Justice for Janitors? MarktbĂŒrgerschaft, FreizĂŒgigkeit und EU-Migrantinnen im Arbeitskampf

Einblicke in ein aktivistisches Forschungsprojekt

Lisa Riedner

Abstract This article takes the specific labour struggle of four Bulgarian janitors in Munich as a starting point. It explores the antagonistic relation between attempts of governing and the imperceptible and representational politics of migrant workers, arguing that this specific struggle for unpaid wages can only be understood as part of a chain of struggles for better living and working conditions and against racism and overexploitation. The transnational migration project of the four women spans more than twenty years and involves going through a variety of statuses (i.e. asylum, visa, undocumented, EU-citizen). Today, their struggles point to powerful governmental attempts to shape European citizenship according to the economic rationales of ‘workfare’. By stressing the ambivalence of migration and living labour, the article sheds light on the entanglement between the European migration and border regime and the current conjuncture of capitalism while at the same time aiming to go beyond economistic and determinist logics.


Keywords Arbeitskampf, UnionsbĂŒrgerschaft, FreizĂŒgigkeit, lebendige Arbeit, Rassismus


Einleitung

Es geht um 2.374 Euro. Vier Reinigungsarbeiterinnen aus Bulgarien haben ihren ehemaligen Arbeitgeber auf vorenthaltenen Lohn verklagt. In wenigen Minuten beginnt der erste Gerichtstermin vor dem Arbeitsgericht MĂŒnchen und die vier KlĂ€gerinnen werden ihrem ehemaligen Arbeitgeber entgegentreten. Ihre Anwesenheit ist zwar nicht ausdrĂŒcklich verlangt, aber sie haben sich trotzdem entschlossen, gemeinsam mit UnterstĂŒtzerinnen an dem Prozess teilzunehmen, um ihrer Klage Nachdruck zu verleihen. Es liegt Spannung in der Luft, aber wir unterhalten uns und lachen. Das Sicherheitspersonal, das uns schmunzelnd durch die Sicherheitsschleuse lotst, wirkt auf mich ĂŒberrascht und vielleicht sogar erfreut, einer Gruppe von acht scherzenden Frauen in den sterilen Hallen des Arbeitsgerichts zu begegnen. Das gemeinsame Lachen bricht mit der Ernsthaftigkeit und entzieht sich der Ehrfurcht, die die Institution Gericht gebietet. Im Vorraum treffen wir die AnwĂ€ltin. Sie fragt die KlĂ€gerinnen auf TĂŒrkisch, ob sie gegebenenfalls mit einem Vergleich einverstanden wĂ€ren. Ihrer EinschĂ€tzung nach wĂŒrde der Richter vorschlagen, dass der Unternehmer einen Teil des eingeklagten Betrages zahlen und die Frauen die Klage einstellen sollten. Sie stimmen zu, denn sie brĂ€uchten das Geld sehr dringend.

Ich begreife in diesem Artikel den Arbeitskampf der vier Frauen als Aushandlungsraum, in dem sich verschiedene Konfliktlinien verschrÀnken.1 Sie treten nicht nur dem sÀumigen Arbeitgeber entgegen, sondern treffen auf vielfÀltige Praktiken der Aus- und Eingrenzung, der Enteignung und Ausbeutung, der Normierung und Subjektivierung. Wie wir sehen werden, sind sie dabei nicht einfach Opfer, sondern handeln als aktive Akteure.

Um diesen Aushandlungsraum besser verstehen zu können, gehe ich ein auf ihre ArbeitsverhÀltnisse im Reinigungsgewerbe sowie auf ihr transnationales Migrationsprojekt, das sie durch zwanzig Jahre der (neo-)liberalen EuropÀisierung und postsozialistischen Transformationen vorantreiben. Es zeigt sich, dass der Arbeitskampf der Migrantinnen nur als Teil einer Kette von KÀmpfen um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verstehen ist.

Die KĂ€mpfe der Frauen stellen allerlei nicht nur in der Wissenschaft sedimentierte Vorstellungen in Frage, indem sie die Trennung zwischen Migration nach Europa und innereuropĂ€ischer MobilitĂ€t, zwischen legaler und undokumentierter Arbeit, ‚illegalen‘ und legalen Migrant*innen, zwischen dem Innen und Außen Europas durchbrechen.2

Der mit dem Arbeitskampf der vier UnionsbĂŒrgerinnen positionierte Blick (Haraway 1988) ermöglicht es, die gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse der Arbeit und Migration in Europa von ihren (inneren) Grenzen aus zu befragen (Mezzadra/Neilson 2013). Mit dieser positioniert-spezifischen Analyse möchte ich zum VerstĂ€ndnis des europĂ€ischen BĂŒrgerschafts-, Migrations- und Grenzregimes und dessen VerschrĂ€nkung mit aktuellen kapitalistischen Transformationen beitragen.

Auf theoretischer Ebene beziehe ich mich auf Debatten zur Perspektive der Autonomie der Migration (BojadĆŸijev/Karakayalı 2007) und auf ihren Ausgangspunkt, den Operaismus (BojadĆŸijev/Karakayalı/Tsianos 2003). Diese halten fest, dass Bewegungen der Migration und der lebendigen Arbeit eine aktive „Rolle [spielen] in der andauernden Umgestaltung der sozialen Beziehungen, welche den Kapitalismus ausmachen“ (Mezzadra 2010: 2). Zentral ist dabei die „Ambivalenz der migrantischen Praxen“ (ebd.: 3), denn sie stehen in der nicht aufzulösenden Dialektik, zugleich „Quelle der Flucht aus VerhĂ€ltnissen von Ausbeutung und UnterdrĂŒckung“, konstitutive Kraft fĂŒr „neue Formen der Vergesellschaftung“ und „Quelle der Ausbeutung“ zu sein (BojadĆŸijev/Karakayalı 2007: 215). Ausgehend von diesen Debatten suche ich nach einer Analyseperspektive auf das VerhĂ€ltnis von Migration, Ausbeutung und Prekarisierung, die ĂŒber deterministische und funktionalistische Analysen zur Ökonomie in der Migrationsforschung hinausgeht, die Frage nach der Ökonomie und Ausbeutung, bzw. den aktuellen Dynamiken und WidersprĂŒchen des Kapitalismus, aber trotzdem nicht vernachlĂ€ssigt (Mezzadra 2011, 2010).

Vor dem Arbeitsgericht

Wir betreten den Gerichtssaal. Auf der einen Seite, die etwas erhöht und von einem raumbreiten Tisch vom Rest des Saals abgegrenzt ist, sitzt schon der Richter. Die AnwĂ€ltin der KlĂ€gerinnen in schwarzer Robe und der Angeklagte Dr. Goffmann3, der sich selbst verteidigt, schauen von zwei einzelnen Tischen schrĂ€g zu ihm auf. Neben dem Unternehmer sitzt die Objektleiterin der Schule, die direkte Vorgesetzte der vier KlĂ€gerinnen. Wir setzen uns in die Stuhlreihen, die fĂŒr Zuschauer aufgestellt sind, neben eine Journalistin des Bayerischen Rundfunks, der wir zunicken.

Ines und ich begleiten die KlĂ€gerinnen Nadja, ZĂŒmbĂŒl, Bozhurka und Danka im Rahmen unserer TĂ€tigkeiten mit der Initiative Zivilcourage, einer unabhĂ€ngigen Gruppe, die in MĂŒnchen ein temporĂ€res Workers‘ Center4 betreibt. Wir unterstĂŒtzen insbesondere prekarisierte Arbeiter*innen aus Bulgarien in Konflikten mit Arbeitgeber*innen und Ämtern und organisieren gemeinsam politische Proteste.5 Das Workers‘ Center als sozialer Raum versucht Begegnungen und Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen, so dass hier auch schon viele Freundschaften entstanden sind. Auch meine Beziehung zu den KlĂ€gerinnen geht ĂŒber eine beratende und unterstĂŒtzende Funktion hinaus. Die Gruppe konnte ich im Rahmen meiner ethnographischen Promotionsforschung von 2010 bis heute mit aufbauen und forschend begleiten.

Nun geht alles sehr schnell. Der Richter legt kurz den Klageinhalt dar und bittet den Arbeitgeber um Stellungnahme. Dieser, ein weißer Mann um die 60 im Rollstuhl, erklĂ€rt mit ruhiger Stimme, er könne sich die Forderungen nicht erklĂ€ren, „weil wir nachweisen können, dass wir jede gearbeitete Stunde gezahlt haben“. Sein nĂŒchterner und eloquenter Auftritt wĂŒrde auf mich wohl sehr glaubhaft wirken, wĂ€re ich nicht von der Darstellung der KlĂ€gerinnen ĂŒberzeugt und wĂŒsste, dass ein solcher Betrug gĂ€ngige Praxis in der Reinigungsbranche ist.

Das Verhalten Dr. Goffmanns wird kontrastiert von GeflĂŒster, Kichern und Handyklingeln im Zuschauerraum. Wir flĂŒstern uns Kommentare ĂŒber den Unternehmer und die Objektleiterin zu. Immer wieder versuche ich, mit einigen Worten das Geschehen ins TĂŒrkische zu ĂŒbersetzen. Zwischendurch wendet sich der Richter verĂ€rgert an uns im Zuschauerbereich und erklĂ€rt, es handle sich um ein Gerichtsverfahren und die Zuhörer hĂ€tten sich still zu verhalten. Ich ĂŒbersetze dies, dann verstummen wir. Nach einer kurzen Weile des Schweigens unter dem strafenden Blick des Richters verstehe ich, dass er eine Antwort erwartet. Ich sage mit einem herausfordernden Ton in der Stimme „Ja, verstanden“ — und komme mir vor wie in der Schule. Das letzte Mal hatte mich ein Lehrer auf diese Art und Weise zurechtgewiesen, als ich mich im Unterricht fehl benahm.

Dr. Goffmann aber bringt sein kulturelles Kapital positiv im Sinne der impliziten Verhaltensregeln zur Geltung. Er lehnt die Forderungen nicht nur rundweg ab, sondern stellt auch mit verschiedenen Mitteln die GlaubwĂŒrdigkeit der KlĂ€gerinnen in Frage. Die Stundenzettel seiner ehemaligen Angestellten nennt er „Notizen, die sehr durcheinander sind“. Sie hĂ€tten zudem den Hausmeister verĂ€rgert, weil sie wĂ€hrend der Arbeitszeit herumgesessen seien. Dann bezeichnet er sie noch als „verschworenen Familienclan“ und bringt wie nebenbei ein Beispiel, das verdeutlicht, was er inhaltlich mit der Bezeichnung ‚Clan‘ verbindet. Seine Firma hĂ€tte eine der Frauen weiter beschĂ€ftigen wollen, um ihr „noch eine Chance zu geben“. Diese habe aber abgelehnt mit der BegrĂŒndung, sie könne sich ihrer Familie — sprich: ihrem ‚Clan‘ — „nicht widersetzen“, sie mĂŒsse „sich beugen“.

Zum Ende der Verhandlung kĂŒndigt der Richter entgegen der ErsteinschĂ€tzung der AnwĂ€ltin an, zu einer Beweisaufnahme einzuladen, da keine Einigung in Sicht sei. Er ist sichtlich verĂ€rgert. Eine der zwei Parteien mache sich hier der Falschaussage schuldig und er werde nicht zögern, diese strafrechtlich zu verfolgen. Nach etwa 15 Minuten ist der Termin beendet.

Danach treffen sich die KlĂ€gerinnen, ihre Begleiterinnen und die AnwĂ€ltin zu einem kurzen GesprĂ€ch im Eingangsbereich des GerichtsgebĂ€udes. Die AnwĂ€ltin schĂ€tzt die Lage sehr kritisch ein, da der Arbeitgeber und die Objektleiterin glaubwĂŒrdig auftrĂ€ten und die KlĂ€gerinnen wenig belastbare Beweise hĂ€tten. Außerdem hĂ€tten wir uns durch unser auffĂ€lliges Verhalten im Gerichtssaal beim Richter jetzt schon unbeliebt gemacht. Wenn die Frauen ihre Anklage nicht glaubhafter machen können als der Arbeitgeber seine Verteidigung, mĂŒssen sie nicht nur mit einer Niederlage und dem Verlust des ausstehenden Lohns rechnen, sondern gar mit strafrechtlichen Konsequenzen.

Die KlĂ€gerinnen sind erbost. Dr. Goffmann habe dreist gelogen. Er habe sie beleidigt und beschĂ€mt. Sie wĂŒrden die Klage auf keinen Fall fallen lassen.

VerschrÀnkte MachtverhÀltnisse

Diese etwa 20-minĂŒtige, konfliktive Situation vor Gericht gibt einen kleinen Einblick in die vielfĂ€ltigen Strategien und Praktiken der Frauen, um „[n]icht dermaßen regiert“ (Foucault 1992) und nicht auf diese Weise ausgebeutet zu werden. Gleichzeitig zeigt sich schon im Setting des Arbeitsgerichtes die Vielschichtigkeit und KomplexitĂ€t der Versuche des Regierens, die auch dann ausgrenzend und disziplinierend wirken, wenn Personen durchaus Rechte haben und fĂŒr sie eintreten. Das Arbeitsgericht kanalisierte den Arbeitskampf in die Raster der Rechtsform sowie des bĂŒrgerlich-disziplinierten und deutschsprachigen Settings, innerhalb dessen ihr — bzw. unser — Auftreten als ungenĂŒgend markiert wurde.6 Aus einer klassenanalytischen Perspektive werden die Ausbeutungs- bzw. KlassenverhĂ€ltnisse hier auch dadurch fortgeschrieben, dass sich die Frauen als Angehörige des (Lumpen-)Proletariats zu erkennen geben, weil sie sich nicht so verhalten ‚wie es sich gehört‘. Das sehr souverĂ€ne Auftreten des Arbeitgebers hingegen wird honoriert.

Wie diese institutionalisierte Form des Disputs von rassistischen Logiken und MachtverhĂ€ltnissen durchkreuzt ist, lĂ€sst sich an der Verwendung des Begriffs ‚Clan‘ festmachen, mit dem der Beklagte die KlĂ€gerinnen markiert. Das Wort ‚Clan‘ steht als rassistische, antiziganistische Kennzeichnung in der NĂ€he zu ‚Mafia‘, organisierter KriminalitĂ€t und Bildern ‚vormoderner‘ Gesellschaft (End 2014). Dr. Goffmann untergrĂ€bt die individuelle Vernunft und Freiheit der Frauen, indem er eine Art vormodernen Gruppenzwang skizziert, dem die einzelnen in dem ‚Clan‘ unterliegen wĂŒrden. Durch die Blume legt er dem Gericht nahe, es handle sich um einen geschickt eingefĂ€delten Betrugsversuch — quasi um organisierte KriminalitĂ€t von Seiten des ‚Familienclans‘. Sein rechtschaffenes Unternehmen und die liberalen Werte der IndividualitĂ€t, Vernunft und Freiheit sieht er von einer kriminellen Clanstruktur bedroht. Der Unternehmer stellt sich so in einer Art Opfer-TĂ€ter-Umkehr indirekt selbst als Opfer dar.7 Gleichzeitig verstecken sich in dieser TĂ€ter-Opfer-Analogie auch sexistische Logiken, indem die Frauen als Opfer patriarchaler Clanstrukturen dargestellt werden.8

Diese rassistischen Artikulationen, die in der Gerichtsverhandlung zum Ausdruck kamen, sind typisch fĂŒr die aktuellen Formationen des postliberalen Rassismus, in denen die liberalen Werte der aufgeklĂ€rten westlichen Gesellschaft — hier die persönliche Freiheit, die Emanzipation der Frau und das Selbstunternehmertum — von illiberalen Minderheiten, Fremden, Anderen in Gefahr gebracht werden (Lentin/Titley 2011; Tsianos/Pieper 2011).

Durch eine VerschrÀnkung von sexistischen, rassistischen und klassistischen Dynamiken scheint die Machtposition des Unternehmers im AusbeutungsverhÀltnis gestÀrkt zu werden, wÀhrend der Widerstandsversuch der Arbeiterinnen sogar bedroht ist, strafrechtlich verfolgt zu werden.

UmkÀmpfter Zugang zum Recht auf Gerichtskostenhilfe

Ein weiteres Schlaglicht soll verdeutlichen, wie staatliche Institutionen den Zugang zu Rechten nicht fĂŒr alle auf dem Papier gleich berechtigten Personen auf gleiche Weise ermöglichen. Hier geht es um das Recht auf und den Zugang zu Prozesskostenhilfe, die fĂŒr die KlĂ€gerinnen eine Bedingung darstellte, ĂŒberhaupt vor Gericht gehen zu können, da sie ihre AnwĂ€ltin sonst nicht hĂ€tten bezahlen können.

Prozesskostenhilfe muss mit einem mehrseitigen Antrag — der als Vorlage nur auf Deutsch zur VerfĂŒgung steht — beantragt werden. Als Nachweis der Angaben verlangt die zustĂ€ndige Stelle allerlei Papiere, zum Beispiel Einkommensnachweise, KontoauszĂŒge, MietvertrĂ€ge.9 Die prekarisierte LebensrealitĂ€t der KlĂ€gerinnen produziert diese Papiere aber oft nicht. Nicht alle KlĂ€gerinnen haben ein Konto, geschweige denn einen schriftlichen Mietvertrag oder gar eine (lĂŒckenlose) Dokumentation ihres Einkommens. Schon alleine deswegen, weil sie nicht durchgĂ€ngig und nicht immer dokumentiert Geld verdienten. Das Einsenden der wenigen vorhandenen Papiere und eines erklĂ€renden Briefes löste das Problem auch nicht. Bei einer KlĂ€gerin Ă€ußerte die zustĂ€ndige Rechtspflegerin schriftlich den Verdacht, dass das „Einkommen aus Minijob kaum ausreichend fĂŒr Lebenserhaltungskosten, Mietkosten“ sei, die KlĂ€gerinnen also falsche bzw. unvollstĂ€ndige Angaben machten. Wegen eines geringen Einkommens, bzw. Armut, verdĂ€chtigte sie diese also des Betrugs und wollte den Antrag ablehnen. Erst nach einem langwierigen Telefonat, in dem ich ihr erklĂ€rte, dass die prekĂ€ren LebensrealitĂ€ten der Antragsstellenden eben ĂŒber ihre Vorstellungen eines ‚normalen‘ Lebens hinaus gingen und dass es sich hier um ein Leben ‚von der Hand in den Mund‘ handelte, und erst nach Einreichung einer eidesstattlichen Bezeugung der HilfebedĂŒrftigkeit durch die Antragsstellenden, ließ sie sich von der BedĂŒrftigkeit und somit dem Anspruch auf Prozesskostenhilfe ĂŒberzeugen.

Staatliche Leistungen wie Prozesskostenhilfe zu beantragen ist fĂŒr prekarisierte Personen, die (Amts-)Deutsch nicht gut beherrschen und außerhalb der Papier produzierenden ‚NormalitĂ€t‘ stehen also extrem schwierig. Wie auch die Abwertung der migrantischen Frauen vor Gericht verweist dies darauf, dass der schwer zu durchbrechende Teufelskreis aus Armut, Ausbeutung und Ausgrenzung selbst durch jene Staatsapparate noch perpetuiert und sedimentiert wird, die eigentlich Arbeitsrechte verteidigen sollten (Riedner 2015).

Spaß, HartnĂ€ckigkeit, Widerstand

Um kein reduziertes Bild ausweglos anmutender Strukturen zu zeichnen, möchte ich im Folgenden darauf zurĂŒckkommen, wie Nadja und ihre Freundinnen sich gegen ihre Ausbeutung wehren und sich den Versuchen des Regierens entziehen. Denn die bis hierher deutlich gewordenen HĂŒrden, Festschreibungen und AusschlĂŒsse stehen im SpannungsverhĂ€ltnis mit eben jenen Bewegungen, Praktiken und Subjektivierungen, die sie zu kontrollieren, ordnen und auszubeuten versuchen. Indem sie vor Gericht gehen, beschreiten Nadja und ihre Freundinnen zum einen den staatlich vorgegebenen Weg, um ihre Rechte einzuklagen und ihren Lohn einzufordern. Auf diesem Weg mussten sie zwar viele WiderstĂ€nde ĂŒberwinden, doch dank ihrer HartnĂ€ckigkeit und Kraft sowie der UnterstĂŒtzung der Initiative Zivilcourage gelang dies. Gleichzeitig war das Ziel, die widerfahrene Ungerechtigkeit an die Öffentlichkeit zu bringen. Wir veranstalteten ein PressegesprĂ€ch, an dem einige interessierte Journalist*innen teilnahmen.10

Solche Formen des Stellens von AnsprĂŒchen auf Anerkennung, Ressourcen und/oder Rechte einer sich in Relation mit dem Staat identifizierenden Gruppe bezeichnen die Autoren des Buches Escape Routes als „representational politics“ (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008). Sie kritisieren, dass Formen der identitĂ€ren Festschreibung und Sichtbarwerdung — hier als (Reinigungs-)Arbeiterinnen und (EU-)BĂŒrgerinnen — dem Interesse des heutigen Regierens entsprechen, weil sie greifbare Subjekte schaffen und sozial-flexible Dynamiken einschrĂ€nken.

In Abgrenzung davon prĂ€gen sie den Begriff der „imperceptible politics“ (ebd.) fĂŒr jene Praktiken, die sich eben diesem Zugriff entziehen. Schon allein dadurch, dass wir Spaß hatten und im GerichtsgebĂ€ude gemeinsam lachten, entzogen wir uns der Disziplinierung des Gerichts vielmehr, als dass wir an ihm scheiterten. Dies wurde noch unterstĂŒtzt dadurch, dass wir kollektiv auftraten und gegenseitige UnterstĂŒtzung ĂŒbten. So erteilten wir dem Bild des disziplinierten Individuums eine Absage. Gleichzeitig drehten wir als kollektiver Akteur auch das Bild des ‚Familienclans‘ um. Statt als passive Opfer die ErzĂ€hlung des Unternehmers zu untermalen, wurden die KlĂ€gerinnen als selbstbewusste, fröhliche Frauen im Aushandlungsraum aktiv. Unsere eigenwilligen Praktiken stellten sich also sowohl der Disziplinierung und rassistischen Markierung vor Gericht wie auch der Viktimisierung durch den Arbeitgeber entgegen. Dies geschah aber ohne Intention oder politische Botschaft, sondern bloß aus dem Verlangen, ĂŒber diese Ordnung hinaus zu kommen und sich nicht zu stummen, passiven Besucherinnen machen zu lassen. Durch unser Lachen verließen wir das Feld der reprĂ€sentativen Politik, die Forderungen an den Staat stellt und durch Sichtbarkeit Erfolg hat, und entwichen in „unwahrnehmbare Politiken“, in „produktive Subjektivierungsprozesse, in denen [
] ein ĂŒberschĂŒssiges Potential an AffektivitĂ€t und SoziabilitĂ€t produziert wird, das es ermöglicht, den normativen Strukturierungen zu entfliehen“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011). Oder, noch emphatischer: „The laughter and joy of those who partake in the world defies seriousness, disperses fear, liberates the word and the body and reveals a truth escaping the injustices of the present. This laughter is the prime mover of escape. Escape is joyful“ (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008). Gleichzeitig ist die produktive, Neues schaffende Kraft, die in dem Lachen zum Ausdruck kommt, genau jene, welche von den Versuchen, kapitalistische Aneignungs- und AusbeutungsverhĂ€ltnisse und normative Ordnungen auszuweiten, in Wert gesetzt oder zum Verstummen gebracht werden soll.

Mehr arbeiten fĂŒr weniger Lohn? AusbeutungsverhĂ€ltnisse in rassistischen KontinuitĂ€ten

Im Folgenden soll der Arbeitskampf in die AusbeutungsverhĂ€ltnisse, deren Teil er ist, eingebettet werden. DafĂŒr mache ich einige Koordinaten des heutigen Arbeitsmarktes in der Reinigungsbranche fest, um dann auf das spezifische ArbeitsverhĂ€ltnis einzugehen.

Prekarisierung und (Über-)Ausbeutung sind keine Ausnahmen, die nur Arbeitsmigrant*innen betreffen, sondern stellen die Bedingung fĂŒr Profit und damit kapitalistisches Wirtschaften an sich dar. Aktuelle Instrumente zur Liberalisierung der ArbeitsmĂ€rkte wie Leiharbeit, Minijobs, (Schein-)SelbststĂ€ndigkeit und WerkvertrĂ€ge (Keller/Schulz/Seifert 2012; Riedner/Zehmisch 2009; Schröder 2015) sowie der Abbau von Arbeitsrechten und die Umstrukturierung des Sozialwesens zur aktivierenden workfare (Lanz 2009; Lehnert 2009; Peck 2001; Wacquant 2011) verunsichern Arbeits- und LebensverhĂ€ltnisse, erhöhen Profitspannen und betreffen einen Großteil der Bevölkerung.

Aber gerade auch rassistische Migrations- und Grenzpolitik, die Gesellschaft in verschiedene Rechtszonen fragmentiert, muss in Verbindung mit Prekarisierung, Flexibilisierung und stratifizierten AusbeutungsverhĂ€ltnissen gestellt werden. FĂŒr Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann (Friedrich/Zimmermann 2015) funktioniert die Überausbeutung von Migrant*innen11 „nur, wenn es Diskurse sowie juristische, politische und ökonomische Praktiken gibt, die ‚migrantische Arbeitskraft‘ formieren und ihre Ausbeutung ‚unter dem Schnitt‘ legitimieren. [
] Rassismus als soziale Praxis [
] sedimentiert sich in spezifischen Formen kapitalistischer Ausbeutung.“

Diese rassistische Ausformung und Aufteilung von AusbeutungsverhĂ€ltnissen ist durchaus nicht neu und steht in der KontinuitĂ€t von Sklaverei und Kolonialismus. Wie dies nach- und weiterwirkt wird deutlich anhand einer Analyse der symbolischen Artikulation der postkolonial-rassistischen und sexistischen VerhĂ€ltnisse innerhalb der Reinigungsbranche. Dies zeigt sich etwa in dem Intro der Website, mit dem Dr. Goffmann potenzielle Kundschaft und andere Besucher*innen begrĂŒĂŸt. Es zeigt eine Figur — der Griff eines Staubwedels? — mit weißem Bastrock — die Haare des Putzwerkzeugs? — die sich im Takt gedĂ€mpfter Tangomusik wiegt. Die Figur ist aus dunkelbraunem Holz, poliert und phallusförmig. Oberhalb ist eine Grafik einmontiert mit großen roten, geöffneten Lippen, zwischen denen zwei weiße SchneidezĂ€hne ĂŒber einer rosa Zunge blitzen. WĂ€hrend sich das augenlose, aber durch den Mund markierte Gesicht dem Betrachter zuwendet, weisen die hochhackigen Stiefel, die unterhalb des Bastrocks als schwarze Piktogramme zu erkennen sind, nach rechts. Durch diese Drehhaltung wird der kokette Ausdruck der wiegenden Bewegung noch verstĂ€rkt. Bildlich stimmt der Unternehmer sein Angebot also auf die historisch entstandenen kulturellen Vorstellungen von einer guten Putzkraft ab. Diese wird imaginiert als weiblich (sexy, verfĂŒgbar, ohne Verstand oder gar aktiven Blick) und schwarz (primitiv, tanzend, gesunde ZĂ€hne im lĂ€chelnden Mund).

Denken wir die Analyse der Ausbeutungs- und MachtverhĂ€ltnisse in diese Richtung konsequent weiter, entsteht ein Bild normierter, dressierter, sexualisierter, rassialisierter Marionetten des Kapitals. Doch dieses Szenario stimmt bei weitem nicht mit der RealitĂ€t des Arbeitskampfs von Nadja und ihren Freundinnen ĂŒberein. Es stellt gesellschaftliche VerhĂ€ltnisse als zu determiniert dar und unterschlĂ€gt, dass diese ein Effekt stĂ€ndiger antagonistischer Aushandlungen sind. FĂŒr ein VerstĂ€ndnis der politischen Ökonomie der Migrations- und Grenzregime hilft es aber im Gegenzug auch nicht, die AusbeutungsverhĂ€ltnisse zu ignorieren. So möchte ich zunĂ€chst die VerhĂ€ltnisse im Reinigungsgewerbe und anschließend das konkrete ArbeitsverhĂ€ltnis der vier Frauen genauer betrachten und dabei aufmerksam sein fĂŒr die konstitutive Kraft der ArbeitskĂ€mpfe und der Bewegungen der Migration, die gleichzeitig jene VerhĂ€ltnisse (mit-)prĂ€gen und ĂŒber sie hinausgehen.

Die Reinigungsbranche

Private Unternehmen wie auch öffentliche Einrichtungen lagern anfallende Reinigungsarbeiten seit den 1970er Jahren zunehmend an private Reinigungsunternehmen aus und entledigen sich so der direkten Verantwortung und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen gegenĂŒber den LohnabhĂ€ngigen. Die preisgĂŒnstigsten Angebote bekommen den Zuschlag fĂŒr die ausgelagerten ReinigungsauftrĂ€ge; es entsteht ein harter Wettbewerb — ein race to the bottom. Reinigungsunternehmen haben kaum eine andere Möglichkeit als die Lohnschraube anzuziehen, um im Wettbewerb zu bestehen und ihren Profit zu maximieren. Denn die Personalkosten machen mit bis zu 87 Prozent den grĂ¶ĂŸten Anteil der Ausgaben der Betriebe aus, wie eine im Jahr 2005 veröffentlichte Studie zeigt (Gather et al. 2005). Also senken die Unternehmen die Löhne durch Techniken wie die oben erwĂ€hnten sowie durch versteckte Akkordarbeit (wenn die Stundenzahl pro FlĂ€che oder StĂŒckzahl festgesetzt wird), durch unbezahlte Probe- und Überstunden und gefĂ€lschte Abrechnungen. Zudem wird der Effizienzdruck durch vermehrte Kontrollmaßnahmen erhöht. Oft arbeiten Subunternehmen den grĂ¶ĂŸeren Reinigungsunternehmen zu und es entstehen schwer nachvollziehbare Ketten an Sub-Sub-Subunternehmen. Dies trĂ€gt weiter zur Stratifizierung der ArbeitsverhĂ€ltnisse bei, sodass die BeschĂ€ftigten an einem Arbeitsplatz verschiedenen Chefs unterstellt sind und sich schwieriger kollektiv organisieren können.

In MĂŒnchen konnten wir zudem eine Art Zirkulationsverfahren beobachten, in dem Arbeitgeber*innen ihre ungelernten KrĂ€fte abstoßen, sobald sie den verabredeten Lohn verlangen oder sich anderweitig beschweren. Aufgrund des großen Angebots haben sie sehr schnell neue Arbeitskraft zur Hand. Auch deshalb bestehen die ArbeitsverhĂ€ltnisse im Reinigungsgewerbe oft nur fĂŒr einige Wochen oder Monate. Um ihren Job nicht zu verlieren, sind LohnabhĂ€ngige bereit, Kompromisse einzugehen, mit weniger Geld vorlieb zu nehmen oder sich noch ein wenig zu gedulden, in der Hoffnung, dass der versprochene Lohn doch noch irgendwann ausbezahlt wird. Um die Lohnsenkungen zu begrenzen, gibt es seit 2007 einen tariflichen Mindestlohn. Doch garantiert der im Reinigungsgewerbe geltende Mindestlohn von 9,31 Euro brutto (Stand 2014), der bei Vollzeitarbeit einem Netto-Monatsgehalt von etwa 1000 Euro pro Monat entspricht, in MĂŒnchen kaum einen guten Lebensstandard. Zudem wird auch dieser Mindestlohn systematisch unterschritten. Trotzdem lassen sich die LohnabhĂ€ngigen nicht auf ihre reine Arbeitskraft reduzieren. Immer wieder leisten sie auch offen Widerstand.

Das ArbeitsverhÀltnis

Die Klage der vier Frauen stellte den vorlĂ€ufigen Endpunkt eines langwierigen Arbeitskampfes dar. Sie hatten Anfang 2014 — also direkt nach dem Wegfall der EinschrĂ€nkung der FreizĂŒgigkeit12 — fĂŒr knappe sechs Wochen in einem öffentlichen MĂŒnchner Gymnasium als ReinigungskrĂ€fte gearbeitet. Ohne weitere Subunternehmen waren sie direkt bei dem Unternehmen Dr. Goffmann sozialversicherungspflichtig — also dokumentiert — angestellt. Sie reinigten KlassenrĂ€ume, BĂŒros, Toiletten und GĂ€nge und arbeiteten so lange, bis die vorgegebene FlĂ€che gereinigt war. Die Stundenzahl vermerkten sie auf einem Notizzettel. Schon wĂ€hrend der Arbeitszeit kam es zu Konflikten. Nonka berichtete, wie ihr die Objektleiterin eines Tages Hausverbot erteilte, sie beleidigte und den Mittelfinger zeigte, weil sie ihren Schwestern bei der Arbeit geholfen habe, ohne angestellt zu sein. Mitte Februar endete dann das ArbeitsverhĂ€ltnis im Zuge der Auseinandersetzung um die Höhe der Lohnzahlungen. Das Unternehmen hatte nĂ€mlich weniger Stunden abgerechnet als die Arbeiterinnen auf ihren Stundenzetteln vermerkt hatten. Gezahlt wurde eine festgesetzte, pauschale Stundenzahl pro FlĂ€che. So wurden an neun Tagen nur vier Stunden abgerechnet, wĂ€hrend die Frauen jeweils sechs Stunden notiert hatten. Zudem erhielten sie fĂŒr die ersten drei Tage gar keine Zahlungen. Nadja und ZĂŒmbĂŒl wurden so von 166 notierten Stunden nur 96 bezahlt. ZusĂ€tzlich wurden die rechtlich zustehenden ZuschlĂ€ge fĂŒr Nacht- und Feiertagsarbeit nicht beglichen. Das Unternehmen hatte unter dem DeckmĂ€ntelchen von Probezeit bzw. unbezahlter Vorableistung und durch versteckte Akkordarbeit Lohnkosten einsparen wollen. Sobald sie Protest anmeldeten, kĂŒndigte Dr. Goffmann ihnen fristlos und ersetzte sie durch neue BeschĂ€ftigte.

Wie können wir also die AusbeutungsverhĂ€ltnisse begreifen, ohne die Handlungsmacht der Arbeiter*innen auszublenden, die den Kapitalismus sowohl mitgestaltet, wie auch ĂŒber ihn hinausgeht? Ein Fokus auf ihre widerstĂ€ndigen Praktiken hilft hier weiter.

Praktiken „in-against-and-beyond“13 Ausbeutung

Die vier Frauen haben sich schon an der Arbeitsstelle gewehrt, indem sie nicht so schnell arbeiteten und ihre Stunden vorsichtshalber aufschrieben. Wenn er weniger zahlt, dann arbeiten wir eben auch langsamer, erklĂ€rte Nadja, als ich ihr von dem Vorwurf des Arbeitgebers berichtete, dass sie Pausen gemacht hĂ€tten. Auch, dass Nadjas Schwester ihnen bei der Arbeit Gesellschaft leistete, geht ĂŒber die Normen und Regeln des ArbeitsverhĂ€ltnis hinaus, ist als Widerstand gegen die Individualisierung am Arbeitsplatz zu lesen und bedeutet gleichzeitig aber auch mehr Profit, da sie faktisch unbezahlt mitgearbeitet hat. Das Bummeln, ‚so-tun-als-ob‘ und das Missachten von Regeln gehört damit wie Krankfeiern und Sabotage zu einer Praxis des Widerstands gegen Ausbeutung. Nachdem sie im Zuge der Auseinandersetzungen um ihren Lohn die Arbeit verloren hatten, riefen sie das Unternehmen mehrmals an und gingen vorbei, um ihren Lohn einzufordern. Als dies zu keinem Erfolg fĂŒhrte, suchten sie sich VerbĂŒndete und kamen in das Workers‘ Center.

Auf Grundlage ihrer Stundenzettel und des tariflichen Mindestlohns ĂŒberschlugen wir die pro Person ausstehenden BetrĂ€ge von etwa 700 Euro brutto. Ich sollte den Arbeitgeber anrufen und das Geld einfordern. Die GesprĂ€chspartner*innen, die sich dort meldeten, wirkten auf mich durchweg sehr hilfsbereit und eloquent. Sie versicherten, das Unternehmen sei sehr rechtschaffen, sei „keine dieser Hinterhoffirmen“, und sie wĂŒrden die Sache klĂ€ren. TatsĂ€chlich schickten sie uns die Lohnabrechnungen der Frauen zu. Auf Grundlage dieser Abrechnungen, des Mindestlohn- und Rahmentarifvertrages und den Stundenzetteln der Frauen erstellten wir Geltendmachungen — schriftliche Zahlungsaufforderungen mit Angabe der Stundenzahlen und des ausstehenden Betrages. Die versprochene Stellungnahme wurde aber wĂ€hrend zwei Monaten Woche fĂŒr Woche hinausgeschoben. Wir blieben hartnĂ€ckig, fragten jede Woche telefonisch nach, erhielten aber bis auf aufschiebende Worte keine weitere Reaktion. Schließlich entschieden sich die Frauen, vor Gericht zu gehen.14

Das Bild kompliziert sich, wenn ich das ArbeitsverhĂ€ltnis mit Dr. Goffmann in der KontinuitĂ€t ihres Erwerbslebens und Migrationsprojektes einordne. Dies ermöglicht in vieler Hinsicht erst ein vertieftes VerstĂ€ndnis des Arbeitskampfes. Schon nach wenigen Wochen, in denen sie von der Hand in den Mund lebten, reinigten ZĂŒmbĂŒl und Bozhurka KIK und EDEKA Filialen, wĂ€hrend Nadja Reinigungskraft bei Karstadt war. Sie arbeiteten fĂŒr eine Subunternehmerin, die fĂŒr verschiedene Auftraggeber*innen tĂ€tig war. Auch hier waren sie nicht ganz zufrieden, weil sie unbezahlte Überstunden leisten mussten. Diesmal wollten sie aber noch nicht gegen die Arbeitgeberin vorgehen, weil ihnen der Job insgesamt doch entgegen kam. Die FlexibilitĂ€t der Arbeiterinnen kann gleichzeitig als AnpassungsfĂ€higkeit, als Widerstand und als Praxis des Escape aufgefasst werden, die sich nicht nur gegen die Prekarisierung der ArbeitsverhĂ€ltnisse wehrt, sondern gleichzeitig zu ihr beitrĂ€gt. TatsĂ€chlich haben die Frauen schon mehrmals zuvor vorenthaltene Löhne eingefordert und ArbeitsverhĂ€ltnisse verlassen, weil sie nicht zufrieden waren. Aus dem einzelnen Arbeitskampf wird ein Glied in einer Kette an ArbeitskĂ€mpfen, aus der Ausnahme ein kontinuierlicher Kampf um bessere Lebens- und ArbeitsverhĂ€ltnisse, der sowohl die staatlichen Strukturen des Klassenkompromisses nutzt als auch darĂŒber hinausgeht und die VerhĂ€ltnisse neu verhandelt. Im folgenden Kapitel gehe ich darauf ein, wie sich auch ihr transnationales Migrationsprojekt als Teil dieser Kette verstehen lĂ€sst.

Transnationale Migrationsprojekte

In der Migration kommt die Ambivalenz der flĂŒchtigen und kreativen Praktiken der lebendigen Arbeit fast paradigmatisch zum Ausdruck. Denn auf der einen Seite ist „MobilitĂ€t die Quelle der Ausbeutung, insofern Kapitalismus auf der MobilitĂ€t von ArbeitskrĂ€ften beruht“ (BojadĆŸijev/Karakayalı 2007: 215), auf der anderen Seite ist „Migration [
] nicht kontrollierbar, weil die Ware Arbeitskraft einen spezifischen Unterschied zu allen anderen Waren aufweist. Die TrĂ€ger der Ware, hier die MigrantInnen, lassen sich nicht auf genau diese Funktion reduzieren, oder anders gesagt: Der Migrant ist kein homo oeconomicus“ (Karakayalı 2008: 152).

Die Geschwister Nadja und ZĂŒmbĂŒl, zwei der KlĂ€gerinnen, sind heute beide um die 50 Jahre alt. Sie und ihre Freundinnen fĂŒhren seit ĂŒber zwanzig Jahren ein transnationales Leben zwischen Pazarjik und MĂŒnchen, wobei die kurzen Aufenthalte in Bulgarien meist der Erholung dienen — denn ihr Leben in MĂŒnchen ist entbehrungsreich.15 Perioden der Arbeitsuche werden von Jobs unterbrochen, die meist im Reinigungsgewerbe sind und immer niedrig bezahlt werden, wenngleich nicht unbedingt unterhalb des Tarifvertrages. Die sechs Frauen halten eng zusammen und unterstĂŒtzen sich gegenseitig im Alltag. Die WohnverhĂ€ltnisse schwanken zwischen Obdachlosigkeit und höchst beengten Arrangements, die oft extrem ĂŒberteuert sind und nicht selten eine Gegenleistung fĂŒr sexuelle und/oder Care-Arbeit fĂŒr MĂ€nner darstellen. Ihr weiteres Netzwerk setzt sich vor allem aus alten Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandten aus der bulgarischen Stadt Pazarjik zusammen und umschließt den selbstorganisierten Arbeitsmarkt auf den Straßen des MĂŒnchner Bahnhofsviertels. Auch die Allianz mit der Initiative Zivilcourage ist Teil ihres sozialen Umfeldes.

Anfang der 90er Jahre war Nonka als erste aufgebrochen. Sie kam nach MĂŒnchen und suchte sich eine undokumentierte Arbeit in einer GĂ€rtnerei. Nachdem sie ĂŒber Jahre hinweg Autoteile und GemĂŒsekonserven produziert hatten, gab es fĂŒr sie in Pazarjik keine Arbeit mehr. Auch, weil sie als Angehörige der tĂŒrkischen Minderheit in Bulgarien ihre Jobs als erste verloren haben. Staatliche UnterstĂŒtzung habe es so gut wie keine gegeben. DafĂŒr ein Darlehen bei der Bank, dessen RĂŒckzahlung sie schnell zusĂ€tzlich belastete. ZĂŒmbĂŒl folgte ihrer Schwester schnell. Nadja blieb erst zurĂŒck, um sich um ihre Kinder zu kĂŒmmern. Sie lebte in einem Haushalt mit ihrer Freundin Pembe, wĂ€hrend der Vater der Kinder meist abwesend war, viel trank und „nicht einmal ein paar Socken“ zum Lebensunterhalt beisteuerte. Als Pembe als Letzte die Arbeit in der Fabrik verlor, ĂŒbernahm sie die Familienarbeit und Nadja folgte ihren Schwestern nach MĂŒnchen. Sie erinnert sich gern an ihre erste Busfahrt — 24 Stunden von Pazarjik nach MĂŒnchen — als ein großes Abenteuer. Die Ă€lteste Schwester Bozhurka und ihre Tochter Danka kamen spĂ€ter nach.16

Postsozialistische Transformationen in Bulgarien

Bis 1991 war Bulgarien eine kommunistische Volksrepublik, in der (offiziell) VollbeschĂ€ftigung herrschte. Dann nĂ€herte Bulgarien sich schnell der EU an. Innerhalb von 10 Jahren sollte Bulgarien seine MĂ€rkte gegenĂŒber der EU öffnen und die Gesetze mit der EU harmonisieren. Dies beinhaltete die Rationalisierung und Privatisierung der zuvor zentral gesteuerten Staatsbetriebe und die Restrukturierung der Sozialsystems nach marktwirtschaftlichem Vorbild des Westens. Diese neoliberale Strukturanpassung hat zum Wegfall vieler ArbeitsplĂ€tze gefĂŒhrt. „In most eastern European countries, privatization accompanied by redundancies and the introduction of hard budget constraints has resulted in large-scale job losses“, stellt die International Labour Organization (Van der Hoeven/Sziraczki 1997: 10)17 fest. Die KlĂ€gerinnen und ihre Freundinnen gehören zu den ĂŒber 50.000 Personen, die in den ersten postsozialistischen Jahren ihre Arbeit in der Lebensmittelproduktion verloren haben (ILO 2001).

Gleichzeitig stiegen die Lebenserhaltungskosten dramatisch. Nadja erzĂ€hlte, dass Grundnahrungsmittel heute etwa fĂŒr den gleichen Preis zu kaufen sind wie in Deutschland, wĂ€hrend die Löhne viel niedriger sind. Viele Menschen konnten ihre Stromrechnungen, die im Zuge der Privatisierung der Energieversorgung enorm gestiegen waren, nicht mehr zahlen. Mariya Ivancheva spricht von einer „permanente[n] Krise [
], die die neoliberale AusteritĂ€tspolitik der aufeinanderfolgenden Regierungen in Bulgarien bereits einige Zeit vor der Weltwirtschaftskrise von 2008ff. eingefĂŒhrt hatten“ (Ivancheva 2014: 72). In den Jahren 2012 und 2013 haben sich die sozialen Konflikte in einer Protestwelle ausgedrĂŒckt (ebd.).

Die aufgrund der Krise angespannte soziale Lage wurde sicher dadurch entspannt, dass seit Anfang der 90er etwa zwei Millionen Bulgar*innen (ebd.: 73), die ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nur mehr schwer bestreiten konnten, die Escape-Option genutzt haben.18 Sie machten sich auf und suchten Arbeit und ein besseres Leben in wirtschaftlich besser gestellten Regionen. Der Anthropologe Noel David Nicolaus bezeichnet die „Zunahme und Neuausrichtung der innereuropĂ€ische[n] Migrationsbewegungen im Rahmen der Krise“ auch als „basisdemokratische Einforderung [des] FreizĂŒgigkeitsrechts“ (Nicolaus 2014).

Quer durch alle Kategorien

Auch Nadja und ihre Freund*innen machten sich auf den Weg in ein neues, transnationales Leben. Von den deutschen und unionseuropĂ€ischen Versuchen, Migration zu regieren, ließen sie sich dabei nicht beirren. Den rechtlich-politischen Entwicklungen des Migrationsregimes zwischen Deutschland, der EU/EG und Bulgarien — vom eisernen Vorhang zum Visa-Regime (1993) ĂŒber die eingeschrĂ€nkte EinfĂŒhrung der FreizĂŒgigkeit im Zuge des EU-Beitritts (2007) bis zur Aufgabe dieser EinschrĂ€nkungen (2014) — entgegneten sie mit Anpassungen ihrer Migrationsstrategien.

Die Rechte von Nonka, die schon seit den frĂŒhen 90ern in MĂŒnchen ist, waren im Vergleich zu deutschen BĂŒrger*innen immer eingeschrĂ€nkt, wenn auch in unterschiedlichen Formen der Entrechtung. Im Laufe der Jahre passte sie in die verschiedensten aufenthaltsrechtlichen Kategorien: Asylbewerberin, Touristin mit Dreimonatsvisum, ‚Illegale‘ und freizĂŒgige UnionsbĂŒrgerin — erst ohne und dann mit Daueraufenthaltsrecht.19 Anfang der 90er hatte sie Asyl beantragt. Der Status als Asylbewerberin verpflichtete sie in einem Lager zu wohnen, die Residenzpflicht einzuhalten und sie erhielt grundsichernde Leistungen. SpĂ€ter konnte sie kein Asyl mehr beantragen, bekam aber relativ leicht ein Tourismus-Visum fĂŒr jeweils drei Monate. Sie durfte in dieser Zeit wohnen, wo sie wollte, hatte aber keinen Anspruch auf Wohnraum oder andere staatliche Leistungen. Wenn das Tourismus-Visum nicht verlĂ€ngert wurde, ging sie manchmal ĂŒber die grĂŒne Grenze. Als aufenthaltsrechtlich illegalisierte Migrantin musste sie dann vor Polizeikontrollen auf der Hut sein und hatte auch keinen Anspruch auf Leistungen. In allen drei Kategorien durfte sie nicht arbeiten, war also auf illegalisierte Arbeit angewiesen. In der Silvesternacht auf 2007 wurde sie dann schließlich zur UnionsbĂŒrgerin.

Die EinfĂŒhrung der FreizĂŒgigkeit gilt heute als eine der grĂ¶ĂŸten Legalisierungsaktionen der letzten Jahre, da viele Migrant*innen, die sich bisher mit Touristenvisa oder ohne Aufenthaltserlaubnis im EU-Territorium aufhielten, nun keine Aufenthaltserlaubnis mehr benötigten. Sie erhielten zudem das kommunale Wahlrecht. Auf Nonkas prekarisierte Lebens- und Arbeitssituation hatte dies zwar keine grundsĂ€tzliche Auswirkung — sie hatte ihre Bewegungsfreiheit ja schon zuvor ausgeĂŒbt. Wie ich herausgearbeitet habe, stellen die rechtlichen VerhĂ€ltnisse eben nur eine Komponente der lebensweltlichen Aushandlungsprozesse dar.20 Trotzdem haben die neuen VerhĂ€ltnisse Effekte, die auch in den Lebens- und ArbeitsverhĂ€ltnissen der Migrant*innen zu spĂŒren sind.

EU-MarktbĂŒrgerschaft und FreizĂŒgigkeit

Diese Effekte manifestierten sich beispielsweise in einem Schreiben der AuslĂ€nderbehörde an ZĂŒmbĂŒl: Weil sie soziale Leistungen bezog und keinen Arbeitnehmer*innenstatus nachweisen konnte, wurde ihr die Ausreise befohlen und mit Abschiebung gedroht. Zwar konnte sie mit kostspieliger anwaltlicher UnterstĂŒtzung gegen den Entzug der FreizĂŒgigkeit vorgehen, war aber gezwungen einen Job zu finden und verzichtete von diesem Zeitpunkt an auf staatliche Leistungen, um nicht noch einmal in diese mit viel Angst und Stress einhergehende Situation zu kommen.

Die UnionsbĂŒrgerschaft und EU-FreizĂŒgigkeit ist geprĂ€gt von aufenthalts- und sozialrechtlichen Regelungen, die ich als ‚Technologien des Regierens von Arbeit und Migration‘ begreife und auf die ich hier nĂ€her eingehen möchte. Die Eckdaten sind Folgende: UnionsbĂŒrger*innen sind grundsĂ€tzlich innerhalb des europĂ€ischen Territoriums freizĂŒgig, d.h. sie können sich mit ihrem Personalausweis in anderen EU-Staaten aufhalten und frei reisen. In Bezug auf den Arbeitsmarktzugang sind sie den InlĂ€nder*innen prinzipiell gleichgestellt. Die UnionsbĂŒrgerschaft hat aber nur einen sehr eingeschrĂ€nkten sozialen Gehalt und wird deswegen auch als MarktbĂŒrgerschaft bezeichnet. ‚NichterwerbstĂ€tige‘ oder ‚Arbeitsuchende ohne Aussicht auf Erfolg‘ verlieren nĂ€mlich ihre sozialen Rechte und können nach individueller PrĂŒfung auch ihre FreizĂŒgigkeit verlieren und sogar abgeschoben werden. Diese Prekarisierung der BĂŒrgerschaft wird mit der Figur des ‚Sozialtourismus‘ legitimiert. Sozial- und aufenthaltspolitische Praktiken — Kontrolle, Entzug des Existenzminimums, Aberkennung der FreizĂŒgigkeit, Abschiebung — zielen zum einen darauf, die Migration von Personen, die als unproduktiv definiert werden, zu unterbinden oder diese von der RĂŒckkehr ins ‚Heimatland‘ zu ĂŒberzeugen. Zum anderen sollen sie ‚Sozialtourist*innen‘ zu prekĂ€rer Lohnarbeit erziehen. Ein leitender Angestellter der MĂŒnchner AuslĂ€nderbehörde stellte die Androhung der Abschiebung als „InitialzĂŒndung zur gelungenen Integration“ dar. Ziel sei, dass sich die Betroffenen Arbeit suchten, denn Integration gelinge nur ĂŒber Arbeit. Die Aussage impliziert eine GleichgĂŒltigkeit gegenĂŒber dem Ausschluss derjenigen, die keine Arbeit finden. EU-interne Grenzziehungen entlang der Logik der LeistungsfĂ€higkeit sowie nationale Logiken schaffen so stratifizierte Zonen der entrechteten, inneren Anderen, denen die Eigenschaft der employability mit Zuckerbrot (FreizĂŒgigkeit, soziale Leistungen bei ErwerbstĂ€tigkeit) und Peitsche (Drohung mit Abschiebung, Entzug des Existenzminimums) anerzogen werden soll — oder aber komplett abgesprochen wird.

Die UnionsbĂŒrgerschaft als MarktbĂŒrgerschaft bietet so kaum Schutz gegen Armut, Prekarisierung und Überausbeutung, sondern fördert diese eher, indem sie einen Zwang zur ErwerbstĂ€tigkeit aufbaut — ohne RĂŒcksicht auf die ArbeitsverhĂ€ltnisse. Die erwĂ€hnten Versuche des Regierens tragen dazu bei, dass Personen wie Nadja und ihre Freundinnen weiter durch transnationale RĂ€ume der Armut, Prekarisierung und (Über-)Ausbeutung manövrieren und ArbeitskĂ€mpfe mit Arbeitgeber*innen wie Dr. Goffmann ausfechten mĂŒssen. Gleichzeitig können EU-FreizĂŒgigkeit und UnionsbĂŒrgerschaft auch als Reaktion auf die Bewegungen der Migration verstanden werden. FĂŒr Nadja und ihre Freundinnen stellte die EinfĂŒhrung der FreizĂŒgigkeit eine Kodifizierung ihres langjĂ€hrigen transnationalen Migrationsprojektes dar — ihr Status passte sich an ihre gelebte RealitĂ€t an.21

Zusammenfassung und Ausblick

Dieser Artikel hat seinen Ausgang in einer ethnographischen Szene vor dem Arbeitsgericht genommen, in der deutlich wurde, wie sich rassistische, sexistische und klassistische VerhĂ€ltnisse verschrĂ€nken und wie dabei die Position des Arbeitgebers gestĂ€rkt wird. Gleichzeitig zeigte sich, wie die Arbeiterinnen sich nicht auf reine Arbeitskraft reduzieren ließen, sondern sich gegen Ausbeutung und Disziplinierung wehrten. Die widerstĂ€ndige Praxis vor Gericht lĂ€sst sich nicht auf die vom national-sozialen Staat vorgegebene Aushandlungsform reduzieren: Durch gegenseitige UnterstĂŒtzung, unangepasste Wut und gemeinsames Lachen konnten wir soziale RĂ€ume schaffen, die schwer zu kontrollieren waren. Diese konfliktive Situation habe ich dann im spezifischen Arbeitskampf und den ArbeitsverhĂ€ltnissen im Reinigungsgewerbe verortet. Dabei zeigte sich, wie verschĂ€rfte Ausbeutung als Effekt von Entrechtung gesehen werden kann. Zonen der Entrechtung verlaufen entlang rassistischer und leistungsideologischer Markierungen, welche in historischen KontinuitĂ€ten stehen. Die Praktiken der (migrantischen) Arbeiter*innen haben dabei einen ambivalenten Charakter, weil sie sich der Ausbeutung entgegenstellen und kapitalistische Dynamiken gleichzeitig mitkonstituieren. Der dritte Teil hat diesen Arbeitskampf in den Zusammenhang des transnationalen Migrationsprojekts der vier Frauen gestellt, welches wiederum einen Blick auf die neoliberalen, austeritĂ€ren Prozesse der EuropĂ€isierung der letzten 25 Jahre ermöglicht hat. Hier wurde auch deutlich, dass die europĂ€ische MarktbĂŒrgerschaft zwar die faktische Bewegungsfreiheit der Migration im Recht der FreizĂŒgigkeit legalisiert, aber gleichzeitig Technologien des Regierens beinhaltet, die EU-Migrant*innen weiter prekarisieren und Ausbeutung begĂŒnstigen.

Aus dieser Perspektive lĂ€sst sich das Regieren der innereuropĂ€ischen Migration von UnionsbĂŒrger*innen, welche oft als MobilitĂ€t bezeichnet wird, als Teil des umkĂ€mpften europĂ€ischen Migrations- und Grenzregimes begreifen. Auch UnionsbĂŒrger*innen können Migrant*innen sein, denn Migrant*innen sind jene, deren MobilitĂ€t rassistisch problematisiert und zur Grundlage ihrer Ausbeutung und Dominanz gemacht wird (Mezzadra 2015). Statt einer binĂ€ren Reduktion der unionseuropĂ€ischen Migrationsgesellschaft auf (EU-)BĂŒrgerinnen und Migrant*innen bzw. FlĂŒchtlinge — die auch in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung vor allem durch eine starke Fokussierung auf Asyl, Illegalisierung und Außengrenzen bei gleichzeitiger Ausblendung kapitalistischer Dynamiken allzu oft reproduziert wird — ergibt sich ein Bild der differenzierten Inklusion (Casas-Cortes et al. 2014) und der turbulenten KĂ€mpfe. Aus dieser Perspektive lĂ€sst sich auch leichter nach den VerschrĂ€nkungen von Grenz- und Migrationsregimen und aktuellen Transformationen des Kapitalismus fragen, in denen verschiedenste Technologien des Regierens die Bewegungen und KĂ€mpfe der Migration in stratifizierte Zonen der Entrechtung, Prekarisierung und Ausbeutung zu lenken suchen. Solch eine Analyse hĂ€tte möglicherweise das Potenzial, die KĂ€mpfe der Migration — die sich gegen die Versuche des Regierens und der Ausbeutung wehren, ihnen entkommen, zuvorkommen und sie aneignen — auch als KĂ€mpfe der lebendigen Arbeit zu verstehen, und zu ihnen beizutragen.

Nachtrag

Nachdem es zu weiteren Klagen gegen das Unternehmen von Dr. Goffmann gekommen war, die KlĂ€gerinnen Zeuginnen genannt hatten und auch die Presse immer wieder nachhakte, willigte der Arbeitgeber nach ĂŒber 10 Monaten in einen Vergleich ein. Dieser brachte den Frauen jeweils etwa 400 Euro cash auf die Hand, die Überausbeutung an einem MĂŒnchner Gymnasium konnte aber mangels eines rechtskrĂ€ftigen Urteils nicht öffentlich skandalisiert werden. Teil des Vergleichs war auch ein KĂŒndigungsschreiben und ein Zeugnis. Meinen Vorschlag, soziale Leistungen zu beantragen, lehnten die Frauen ab. Ihren Lebensunterhalt wĂŒrden sie lieber selbst verdienen und mit dem Jobcenter wollten sie nichts mehr zu tun haben. Außerdem hĂ€tten sie ja schon neue Jobs.

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  • Volume: 1
  • Issue: 2
  • Year: 2015


Lisa Riedner hat zu der Frage promoviert, wie EU-interne Migration in MĂŒnchen regiert wird. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zum VerhĂ€ltnis von migrantischen Selbstorganisationen und Gewerkschaften an der UniversitĂ€t Göttingen. Sie ist GrĂŒndungsmitglied der Initiative Zivilcourage und der Gruppe Workers’ Center in MĂŒnchen, des kritnet und des Netzwerks e4a.