Das Konzept der Autonomie der Migration überdenken?

Yes, please!

Stephan Scheel

Abstract Due to the alleged capacity of the European border regime to “keep out” refugees from war-torn countries like Syria, there have been calls to qualify or to recall the autonomy of migration approach (AoM). While the reason for these calls has been revealed as a chimera in 2015 by the “long summer of migration”, this article argues that calls to qualify or recall the AoM reduce the latter to the thesis of an uncontrollability of migratory practices. Starting from an understanding of the AoM as a heuristic model that permits to theorise and investigate border regimes from the perspective of migration and the political struggles implicated by it, the article tries to rethink the AoM in order to develop it as an approach that is no longer prone to the critique of romanticising migration. After explaining why the AoM has not lost any of its analytical and political merit, the article evaluates the criticisms that have been raised against this approach. The final part of this article tries to address these criticisms through a reading of the AoM that is based on two interrelated concepts: a relational understanding of autonomy as a relation of conflict between migration and the attempts to control it and migrants’ practices of appropriation, who initiate this relation of conflict within contemporary border regimes through their attempts to take what these apparatuses of control are meant to deny them.


Keywords Handlungsmacht, Aneignung, Autonomie, Grenzspektakel, Situierte Analyse


Vor nicht allzu langer Zeit wurde im kritnet die Frage aufgeworfen, ob es angesichts der derzeitigen Situation an den EU-Außengrenzen nicht notwendig sei, die These der Autonomie der Migration zu überdenken. Der Anlass für diese Frage waren die über zwei Millionen syrischen Geflüchteten, die vom europäischen Grenzregime anscheinend weitestgehend erfolgreich daran gehindert werden, in die EU zu gelangen.1 Mit ‚Überdenken‘ war somit eine Relativierung oder gar ein Rückruf der These der Autonomie der Migration gemeint.

Was dieser Frage zugrunde liegt, ist meiner Meinung nach jedoch ein Missverständnis, was mit Autonomie in Bezug auf Migration gemeint ist. Zwar ist es richtig, dass die zentrale These des Konzeptes den migrantischen Praktiken Momente des Exzesses und der Unkontrollierbarkeit gegenüber staatlichen Praktiken der Regulation und Kontrolle zuschreibt (Moulier Boutang 1993). Dennoch ist die Frage, ob oder ‚wie viel‘ Autonomie migrantische Praktiken im gegenwärtigen europäischen Grenzregime aufweisen, nicht nur nicht mit einem body count zu beantworten. Vielmehr ist die Frage falsch gestellt. Zumindest wenn mensch das Konzept der Autonomie der Migration nicht auf die obige These reduziert, sondern es als ein heuristisches Modell versteht, das Grenzregime aus der Perspektive der Migration und unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und politischen Kämpfe betrachtet (Bojadžijev/Karakayali 2007; Mezzadra 2011; Moulier Boutang 2007). Denn dann ist nicht mehr primär entscheidend, ob und wie viele Menschen es unautorisiert über die Grenze schaffen. Entscheidend ist vielmehr, ob und wie viele Menschen versuchen, sich innerhalb und gegen das europäische Grenzregime Mobilität anzueignen und dadurch den politischen und ökonomischen Status quo, der durch dieses Grenzregime aufrechterhalten werden soll, in Frage stellen. Solch ein Verständnis der Autonomie der Migration setzt jedoch voraus, dass mensch den Autonomiebegriff nicht einfach mit einer kompletten ‚Unabhängigkeit‘ von oder ‚Selbstbestimmung‘ trotz immer raffinierterer Mechanismen der Kontrolle gleichsetzt, sondern Autonomie als die Initiierung einer Konfliktbeziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle versteht.

Solch ein Verständnis von Autonomie erklärt nicht nur, warum das Konzept der Autonomie der Migration im gegenwärtigen Kontext nichts von seiner Erklärungskraft und seinem politischen Mehrwert eingebüßt hat. Es ermöglicht auch, die zentralen Vorwürfe zu entkräften, die dem Konzept bis heute gemacht werden. Im Folgenden will ich deshalb kurz darlegen, warum es in der gegenwärtigen politischen Konjunktur notwendiger denn je ist, das Konzept der Autonomie der Migration offensiv zu vertreten und warum es deshalb bei einem ‚Überdenken‘ des Konzeptes nur darum gehen kann, einen „zufrieden stellenden theoretischen Rahmen [zu entwickeln], der uns erlaubt, ‚Autonomie der Migration‘ als einen Ansatz vorzustellen, der nicht zu einer Romantisierung von Migration führt“ (Mezzadra 2010).

Auf der Suche nach der Vierten Dimension: Autonomie der Migration? — Jetzt erst recht!

Hinsichtlich der Frage, warum es in der derzeitigen politischen Konjunktur weiterhin wichtig und richtig ist, den Ansatz der Autonomie der Migration offensiv zu vertreten, lässt sich zunächst feststellen, dass es ein gutes Mittel gegen das Grenzspektakel bereitstellt, das leider nicht nur die mediale Berichterstattung, sondern auch einen Großteil der akademischen Forschung dominiert. Das problematische an dieser Art von Forschung ist, dass der Fokus auf sichtbare Formen des unautorisierten Grenzübertritts und auf das Spektakel der militarisierten Grenzkontrolle „eine Konstellation von Bildern und diskursiven Formationen zu generieren hilft, die migrantischer ‚Illegalität‘ den Anschein eines objektiven Faktums verleihen“ (De Genova 2013: 1830).2 Daher ist es wichtig, nicht durch die eigene forschungs-aktivistische Praxis zu diesem Grenzspektakel beizutragen.

Das Konzept der Autonomie bietet hier ein wertvolles Korrektiv. Zum einen ermöglicht es die Einnahme der Perspektive der Migration (Moulier Boutang 2007), die Mechanismen in den Mittelpunkt zu stellen, durch die Migrant*innen überhaupt erst zu ‚Illegalen‘ gemacht und zu immer riskanteren Formen der Migration gezwungen werden. Im Fokus stehen nicht mehr die Versuche des ‚illegalen‘ Grenzübertritts, versteckt in Containern oder in überfüllten Booten, sondern z.B. das restriktive Schengener Visaregime, dass diese und andere Formen des unautorisierten Grenzübertritts überhaupt erst provoziert. Denn die mit Einnahme der Perspektive der Migration verbundene Forschungspraxis, Migrierende als zentrale Akteure des Migrationsgeschehens zu begreifen und ihre grenzüberschreitenden Praktiken und Projekte in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen, führt schnell zu der banalen Einsicht, dass ‚illegale Migration‘ kein Naturphänomen ist, sondern im Zusammenprall von migrantischen Praktiken der Aneignung und einem komplexen Gefüge aus restriktiven Gesetzen, Abschiebedispositiv usw. entsteht. Das Konzept der Autonomie der Migration lädt dazu ein, diese Mechanismen der Illegalisierung und ihre realen Effekte durch die Einnahme der Perspektive der Migration sichtbar und damit zugleich kritisierbar und politisch angreifbar zu machen.

Zum anderen führt der Ansatz, Migration unter dem Gesichtspunkt der sozialen und politischen Kämpfe zu betrachten (Bojadžijev/Karakayali 2007; Mezzadra 2010), unweigerlich zu der Einsicht, dass migrantische Kämpfe zumeist an alltäglicheren Orten stattfinden und weniger spektakulär sind, als es reißerische Medienberichte erwarten lassen: in den Büros der lokalen Ausländerbehörde, an den Schaltern von Konsulaten, aber auch in Verhandlungen mit Arbeitgeber*innen sowie in den Schlafzimmern von binationalen Paaren, wo Migrierende bei einem heftigen Streit mit ihrem ‚Schatz‘ nicht nur ihre Beziehung, sondern auch ihre Aufenthaltserlaubnis riskieren. Der Ansatz der Autonomie der Migration erlaubt es nicht nur, diese weniger spektakulären migrantischen Kämpfe in den Blick zu nehmen. Er erlaubt es auch, in diese Kämpfe zu intervenieren, indem Prozesse der graduellen Entrechtung und selektiven Inklusion aus Perspektive der migrantischen Subjekte sichtbar gemacht und zur Disposition gestellt werden. Dies ist insbesondere im gegenwärtigen migrationspolitischen Kontext wichtig, in dem Migration entweder, wie in den Debatten um die Seenotrettung im Mittelmeer, als ein ‚humanitäres Grenzspektakel‘ (Cuttitta 2014) oder aber als ein Problem der Kriminalitätsbekämpfung inszeniert und dadurch entpolitisiert wird.

In diesem Kontext stellt das Konzept der Autonomie der Migration ein alternatives Vokabular bereit, um über Migration jenseits der etablierten Diskursparameter nachzudenken und zu sprechen. Diese Diskursparameter offenbaren sich derzeit in der Berichterstattung über die Migration in überfüllten Booten über das Mittelmeer. Abhängig von der politischen Ausrichtung des Mediums werden die Migrierenden entweder als ‚Flüchtlinge‘ oder ‚Illegale‘ bezeichnet. Diese Strategien der Viktimisierung und der Kriminalisierung werden durch solche der Kommodifizierung ergänzt. Letztere manifestieren sich derzeit insbesondere in Regimen der ‚zirkulären Migration‘. Diese versuchen, Migrant*innen durch die Kopplung ihres Aufenthaltsstatus an die Dauer ihres Arbeitsvertrages auf die Rolle von flexiblen, gefügigen Arbeitskräften zu reduzieren.

Aller Unterschiede zum Trotz weisen diese Strategien eine Gemeinsamkeit auf: sie zielen darauf ab, Migration zu entpolitisieren und regierbar zu machen. Sie erreichen dies, indem sie Migrant*innen entweder auf ihre Arbeitskraft, auf hilfebedürftige Opfer oder aber auf gerissene Schurken reduzieren. Diese Strategien führen dazu, die subjektiven Hoffnungen, Wünsche und Träume zu ignorieren, die die Migrierenden mit ihren Migrationen verfolgen. Indem sie Migrationen ihr „subjektives Gesicht“ (Bojadžijev/Karakayali 2007: 212) nehmen, berauben Strategien der Viktimisierung, Kriminalisierung und Kommodifizierung von ihnen verhandelte Migrationen zugleich ihrer politischen Dimension. Denn es sind diese subjektiven Hoffnungen, Wünsche und Träume, die die Versuche der Migrant*innen antreiben, sich Mobilität innerhalb und gegen das europäische Grenzregime anzueignen und es dadurch unmittelbar in Frage und politisch zur Disposition zu stellen.

Gegenüber diesen Strategien der Entpolitisierung und des Regierbarmachens betont der Ansatz der Autonomie der Migration das subjektive Moment (und damit zugleich die politische Dimension) der Migration (Bojadžijev/Karakayali 2007; Mezzadra 2011). Denn Migration weist nur deshalb Momente der Unkontrollierbarkeit und des Exzesses auf, weil sie sich aus einer ungeheuren Vielfalt von subjektiven Praktiken und Entscheidungen speist, die sich nicht auf ein paar ‚objektive‘ Push- und Pull- Faktoren reduzieren lassen. Es sind somit die subjektiven Wünsche und Begehren von Migrierenden und die ungeheure Vielfalt der Praktiken, mit denen sie versuchen, diese zu realisieren, welche Migration ihre Momente der Unkontrollierbarkeit gegenüber Versuchen der Regulation und Kontrolle verleihen (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008). Aus diesem Grund nimmt das Konzept der Autonomie der Migration Migrant*innen als zentrale Akteure des Migrationsgeschehens ernst. Denn sie sind es, die Migrations- und Grenzregime zu einem Terrain von politischen Kämpfen um die graduelle Verweigerung und direkte Aneignung von Mobilität und anderen Ressourcen machen. Diese Kämpfe sind politisch, weil sie den Zugang zu Mobilität betreffen, der wie Zygmunt Bauman gezeigt hat, im Zuge der Globalisierung zum wichtigsten Faktor der Stratifizierung des Sozialen geworden ist (Bauman 1998). Daher ermöglicht das Konzept der Autonomie der Migration es z.B., die als ‚Sozialtourismus‘ stigmatisierte Migration aus Südeuropa als praktische Aneignung genau der Sozialleistungen und Zukunftsmöglichkeiten zu verstehen, derer die Menschen durch die harte Sparpolitik beraubt wurden, die in das EU-Projekt in Form der Stabilitätskriterien eingeschrieben ist (Scheel 2014). Mit anderen Worten fordert das Konzept der Autonomie der Migration dazu auf, Migration selbst als eine politische Praxis zu verstehen, die den sozialen und ökonomischen Status quo unmittelbar in Frage stellt.

Damit bietet das Konzept der Autonomie der Migration die Möglichkeit, migrantische Praktiken der Aneignung zum zentralen Bezugspunkt für eine offensive antirassistische Politik zu machen, die ihre Forderungen und Kampagnen nicht länger rein defensiv an den Konturen eines vermeintlich omnipotenten Grenzregimes ausrichtet, sondern nur die Anerkennung dessen fordert, was ohnehin jeden Tag stattfindet: die Aneignung von Mobilität und Aufenthalt durch Millionen von Migrant*innen (Bojadžijev/Karakayali/Tsianos 2001). Dass dieses Potential bislang noch nicht verwirklicht wurde, liegt vor allem in Schwachstellen des Konzeptes der Autonomie der Migration selbst begründet.

Autonomie oder Romantisierung der Migration?

Bis heute wird dem Konzept der Autonomie der Migration der Vorwurf gemacht, es würde Migration romantisieren. Romantisierung meint hier, der Ansatz der Autonomie der Migration würde die Bedingungen, unter denen Migrationen stattfinden, sowohl beschönigen als auch ungerechtfertigterweise vereinheitlichen. Diese beiden Kritiken weisen auf zwei miteinander zusammenhängende Schwachstellen hin, wie ich im Folgenden kurz zeige (für eine detailliertere Fassung der folgenden Argumente siehe: Scheel 2013a).

Zum einen wird Vertreter*innen der Autonomie der Migration vorgeworfen, sie würden die Implikationen von immer restriktiveren Grenzkontrollen herunterspielen (Alabi et al. 2005). Vergegenwärtigt man sich, dass das Ansinnen der Autonomie der Migration darin besteht, der Interpretation von Grenzen als den Mauern einer Festung sowie der damit einhergehenden Repräsentation von Migrant*innen als hilfebedürftigen Subjekten etwas entgegenzusetzen, dann erscheint das Beharren auf der Fähigkeit von Migrant*innen, auch die restriktivsten Grenzregime unterwandern zu können, durchaus sinnvoll und konsistent.

Dennoch riskiert das Beharren auf der migrantischen Fähigkeit, auch die restriktivsten und technisch versiertesten Grenzregime unterwandern zu können, Migration zu romantisieren, wenn es nicht auch die Konzessionen und Kompromisse berücksichtigt, die Migrierende, neben der Möglichkeit des Scheiterns, dabei in Kauf nehmen müssen. Pauschale Behauptungen wie die, dass „die Sicherheitsmaßnahmen von Schengen die Möglichkeiten ihrer Überwindung selbst hervorbringen“ (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008: 166)3 tun dies jedenfalls nicht. Sie tragen auch nichts zur Klärung der Frage bei, wie Momente der Unkontrollierbarkeit migrantischer Praktiken denn innerhalb technisch immer versierterer Grenzregime entstehen. Bislang wurde die These der Autonomie der Migration immer nur als eine generelle Behauptung formuliert: Momente der Unkontrollierbarkeit migrantischer Praktiken scheinen in jedem Grenzregime zu existieren, und dies unabhängig von seiner praktischen, juridischen und technologischen Ausgestaltung. Es ist jedoch fraglich, ob dem durchaus sinnvollen Ansinnen, mit dem Konzept der Autonomie der Migration eine Alternative zur Metapher der ‚Festung‘ zu entwickeln, mit pauschalen Formulierungen ein Gefallen getan wird, die einfach das Gegenteil behaupten, sich jedoch bezüglich der restriktiven Effekte von technisch immer versierteren Grenzkontrollen ausschweigen. Die bisherigen Debatten zeigen, dass undifferenzierte Formulierungen eher Abwehrreaktionen und berechtigte Kritiken provozieren. Was dem Ansatz der Autonomie der Migration fehlt, ist ein konzeptueller Rahmen, mit dem sich durch eine situierte Analyse herausarbeiten lässt, ob und wie Momente der Unkontrollierbarkeit migrantischer Praktiken, d.h. Momente der Autonomie der Migration, innerhalb bestimmter Grenzregime entstehen.

Auf diese Schwachstelle deutet auch der zweite Kritikpunkt hin, demzufolge das Konzept der Autonomie der Migration nicht ausreichend die unterschiedlichen Bedingungen berücksichtigt, unter denen Migration stattfindet (Omwenyeke 2004). Martina Benz und Helen Schwenken verorten diese Schwäche im Begriff der Autonomie selbst. Demnach reduziere der Autonomiebegriff Migrant*innen auf ein kollektives, Kontrollpraktiken unterwanderndes Subjekt. Was unberücksichtigt bleibe, seien die recht unterschiedlichen Subjektpositionen von Migrant*innen sowie die Privilegien und Zwänge, die mit diesen Subjektpositionen verknüpft sind. Deshalb schlagen sie vor, mit den Konzept der triple oppression zu untersuchen, wie sich die kombinierten, individuell variierenden Effekte von rassistischen, kapitalistischen und sexistischen Machtverhältnissen jeweils auf bestimmte Migrationsprojekte auswirken (Benz/Schwenken 2005).

Diese Kritik haben Vertreter*innen der Autonomie der Migration zurückgewiesen. Ihnen zufolge zeigt sich in Benz und Schwenkens Kritik ein „naiver Empirismus des Subjekts“, der „eine situierte Analyse des Grenzregimes aus Perspektive der Migration“ mit einer „empirischen Untersuchung migrantischer Subjektivitäten“ verwechselt (Hess/Tsianos 2010: 243). Für sie bedeutet eine situierte Analyse von Grenzregimen aus Perspektive der Migration, Grenzregime aus der „Perspektive grenzüberschreitender Biographien und Aktivitäten“ zu konzipieren und dadurch „Praktiken der Migration (damit gemeint sind Diskurse, Machtverhältnisse und Politikformen und nicht nur die ‚empirischen‘ Praktiken der MigrantInnen) in einer Theorie der ‚Autonomie der Migration‘ einzubeziehen“ (Hess/Tsianos 2010: 244). Mit der Unterscheidung zwischen „Praktiken der Migration“ und „Praktiken der Migrant*innen“ versuchen sie zu betonen, dass Momente der Autonomie der Migration sich nur an einer Vielzahl von Migrationsbewegungen zeigen und daher nicht am Erfolg oder Scheitern individueller Migrationsprojekte festmachen lassen.

Die „Praktiken der Migration“ zum Ausgangspunkt einer situierten Analyse von Grenzregimen aus Perspektive der Migration zu erklären, birgt jedoch die Gefahr, die Praktiken und gelebten Erfahrungen „von Hunderten von Millionen von Menschen, die migrieren“ unter der subjektlosen Abstraktion ‚Migration‘ zu subsumieren, wie Nandita Sharma (2009: 474) angemerkt hat.4 Sharma und andere Kritiker*innen fordern erstens eine stärkere Berücksichtigung der Unterschiede zwischen migrantischen Kämpfen und Praktiken und, zweitens, anzuerkennen, dass sich diese Unterschiede vor allem aus der irreduziblen Vielfalt migrantischer Subjektpositionen speisen, die Migrant*innen aufgrund von verschiedenen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen inne haben (vgl. ebd.). Im Ansatz der Autonomie der Migration muss deshalb stärker als bislang die Einsicht betont werden, dass Migration ein verkörperter Prozess ist und dass es immer ein bestimmter menschlicher Körper ist, der migriert, ein Körper, der in kapitalistische, rassistische und sexistische Machtverhältnisse eingeschrieben ist. Dafür bedarf es jedoch der Entwicklung von Konzepten, die zwischen den subjektiven Praktiken bestimmter, verkörperter Subjekte und der Behauptung einer abstrakten Autonomie der Migration vermitteln.

Aneignung gefällig? Autonomie der Migration Reloaded5

Abschließend möchte ich hier eine Lesart der Autonomie der Migration skizzieren, die den Vorwurf der Romantisierung entkräftet. Die folgenden Ausführungen müssen im Rahmen dieser kurzen Intervention dabei leider notwendigerweise fragmentarisch und abstrakt bleiben.6

Um dem Vorwurf zu begegnen, der Ansatz der Autonomie der Migration würde die Implikationen von immer restriktiveren Grenzkontrollen ignorieren, ist es zunächst wichtig, wie eingangs angedeutet ein relationales Verständnis von Autonomie zu entwickeln. Zwar haben Vertreter*innen des Konzeptes der Autonomie der Migration immer wieder betont, dass Autonomie keine vollständige ‚Selbstregierung‘ oder ‚Unabhängigkeit‘ gegenüber Versuchen der Regulation und Kontrolle meint. So betonen Mitglieder der Forschungsgruppe Transit Migration in ihren Thesen zur Autonomie der Migration: „Von der Bewegung der Migration und ihrer Autonomie zu sprechen, bedeutet demnach nicht, sie als von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt oder gar enthoben zu denken. Migrationen existieren vielmehr als konkrete, in Macht- und Herrschaftsverhältnissen verwickelte Praktiken“ (Bojadžijev/Karakayali 2007: 214). Dennoch wurde in den nachfolgenden Debatten deutlich, dass der Autonomiebegriff häufig als Selbstbestimmung frei von jeglichen Effekten des Regierens missverstanden wird. Um dieses Missverständnis zu vermeiden, ist es notwendig, eine Lesart des Autonomiebegriffs zu entwickeln, die zweifelsfrei über das Alltagsverständnis von Autonomie als einer Art ‚Unabhängigkeit‘ oder reiner ‚Selbstbestimmung‘ hinausgeht.

Für das Gelingen dieses Vorhabens ist es zunächst essentiell, Abstand vom liberalen Verständnis von Autonomie zu nehmen. Denn im liberalen Verständnis bezeichnet Autonomie die Erlangung des ‚freien Willens‘ durch die Beherrschung der eigenen (irrationalen) Gefühle und Leidenschaften, steht also genau für die Konnotation von ‚Selbstregierung‘, die es zu vermeiden gilt. Denn im Kontext von Grenzregimen, die in ihrer Ausdehnung global (mensch denke nur an den Global Approach to Migration der EU7) und operativ darauf ausgerichtet sind, unerwünschte Migrationen präventiv zu verhindern, macht ein solches Verständnis von Autonomie als vollständiger ‚Selbstregierung‘ oder ‚Unabhängigkeit‘ gegenüber Versuchen der Regulation und Kontrolle schlichtweg keinen Sinn. Da Bewegungsfreiheit seit dem Westfälischen Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt, sondern eine Frage der richtigen Papiere ist, sind Menschen heutzutage gezwungen, sich Mobilität innerhalb und gegen diese Sicherheitsdispositive anzueignen. Unter diesen Umständen scheint es sinnvoll, den Vorschlag von Ranabir Sammadar aufzugreifen und Autonomie als „das Andere der Gouvernementalität“ (2005: 10) zu denken. Autonomie bezeichnet demnach keine Eigenschaft, die migrantischen Subjekten oder sozialen Prozessen wie Migration inhärent ist, sondern eine Beziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle durch immer komplexere Regierungsapparate. In diesem Sinne möchte ich vorschlagen, unter Autonomie der Migration die Initiierung einer tendenziell unauflösbaren Konfliktbeziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle zu verstehen, die durch migrantische Praktiken der Aneignung im Grenzregime initiiert wird.

Diese Lesart betont, dass Momente der Unkontrollierbarkeit und des Exzesses migrantischer Praktiken, d.h. Momente der Autonomie der Migration, nicht in Isolation von den Grenz- und Migrationsregimen gedacht werden können, innerhalb derer sie entstehen. Damit bricht diese Lesart eindeutig mit einer Interpretation des Autonomiebegriffs als reiner ‚Selbstbestimmung‘, aus der sich die Kritik speist, das Konzept der Autonomie der Migration würde die Implikationen von immer raffinierteren Regierungspraktiken ignorieren.

Das zweite Konzept, dass dieser Kritik begegnet, ist das der Aneignung. Praktiken der Aneignung sind untrennbar mit den operativen Logiken, Methoden und Akteuren der Grenz- und Migrationskontrolle verwoben. Genauer gesagt beruhen Praktiken der Aneignung auf Zweckentfremdung, denn sie versuchen, die Instrumente, Akteure und Methoden der Kontrolle in Mittel der Aneignung von Mobilität zu rekodieren. Dieses Rekodieren ist möglich, weil Grenz- und Migrationsregime versuchen, Migrierende zu Komplizen ihrer Kontrolle zu machen. Grenzschützer*innen und andere Akteure der Kontrolle stellen Fragen und verlangen Papiere. Doch es sind Migrant*innen, die diese Fragen beantworten und Papiere vorweisen. Es ist diese Verteilung von Handlungsmacht, die Praktiken der Aneignung möglich macht. Doch aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse, die Situationen der Grenz- und Migrationskontrolle kennzeichnen, spielt sich dieses Rekodieren zumeist im Verborgenen ab. Denn Praktiken der Aneignung operieren — wie die von Michel de Certeau (1984: 37) beschriebenen Taktiken — in einer Umgebung, die sie selbst nicht definiert haben. Anstatt die formalen und informellen Regeln, Regularien und Normen von Grenz- und Migrationsregimen offen herauszufordern, beruhen Praktiken der Aneignung darauf, eine strikte Befolgung dieser Regeln, Normen und Regularien zu simulieren, aber nur, um sie heimlich zu überschreiten und zu brechen. Ironischerweise entstehen Momente der Unkontrollierbarkeit migrantischer Praktiken also genau dann, wenn es Migrant*innen gelingt, eine überzeugende, fast schon unterwürfige Konformität mit den offiziellen und informellen Regeln und Normen des Grenzregimes vorzuspielen.

Damit stellt Aneignung ein Konzept bereit, dass zwischen den subjektiven Praktiken bestimmter, verkörperter Migrant*innen und der Behauptung einer abstrakten Autonomie der Migration vermittelt. Denn Momente der Unkontrollierbarkeit und des Exzesses lassen sich nunmehr nicht nur in einer abstrakten, dynamischen Kraft namens Migration verorten, sondern in den subjektiven Praktiken von verkörperten Migrant*innen nachweisen. Was für Praktiken ein*e Migrant*in jedoch anwendet, um sich Mobilität und andere Ressourcen anzueignen, hängt von ihrer Subjektposition und den damit verbundenen Diskriminierungen und Privilegien als auch der Beschaffenheit der Mittel und Methoden der Kontrolle ab, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Eine situierte Analyse von Grenzregimen aus der Perspektive der Migration muss also die Situationen zum Ausgangspunkt machen, in denen Migrierende auf die Mechanismen und Akteure der Kontrolle treffen und versuchen, diese in Mittel und Wege der Aneignung zu rekodieren (Scheel 2013b).

Alle Praktiken der Aneignung haben unabhängig von ihrer Form gemeinsam, eine tendenziell unlösbare Beziehung des Konflikts zwischen Migration und den Versuchen ihrer Regulation und Kontrolle zu initiieren. Sie tun dies, indem sie die offiziellen und informellen Regeln und Normen, mit denen das Verhalten der Migrierenden gesteuert werden soll, wenn auch heimlich, umgehen oder überschreiten. Ohne die Versuche von Migrant*innen, sich Mobilität und andere Ressourcen anzueignen, würde es weder Kämpfe der Migration noch Momente der Unkontrollierbarkeit migrantischer Praktiken geben, sondern nur reibungslos funktionierendes ‚Migrationsmanagement‘. Hier zeigt sich die politische Qualität von Praktiken der Aneignung. Denn letztere stellen eine gelebte Praxis der Selbstermächtigung dar, die nicht nur den ökonomischen und sozialen Status quo, sondern auch die Autoritäten, die diesen überwachen und aufrecht erhalten, unmittelbar in Frage stellt.

Die von Praktiken der Aneignung initiierte Beziehung des Konflikts zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle manifestiert sich in einer Serie von Kämpfen, in denen es um die direkte Aneignung und selektive Verweigerung von Mobilität und anderen Ressourcen geht. Diese zumeist wenig spektakulären Kämpfe werden in den verkörperten Begegnungen von Migrant*innen mit den Akteuren und Methoden der Grenz- und Migrationskontrolle ausgetragen. Durch die militante Untersuchung dieser Begegnungen ist es möglich, diese migrantischen Kämpfe zu erforschen und sichtbar zu machen (ebd.). Diese Kämpfe weisen eine Eigendynamik auf, die aus der irreduziblen Ambivalenz von Praktiken der Aneignung resultiert. Da letztere auf der Rekodierung der Mittel, Akteure und Methoden der Kontrolle in Mechanismen der Aneignung beruhen, erfordern Praktiken der Aneignung Konzessionen und Kompromisse auf Seiten der Migrierenden. Denn diese können die Mittel und Methoden niemals vollständig für ihre Zwecke usurpieren. Deshalb resultieren Praktiken der Aneignung in Ergebnissen, die polyvalent, partial und umstritten sind und weitere Kämpfe um die direkte Aneignung und selektive Verweigerung von Mobilität und anderen Ressourcen provozieren. Es ist diese selbstperpetuierende Dynamik der von Praktiken der Aneignung getragenen migrantischen Kämpfe, die den Konflikt zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle zu einem tendenziell unlösbaren Konflikt macht. Und es ist die Betonung der Ambivalenz migrantischer Praktiken der Aneignung, die es in Verbindung mit einem relationalen Autonomiebegriff erlaubt, die Autonomie der Migration als einen Ansatz zu vertreten, der die politische Dimension der Migration betont, ohne sie zu romantisieren.

Danksagung

Hiermit möchte ich bei der Movements Redaktion dieser Ausgabe und insbesondere bei Helge Schwiertz und Maurice Stierl für die gute Betreuung, das Korrekturlesen und die konstruktiven Verbesserungsvorschläge bedanken. Ohne euch wäre der Artikel anders, aber nicht besser geworden. Das Schreiben dieses Artikels wurde zudem finanziell durch den European Research Council (ERC) Consolidator Grant (Agreement no. 615588) des Siebten EU Forschungsrahmenprogramms (FP/2007-2013) unterstützt. Principal Investigator, Evelyn Ruppert, Goldsmiths, University of London.

Literatur

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  • Volume: 1
  • Issue: 2
  • Year: 2015


Stephan Scheel arbeitet derzeit als Post-Doc am Goldsmiths College in London. Dort erforscht er im Kontext des Forschungsprojekts „ARITHMUS – How Data Make a People“, wie sich Veränderungen in statistischen Methoden auf die Konstituierung von Bevölkerungen als Objekten des Regierens auswirken. Im kommenden Jahr wird seine Doktorarbeit unter dem Titel Autonomy of Migration Reloaded: Appropriating Mobility within Biometric Border Regimes als Buch erscheinen.