzen. Gewiss darf die Angst der Betroffenen vor nachteiligen Auswirkungen nicht unterschätzt werden. Doch oftmals ist der Wille, für die eigenen Rechte zu kämpfen, stärker als die Angst vor dem Staat und negativen Konsequenzen. Schwierig ist es, wenn durch die politische Arbeit der irreguläre Aufenthaltsstatus öffentlich gemacht wird. Dies führte tatsächlich dazu, dass die eine oder andere ihre Aktivitäten nicht fortsetzen konnte. Dies geschah schon zu Anfangszeiten unserer Initiative, als eine Person sich nach wenigen Monaten zurückziehen musste und sich nicht gegen die Exklusion und das Studienverbot einsetzen konnte, weil sie einen irregulären Aufenthalt hatte und sich vor ihrer Aufdeckung fürchtete. Sie zog es vor, das Leben in der Schattenwelt fortzusetzen und über den Gaststudentenstatus und mit Unterstützung einiger Professoren so unauffällig wie möglich an den Vorlesungen teilzunehmen, bis sie eine individuelle Lösung finden konnte. Kurze Zeit später schied auch die zweite Person aufgrund der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels aus, weil sie nunmehr studieren durfte. Am Ende blieb eine Person übrig. Die Frage lautete vor dieser Ausgangslage: nichts machen und sich seinem Schicksal ergeben oder kämpfen und vielleicht doch am Ende etwas erreichen?

Kämpfe um Anerkennung: „Wir sind Subjekte und nicht bloß Objekte. Jetzt reden auch wir mit. Es darf nicht mehr über uns geredet werden, sondern nur noch mit uns.“

Es sind nicht nur die staatliche Diskriminierung und institutioneller Rassismus, mit denen die Geflüchteten und Migrant_innen zu kämpfen haben. Auch innerhalb zivilgesellschaftlicher Strukturen müssen sie um ihre Anerkennung kämpfen. Denn in der Regel werden sie von unterschiedlichen Akteur_innen als Objekte und wehrlose Opfer der europäischen Politik präsentiert (vgl. Pichl 2010). Dieses Verständnis wird bewusst oder unbewusst immer wieder auch von den zivilgesellschaftlichen Akteur_innen reproduziert. In der öffentlichen Debatte und in den Politiken und Auseinandersetzungen der Parteien und NGOs werden die Betroffenen kaum als Subjekte wahrgenommen. Ihre aktive Rolle wird selten beachtet und ihre Stimme kaum erhört. Die Subalterne ist nicht nur im globalen Süden, sondern mitten in den stets gelobten und als Vorbild propagierten europäischen Gesellschaften anzutreffen. Politiker_innen, Flüchtlingsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und andere zivilgesellschaftliche Akteure haben stets über die Geflüchteten und nicht mit ihnen gesprochen. Sie haben regelmäßig für die Geflüchteten gesprochen und diese selten für sich sprechen lassen oder gar darin unterstützt. Auch dagegen wollten die jungen Geflüchteten aus Berlin etwas machen: Wir wollten keine Opfer und keine Objekte sein, sondern Subjekte, die aktiv mitmischen und mitgestalten. Wir hatten eine eigene Stimme und wollten unsere Probleme selbst artikulieren, unsere Forderungen selbst bestimmen und sie in die Öffentlichkeit tragen. Wir wollten weg von der Passivität, in die wir aufgrund der Gesetze und der staatlichen Strukturen als auch durch die zivilgesellschaftlichen Akteur_innen gedrängt wurden. Solche Praxen, die andere Formen des Rassismus darstellen, sind nicht nur im Falle der Geflüchteten zu beobachten, sondern historisch verankert und gegenwärtig weit verbreitet: Das als die/der Andere konstruierte nicht-europäische Objekt hat weder eine eigene Stimme noch werden ihre/seine Kämpfe wahrgenommen (vgl. ebd.).

„Wir verzichten auf sämtliche staatliche Leistungen. Das war der ‚Deal‘, um studieren zu dürfen.“

Gegen die staatliche Diskriminierung, Exklusion und Marginalisierung konnte 2003 ein erster Erfolg verbucht werden. Wir haben es — vor allem dank der Unterstützung von der Moabiter Beratungsstelle, des Flüchtlingsrats Berlin, engagierter Mitarbeiter_innen politischer Parteien und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen — in der Tat geschafft, dass in Berlin eine Ausnahmeregelung eingeführt wurde. Nach zweijährigem Protest und einem Kampf mit zahlreichen Demonstrationen, Gesprächen mit unterschiedlichen staatlichen Vertreter_innen, Politiker_innen, NGOs, Interviews mit Medienvertreter_innen etc. ist es uns gelungen, die Möglichkeit zu erhalten, eine Ausbildung zu absolvieren bzw. ein Studium aufzunehmen. Die Gegenleistung, die zu erbringen war, war jedoch hoch: der Verzicht auf sämtliche staatliche Sozialleistungen! Auch im Kampf gegen die Strukturen der zivilgesellschaftlichen Akteur_innen wurden Fortschritte erzielt. Zwar waren immer noch viele abgeneigt, die Subjektstellung der neuen Akteur_innen zu akzeptieren, aber zumindest fingen einige an, darüber zu reflektieren, was die Jugendlichen forderten.

Gemeinsam sind wir stärker: Hoch die globalen migrantischen Kämpfe!

Die neuen Akteur_innen, die ihre Ausbildungs- und Studienerlaubnisse sowie ihre Subjektstellung erkämpft hatten, mussten jedoch feststellen, dass Bildungs- und Arbeitsrechte keine dauerhafte Lösung boten, solange die Angst vor einer Abschiebung stets präsent und eine Perspektive und soziale Sicherheit ihnen weiterhin verwehrt blieben. Mit anderen Worten: solange sie kein Bleiberecht hatten.

Inspiriert durch die Kämpfe der Sans Papiers vor allem in Frankreich und durch die Legalisierungsregelungen in Italien und Griechenland haben die Berliner Jugendlichen, die mittlerweile auf 15–20 Personen gewachsen und mit dem Namen Bleiberechtsinitiative junger Flüchtlinge-BBZ aktiv waren, im Herbst 2003 beschlossen, den Kampf auf die ganze Bundesrepublik auszuweiten und sich für eine ‚großzügige Bleiberechtsregelung‘ für die damals 200.000 Geduldeten einzusetzen. Zudem wollten sie auf die Lage der irregulären Migrant_innen in Deutschland aufmerksam machen und sich für deren Rechte einsetzen.

Was aber ist zu machen, wenn die Stimme mit konventionellen Methoden bei den Politiker_innen und der Mehrheitsgesellschaft nicht erhört wird? Die üblichen Akteur_innen und Unterstützer_innenkreise, Flüchtlingsräte und einige NGOs, waren zwar zu echten Unterstützer_innen und Partner_innen gewachsen, aber die Proteste und Kämpfe wurden nur von bestimmten Kreisen wahrgenommen. Auch die Mittel der Proteste und Kämpfe schienen konventionell. Erforderlich waren nun innovative Formen der Zusammenarbeit und Protestaktionen etwa mit Künstler_innen und Theaterschaffenden. Im Herbst 2004 fragte der Berliner Flüchtlingsrat das Grips Theater um Unterstützung an und nahm sogleich ein paar Vertreter_innen der Berliner Bleiberechtsinitiative zu dem Treffen mit. Anlass des Gesprächs war der Fall eines 14 Jahre alten Mädchens aus dem Kosovo, das aus der Schule abgeholt wurde und mit seinen Eltern abgeschoben werden sollte. Insbesondere durch den Protest der aufmerksamen Mitschüler_innen und der Lehrerin durften das Mädchen und ihre Mutter zwar in Berlin bleiben, jedoch wurden der Vater und die ältere Schwester abgeschoben. Ausgehend von diesem Fall und der Problematik der Flüchtlingskinder starteten die Jugendlichen in Zusammenarbeit mit dem Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant_innen (BBZ), dem Flüchtlingsrat Berlin und dem Grips Theater sowie mit Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Akteure wie Pro Asyl und die GEW die Kampagne „Hier geblieben“.1 Nunmehr waren nicht nur Demonstrationen, Kundgebungen, Gespräche mit Politiker_innen und staatlichen Akteur_innen etc. die Mittel der Proteste und Kämpfe. Das Repertoire erweiterte sich mit einem Theaterstück über den Fall des Mädchens aus dem Kosovo, mit Schulmaterial über Flucht, Geflüchtete und ihre Kinder sowie mit einer Postkartenaktion von Kindern und mit verschiedenen Formen politischer Kunst.

Aus der Kampagne „Hier Geblieben“ und den Jugendlichen des BBZ, der Flüchtlingsinitiative Brandenburg und dem Jugendclub des Grips Theaters ist schließlich im November 2005 die Initiative Jugendliche ohne Grenzen hervorgegangen.2 Nach zwei gescheiterten Versuchen in den Jahren 2003 und 2004 ist damit eine inzwischen bundesweite Initiative geflüchteter Jugendlicher entstanden. Zuvor hatten wir versucht, Jugendliche in anderen Bundesländern, vor allem in Hamburg, zu motivieren, um sich für ihre eigenen Rechte einzusetzen. Vor allem aufgrund mangelnder Unterstützung durch Sozialarbeiter_innen und Flüchtlingsorganisationen, fehlender Strukturen in den Flächenbundesländern und zuletzt aufgrund der Zweifel der Jugendlichen darüber, etwas ändern zu können, ist es uns nicht gelungen, auch in den anderen Bundesländern ähnliche Gruppen aufzubauen. 2005 aber haben wir es mit einer über sechsmonatigen, intensiven Vorbereitung durch das „Hier geblieben“-Team und Unterstützer_innen der Kampagne geschafft, ca. 70 geflüchtete Jugendliche als ‚Botschafter_innen‘ ihrer Bundesländer nach Karlsruhe zu mobilisieren. Die dreitägigen Erfahrungen der Jugendlichen auf der ersten Konferenz der Jugendlichen ohne Grenzen waren am Ende die entscheidenden Aspekte, die viele Teilnehmer_innen motiviert und überzeugt haben, eigene JoG-Gruppen zu gründen und aktiv zu werden: eine Demonstration, die sie selbst mitorganisiert und durchgeführt haben; Workshops von Jugendlichen für Jugendliche; die gleichberechtigte Teilnahme an der Pressekonferenz neben den Vertreter_innen der Flüchtlingsorganisationen, um für sich selbst zu sprechen; das Treffen mit den Vertreter_innen der Innenministerkonferenz, um ihre Forderungen zu übermitteln sowie der Austausch mit anderen Geflüchteten. Die Jugendlichen konnten erkennen, dass sie mit ihrer Diskriminierung nicht allein sind und es sich lohnt, sich für eigene Rechte einzusetzen.3

Entsprechend der Prämisse „Wir sind Expert_innen in eigener Sache und haben eine eigene Stimme“ haben die JoG-ler_innen es tatsächlich geschafft, immer mehr Gehör bei den Politiker_innen zu finden — und dies nicht nur bei den Innenpolitiker_innen, sondern auch bei Bildungs-, Arbeits- und Sozialpolitiker_innen. Dabei haben sie mit unterschiedlichen Aktionsformen operiert. Die wichtigste Aktion ist die jährlich parallel zur Innenministerkonferenz stattfindende Jugendkonferenz.4 Auf der Konferenz treffen sich zwischen 60 und 80 Jugendliche aus beinahe allen Bundesländern, die über drei bis vier Tage mehrere Aktionen durchführen. Hierzu gehören eine Demonstration, die Teilnahme an einer Pressekonferenz mit anderen Flüchtlingsorganisationen, ein Treffen mit den Vertreter_innen der Innenministerkonferenz, mehrere Workshops und ein Galaabend, auf dem der „Abschiebeminister des Jahres“ gewählt und Initiativen für ihr Engagement ausgezeichnet werden. Die Landesgruppen führen autonom ihre Aktionen durch und setzten dabei die thematischen Schwerpunkte entsprechend der vorhandenen Probleme und Diskriminierungen in dem jeweiligen Bundesland. Das sind beispielsweise Kundgebungen und Demonstrationen, die Organisation von Fachtagungen sowie Workshops oder die Teilnahme an diesen, Pressekonferenzen, Gespräche mit Medienvertreter_innen, aber auch die Begleitung der Jugendlichen zur Ausländerbehörde und bei Gerichtsverhandlungen. Des Weiteren organisieren sie Kampagnen hinsichtlich unterschiedlicher Diskriminierungen und Forderungen. Zuletzt haben sie beispielsweise versucht, mit der Postkartenaktion und der Aktion „Mein Zeugnis für Merkel“ im Rahmen der Bildungskampagne „Für ein gleiches Recht auf Bildung — grenzenlos, bedingungslos auch für Flüchtlinge“ ihre Forderungen an die Politiker_innen zu tragen.5 Neben der Öffnung von Sprachkursen für Asylbewerber_innen und Geduldete waren die Forderungen u.a. der Zugang zur Schule für geflüchtete Jugendliche, vor allem für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, die Aufhebung der Arbeits- und Studienverbote und die Abschaffung der Residenzpflicht und des Asylbewerberleistungsgesetzes. Begleitet wurde die Kampagne mit Aktionen wie dem Sammeln von Zeugnissen und Zertifikaten der geflüchteten Jugendlichen, um sie der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu übergeben und von ihr ein Bleiberecht zu verlangen. Mit der Forderung nach BAföG für alle Geflüchteten von Anfang an wurden Postkarten gesammelt und an die zuständigen Politiker_innen verschickt.

Schließlich ist es einer der wichtigsten Aktivitäten von JoG, mit den Politiker_innen und relevanten Akteur_innen auf der Landes- oder Bundesebene ins Gespräch zu kommen, sie mit Mail-, Brief- oder Postkartenaktionen auf unterschiedliche Themen aufmerksam zu machen und mit den Forderungen zu konfrontieren. Auf diesem Wege wurden zahlreiche Gespräche direkt — ohne Vermittlung und Anwesenheit anderer Flüchtlingsorganisationen — mit EU-, Bundes- und Landespolitiker_innen geführt. Um nur ein paar Namen zu nennen, wurden unter anderem die Innenminister Günther Beckstein, Eberhardt Körting und Boris Pistorius, der Staatssekretär Peter Altmaier und die Staatsministerin Aydan Özoguz getroffen und mit ihnen über die Diskriminierung der Geflüchteten und ihre Forderungen diskutiert.

Die Forderungen nach Subjektivität und Mitspracherecht auf Augenhöhe waren somit auch bei weiteren Akteur_innen angekommen. Nicht mehr nur der Flüchtlingsrat, Pro Asyl oder andere NGOs trafen sich mit den Politiker_innen, gaben Interviews im Namen der Geflüchteten und stellten Forderungen. Nun waren es immer öfters die Betroffenen selbst, die dies machten. Sie erfuhren zunehmend Anerkennung und Unterstützung auch von anderen Akteur_innen, selbst ihre Probleme zu artikulieren, Forderungen zu formulieren und an die Entscheidungsträger_innen zu übermitteln.

Wie weiter und was noch?

Zugleich gab es insbesondere am Anfang des Entstehungsprozesses Auseinandersetzungen mit anderen Initiativen und Organisationen von Geflüchteten. Die Flüchtlingsinitiative Brandenburg oder Aktivist_innen von No Border oder Karawane stellten weitergehende Forderungen — wie globale Bewegungsfreiheit oder Bleiberecht für alle — und wählten andere Protestmittel und -formen als die jugendlichen Geflüchteten aus Berlin. Auch das Thema Kolonialismus wurde Gegenstand von Diskussionen. Argumente wie: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“, waren für viele Jugendliche neu und nicht immer sofort verständlich. Teilweise waren die Jugendlichen der Ansicht, dass ‚radikale‘ Forderungen wie globale Bewegungsfreiheit oder Bleiberecht für alle – auch wenn die Forderungen an sich richtig sind — in der Sache nicht weiterführend sein könnten, da zum einen die Politiker_innen sich weigern könnten, mit ihnen zu sprechen. Und zum anderen setzte sich vor dem Hintergrund, dass tagtäglich Menschen abgeschoben werden und mehr als 200.000 Menschen mit der Duldung unter sehr widrigen Umständen leben müssen, die Idee durch, kurz- und langfristige Forderungen zu formulieren und diese dem Kontext entsprechend zu artikulieren. Insbesondere bei den kurzfristigen Forderungen sollten diese ‚realisierbar‘ sein, auch um Erfolge zu haben, da es sonst schwer wäre, über mehrere Jahre Jugendliche zu motivieren, mitzumachen. Dennoch sollten die Forderungen anderer Gruppen nicht geschwächt und keine Personen durch die Forderungen ausgeschlossen werden. Bei diesen Auseinandersetzungen setzte sich größtenteils die Überlegung durch: Gemeinsam sind wir stärker. Es sollten im Ergebnis gemeinsame Forderungen und Kämpfe gestärkt und nicht Unterschiede bei den Aktionsformen und Einzelheiten bei den Forderungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Dieser Austausch und Lerneffekt hat sicherlich das Denken und Handeln vieler Aktivist_innen beeinflusst und sie über mehrere Jahre begleitet. Tatsächlich konnte bei einigen Jugendlichen beobachtet werden, dass sie selbst später teilweise Forderungen gestellt haben, die sie zuvor als ‚unrealistisch‘ erachteten, und in Diskussionen sowie Gesprächen Argumente vorgetragen haben, denen sie zuvor kritisch gegenüberstanden.

Diese Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen und ihren Forderungen setzten sich in unterschiedlichen Formen auch im Laufe der vergangenen Jahre fort. Beispielsweise gab es im Jahr 2012 auf dem No Border Camp in Köln Auseinandersetzungen hinsichtlich des Critical-Whiteness-Ansatzes und im Jahr 2013 auf dem Refugee Struggle Congress in München Auseinandersetzungen hinsichtlich des Ansatzes und der Forderungen der Non-Citizen-Initiative.6

Zudem führten die geknüpften Kontakte und Diskussionen zu einer weiteren Zusammenarbeit — zum Beispiel zur Unterstützung und Teilnahme während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Ähnliche Erfahrungen wurden mit den Protesten der Geflüchteten aus dem Sommer 2012 gemacht. Die Märsche, Proteste und Forderungen anderer Refugee-Aktivist_innen wurden von Anfang an unterstützt und begleitet, auch wenn bestimmte Protestformen — wie zum Beispiel Hungerstreiks — für die eigenen Aktionen keine Rolle spielten. Solidarität und Unterstützung aber waren zentral für die eigene Arbeit mit anderen Gruppen.

Globale Bewegungsfreiheit und globale Protestbewegungen

Die Tatsache, dass über Asyl- und Flüchtlingspolitik immer mehr in Brüssel und nicht mehr nur in Berlin entschieden wird, hat dazu beigetragen, dass auch die europäische Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik stärker zum Gegenstand der Proteste wurde. Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ — die Festung Europa — wird nunmehr nicht allein durch die Nationalstaaten verteidigt, sondern etwa auch durch die gemeinsame europäische Grenzschutzagentur Frontex. Die diskriminierenden Sonderregelungen sind nicht mehr nur ‚made by Bundestag‘ sondern auch ‚made by European Commission‘. Dies wirkt sich auf die Proteste und Kämpfe der Geflüchteten aus. Folglich war auch die Forderung der Jugendlichen ohne Grenzen nicht nur die Abschaffung von diskriminierenden Sonderregeln in Deutschland, sondern auch die Abschaffung diskriminierender Migrationsgesetze auf europäischer Ebene. Die Proteste fanden nicht nur in Berlin, Hamburg oder Mainz statt, sondern auch an der europäischen Außengrenze auf der griechischen Insel Lesbos oder im unionseuropäischen Zentrum in Brüssel.

So kam es, dass einige Aktivist_innen, die einst über Griechenland nach Deutschland gekommen waren, nach Lesbos zurückkehrten, um ein solidarisches Netzwerk aufzubauen und für globale Bewegungsfreiheit zu kämpfen.7 Um weitere Tote zu verhindern und gegen den „unerklärten Krieg gegen Flüchtlinge“ zu protestieren, wurden im Rahmen des Aktionsprogramms SOS for Human Rights8 mit verschiedenen Organisationen wie dem Grips Theater oder borderline-europe auch in Brüssel Aktionen durchgeführt (vgl. Grips Werke 2012).9 Auch wenn diese Aktionen nur zwei von zahlreichen Beispielen sind, zeigen sie, dass Aktivist_innen und Organisationen sich vernetzen.

Die Proteste haben sich in den letzten Jahren also ausgeweitet. Ob aber tatsächlich von einer europäischen oder globalen Protestbewegung ausgegangen werden kann, ist schwierig zu beurteilen. Die Proteste und Kämpfe der Geflüchteten, die wohl ihren Höhepunkt in den Protesten und Kämpfen in Berlin und Hamburg gefunden haben, dürften in dieser sehr intensiven Form vorüber sein. Übrig geblieben sind ein Bewusstseinswandel in Teilen der Gesellschaft und viele kleine Initiativen, die Geflüchtete unterstützen oder sich für die Belange von Geflüchteten einsetzen. Dabei ist jedoch zu beobachten, dass nicht alle Initiativen und Gruppen die Perspektive und das Denken des überlegenen, europäischen Subjekts aufgegeben und gelernt haben, die Geflüchteten als gleichberechtigte Subjekte anzuerkennen. Es ist immer noch oft zu beobachten, dass die Geflüchteten als passive Objekte konstruiert werden und der Einsatz für sie aus einer rein humanistischen Perspektive erfolgt. Die Motivation ist sicherlich nicht immer gleich. Aber nicht selten ist festzustellen, dass Eigeninteressen dominieren, weil das Thema und solche Aktivitäten in der jeweiligen sozialen Gruppe bzw. dem Umfeld einfach ‚in Mode‘ sind. Dies zeigt sich etwa bei einigen studentischen Initiativen, wie Sprachkursangeboten in den Lagern oder den Refugee Law Clinics an den juristischen Fakultäten. Es geht also nicht selten primär um das ‚Aufpolieren‘ des eigenen Lebenslaufs. Diese Motivation verleitet dazu, die Subjektstellung der Geflüchteten nicht ernst zu nehmen und die eigene Verantwortung als Teil des europäischen und globalen Systems nicht zu erkennen sowie die Gründe der Flucht nicht zu reflektieren. Denn wie Sonja Buckel (2013) zutreffend festgestellt hat, ist das Terrain des europäischen Migrationsrechts von Kämpfen um Hegemonie geprägt, bei dem es auch „um die Aufrechterhaltung einer imperialen Lebensweise“ geht, ein Teil derer jede_r von uns ist.

Kommen die visibility der Invisiblen oder die Stimme der Subalternen an?

Dennoch kann konstatiert werden, dass sowohl in Deutschland als auch in der EU die Sensibilität für Belange der Geflüchteten und die Solidarität mit ihnen gestiegen sind und die Proteste und Kämpfe insgesamt zugenommen haben. Von enormer Bedeutung ist auch, dass die Subjekte und ihre Proteste sichtbarer werden, ihre Stimme Gehör findet. Denn Proteste und Kämpfe der Geflüchteten und Migrant_innen fanden immer statt, sie waren bloß häufig nicht so sichtbar und hörbar wie heute (vgl. Pichl 2010). Und das wiederum hat Auswirkungen auf die Proteste, auf die Solidarität und die Formen des Widerstands. Die verhinderte Abschiebung durch Mitschüler_innen, Nachbar_innen oder Gemeinden wird medial in der Regel positiv präsentiert und regt zu mehr Aktivismus und Solidarität an. Die Gefahr ist aber, dass nur jene, die diese Unterstützung, Solidarität und mediale Aufmerksamkeit erfahren, vor einer Abschiebung geschützt werden können. Wer nicht gut vernetzt ist und nicht genügend Unterstützung bekommt, ist auch nicht sichtbar und deren Stimme findet kein Gehör. Die Stimme der Subalterne wird also nur bedingt erhört. Auch ist sie nicht immer sichtbar.

Die Geflüchteten und Aktivist_innen der Initiative Jugendliche ohne Grenzen haben es geschafft, als Subjekte wahrgenommen zu werden, Sichtbarkeit zu erlangen und für ihre Stimme Gehör zu finden. Damit wurden einerseits Erfolge auf der individuellen Ebene erzielt — zum Beispiel, indem Abschiebungen verhindert werden konnten und viele Aktivist_innen ein Aufenthaltsrecht bekommen haben. Auf der kollektiven Ebene wurde ein wichtiger Beitrag zu Verabschiedung von mehreren Bleiberechtsregelungen mit mehr als 60.000 Aufenthaltserlaubnissen, einer Lockerung der Beschränkung der Bewegungsfreiheit (Residenzpflicht) und des Arbeitsverbots geleistet. Die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern und rassistische Proteste gegen die Unterbringung, Sonderregelungen wie das Asylbewerberleistungsgesetz und die Existenz von Kettenduldungen auf der nationalen Ebene, das Dublin-System sowie das Grenzschutzregime auf der europäischen Ebene verdeutlichen aber, dass die Kämpfe weitergeführt werden müssen.

Jugendliche ohne Grenzen haben es in den letzten zehn Jahren geschafft, sich in der Landschaft der migrantischen Protestbewegungen zu etablieren und stets ihre Forderungen zu überdenken und umzuformulieren, ohne die Idee und Forderung nach einer gerechteren und friedlichen Welt aufzugeben. Das Ziel von Jugendliche ohne Grenzen war und ist es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Jugendliche ohne Grenzen und ähnliche Organisationen überflüssig sind. Solange dies nicht der Fall ist, wird sie sich dafür einsetzen, dass es zum einen weniger Rassismus sowie weniger diskriminierende und entwürdigende Sonderregelungen und Praxen und zum anderen mehr Gleichheit und Gerechtigkeit gibt.

Jugendliche ohne Grenzen kann aber auch in anderer Hinsicht einiges Positives attestiert werden: Sie ist eine Initiative mit gelebter, partizipativer und radikaler Demokratie — ohne Hierarchie. Eben „creating utopia“ (Gauditz 2014)!

Dieser Beitrag ist mit großem Dank Walid Chahrour gewidmet, wegen seines unermüdlichen Einsatzes für die Kämpfe und Proteste junger Geflüchteter und seines Engagements sie zu motivieren für die eigenen Rechte zu kämpfen.

Literatur

Bojadžijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster.

Buckel, Sonja (2013): „Welcome to Europe“. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das Staatsprojekt Europa. Bielefeld.

Gauditz, Leslie (2014): Doing Utopia. Organisatorische Praktiken sozialer Bewegungen. Masterarbeit. Hamburg.

Grips Werke (2012): SOS for Human Rights. Dokumentation 2012. URL: http://www.strassenmusiktheater.de/soscms/jupgrade/images/stories/sosfhr_dokumentation_webversion_neu.pdf [5.9.2015].

Pichl, Max (2010): Kämpfe der Migration. URL: https://heimatkunde.boell.de/2010/04/01/kaempfe-der-migration [5.9.2015].

  • Volume: 1
  • Issue: 2
  • Year: 2015


Ibrahim Kanalan, Dr. iur., hat Rechtswissenschaften in Berlin studiert und mit einer Arbeit zum Recht auf Nahrung und zur Menschenrechtspflicht von transnationalen Unternehmen in Bremen promoviert. Er setzt sich seit mehr als zehn Jahren u.a. für die Rechte und die Gleichberechtigung von Geflüchteten und für Kinderrechte ein. Er ist Gründungsmitglied von Jugendliche ohne Grenzen und Mitglied des Beirats der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Seit April 2015 ist er wissenschaftlicher Koordinator des Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN) an der Universität Erlangen-Nürnberg.