Eine kürzere Version dieser Bilddokumentation ist in der Druck-Ausgabe von movements erschienen und kann hier (PDF) heruntergeladen werden.
Auch heute heißt es noch verbreitet: Der NSU Terror traf Zufallsopfer. In meinen Augen bedeutet von Zufallsopfern zu sprechen, eine Reduktion auf die Täter*innen. Denn damit wird implizit gesagt, dass der blanke Hass der Täter für die Auswahl der Opfer entscheidend war und es keiner weiteren Erklärung bedürfe.
Die Opfer des NSU werden so geschichts- und ortlos gemacht. Die Verbrechen des NSU wurden aber nicht irgendwo und an irgendwem begangen, sondern an ganz konkreten Menschen, mit vielschichtigen Biographien, die innerhalb und außerhalb Deutschlands gelebt wurden. Die Opfer wurden nicht an zufälligen Orten ermordet, sondern an zentralen Orten ihres Lebens, in Nachbarschaften wo man sie kannte und schätzte für das, was sie bis zu ihrer Ermordung waren und taten.
Im Zuge meiner Beschäftigung mit den Morden des NSU und den Perspektiven von Opfern und Hinterbliebenen habe ich angefangen, die Orte, an denen die Menschen umgebracht wurden, zu besuchen. Nicht als zusammenhängende, systematische Recherche, wie es die Kuratorin Birgit Maier gemacht hat, sondern aus dem Wunsch heraus, mir die Orte dieser schrecklichen Morde vergegenwärtigen zu wollen. Während der Recherche war ich immer wieder sprachlos, welche Personen und welche Orte sich die Täter*innen für ihre Morde ausgesucht hatten. Geschäfte, die an stark befahrenen und eng bewohnten Straßen lagen und die in das soziale Gefüge einer Nachbarschaft eingebunden waren. Und die über den schrecklichen Mord hinaus ein großes Echo aussendeten an alle in ähnlicher Lage, in ähnlichen Vierteln: Ihr seid nirgendwo sicher.
Beim Besuch von Tatorten versuche ich seither, die Viertel und die Sichtachsen auf die Geschäfte der Ermordeten zu dokumentieren. Es ist eine stadträumliche Recherche über die Realität des rassistischen Terrors, der ganz gezielt seine Wirkung entfaltet hat. Alle (ehemaligen) Läden zeichnen sich durch ihre Öffentlichkeit aus. Es sind keine Kellerräume, mit Eingängen in blickabgewandter Seite, sondern es sind gut einsehbare, von zufälligem Personenverkehr stark frequentierte Geschäfte in Wohnvierteln. Wer dies nicht wahrnimmt, muss es gezielt übersehen.
Im Folgenden wird ein erster Zwischenstand meiner Ortsbesuche dokumentiert. Die Ortsgeschichten der weiteren Ermordeten – Enver Şimşek, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat – werden nach Weiterführung meiner Arbeit ergänzt.
Abdurrahim Özüdoğru | 1952 - 2001 | Nürnberg
Abdurrahim Özüdoğru wird am Abend des 13. Juni 2001 in seiner Änderungsschneiderei an der Nürnberger Siemensstraße Ecke Gyulaer Straße als zweites Opfer des NSU ermordet. Es handelt sich nicht um seinen Arbeitsplatz, sondern eher sein Hobby hier zu arbeiten. Den Laden hatte er gemeinsam mit seiner Ex-Frau aufgebaut, er entwickelte sich schnell zu einer sozialen Institution.
Der Laden liegt in einem ruhigen, aber eng bebauten Viertel in der Nürnberger Südstadt. Zwei Jahre zuvor hat der NSU nur wenige Fußminuten von hier entfernt einen ersten Anschlag mit einer Taschenlampenbombe durchgeführt. Im Gegensatz zur Todesstelle Enver Şimşeks ist dieser Ort keineswegs abgelegen, sondern befindet sich mitten im Herzen der Südstadt. Die Straße hat direkten Zugang zur U-Bahn Station und ist daher auch von Fußgänger*innen stark frequentiert. Davon profitieren auch die zahlreichen Läden. Das Geschäft Özüdogrus befindet sich in einem Eckhaus, ist gleich von zwei Seiten von der Straße und den engstehenden Mietshäuser sichtbar und einsehbar. Es ist zu allen Seiten hin verglast. Die damalige Fenstergestaltung ist noch erhalten. Es heißt, der Laden ließe sich schlecht vermieten. Erst um 2015 herum hat sich ein Nachmieter gefunden, der den Laden nun renoviert hat. Der Fußweg zur U-Bahn führt direkt am Geschäft vorbei, ebenso befinden sich mehrere Parktaschen vor dem Gebäude. Wer einparkt schaut auch direkt auf den Laden. Dies stellte für die Täter scheinbar kein Risiko dar.
Heute erinnert an Özüdoğru eine von einer Initiative erstellte und ausgehangene Gedenktafel. Es wird explizit der politische Kontext der Täter genannt, was scheinbar nicht bei allen auf Zustimmung stieß. Der Schriftzug »von Nazis ermordet« wurde versucht zu entfernen, das Wort »Nazis« ist handschriftlich wiederhergestellt.
Süleyman Taşköprü | 1970 - 2001 | Hamburg
Süleyman Taşköprü wird am 27. Juni 2001 in der Hamburger Schützenstraße vom NSU ermordet. Als sein Vater an diesem Tag zurück in den Laden kommt, sieht er noch zwei Männer das Geschäft verlassen, bevor er seinen blutüberströmten Sohn findet. Süleyman Taşköprü konnte seine zahlreichen Ideen für den familiär geführten Lebensmittelladen nicht mehr einlösen. Der Laden ist hier nicht der einzige, der von migrantisch-positionierten Hamburger*innen geführt wird. Auf der westlichen Straßenseite befinden sich gleich mehrere Cafés und kleine Läden. Direkt vor der Tür parken Autos, der Fußweg zwischen den beiden Bushaltestellen an der Schützenstraße verläuft hier entlang, mit viel Publikumsverkehr.
Auf einer gepflasterten Fläche zwischen Todesstelle und Schützenstraße stehen heute zwei Denkmäler. Auf dem städtischen Gedenkstein sind die Namen der NSU Mordopfer mit ihren Lebensdaten vermerkt. Auch die gemeinsame Erklärung der ›Tat‹-ortstädte ist dort eingelassen. Vor dem Steinquader haben die Angehörigen einen roten Stern mit dem Konterfei Süleyman Taşköprüs verlegt. Er soll an den Walk of Fame in Hollywood erinnern. Neben den Gedenksteinen stehen ganzjährig Blumen.
Drei Jahre nach der Errichtung des städtischen Denkmals ist seine weiße Inschrift nicht mehr zu lesen. Es scheint keine Denkmalpflege an diesem Ort zu geben. Mit der Zeit und der nötigen Unaufmerksamkeit schwindet selbst das kurze ›offizielle‹ Hamburger Gedenken an die Opfer des NSU.
Taşköprü-Straße
Als ›Hamburgs Bekenntnis zum NSU‹ firmiert die 2013 umbenannte Taşköprüstraße in den Medien. Hamburg ist die damit erste und einzige Stadt, die eine Straße nach einem Opfer des NSU umbenannt hat. Dies hatten die Angehörigen jedoch nie gefordert. Zudem wird explizit nicht die Straße, in welcher Süleyman Taşköprü starb umbenannt, sondern die Parallelstraße und diese auch nur zur Hälfte. Da es hier kaum Anlieger gibt, entsteht ein öffentliches Gedenken ohne Öffentlichkeit.
Das »Bekenntnis zum NSU« ist eine Leerformel, denn obwohl Hamburg und Umgebung zu dieser Zeit eines der Zentren neonazistischer Bewegung ist, wird bis heute ein Untersuchungsausschuss abgelehnt. Die Schwester Süleyman Taşköprüs kommentierte dies mit den Worten: »Die Schützenstraße kommt mir heute eher wie ein Denkmal für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe vor, als für meinen Bruder.«
Tatort Schützenstraße
Denkmal
Denkmal im Jahr 2016
Habil Kılıç | 1963 - 2001 | München
Am Morgen des 27. August wird Habil Kılıç im Lebensmittel- und Feinkostladen seiner Frau ermordet. Es ist Zufall, dass er da ist, wären seine Frau und seine Tochter nicht im Urlaub, stünde er jetzt auf dem Großmarkt. Das Geschäft hatte direkten Zugang zur Wohnung und konnte nach dem Mord nur schlecht weitervermietet werden. Aus bis heute nicht erfindlichen Gründen musste Familie Kılıç das Blut ihres Angehörigen selbst entfernen, ein Tatortreiniger wurde ihnen nie geschickt. Eine einzelne graue Tafel mit den Namen der NSU Opfer und der gemeinsamen Erklärung der Tatortstädte erinnert heute an die Geschichte des Ortes.
Der Laden befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnblocks, wenige Meter von der U-Bahn Richtung Neuperlach entfernt. Ein idealer Standort, bei dem viel Laufkundschaft sicher ist. Zahlreiche Fenster befinden sich direkt gegenüber dem Geschäft, das Viertel ist von Mietskasernen geprägt, hat unter anderem eine wichtige Rolle für die NS Rüstungsindustrie gespielt.
Man wird hier das Gefühl nicht los, dass man immer von irgendjemanden auf der Straße beobachtet wird, allein schon wegen des großen Polizeigebäudes, das sich knappe 60m vom Laden entfernt befindet. Die Täter haben die Polizeidienststelle zweimal passieren müssen, da sie ihre Fahrräder am anderen Ende der Straße abgestellt hatten. Trotzdem hat kein Beamter etwas beobachtet. Mit einem Bild der unzähligen Fenster des Dienstgebäudes versuchte ich diesen räumlichen Zusammenhang festzuhalten. Es zeigt sich, dass die Beamten des Polizeireviers durchaus aufmerksam sind. Während der Aufnahmen wurden ich und vier weitere Personen mit dem Vorwurf der Spionage in Gewahrsam genommen und ohne richterlichen Beschluss und unter Androhung von Gewalt gezwungen, die Aufnahmen zu löschen. Während der polizeilichen Maßnahme wurde klar, dass mindestens ein Beamter keinerlei Kenntnis vom NSU Mord an Habil Kılıç hatte.
Was bleibt sind viele Fragen über das Selbstverständnis und die Arbeit der Polizei sowie die Tatsache, dass die NSU Morde und das damalige polizeiliche Fehlverhalten offensichtlich keine Bedeutung für die Ausbildung und Reflexion der bei der Polizei haben. Die größte Frage ist jedoch, warum niemand in der Dienststelle diese Aufmerksamkeit für Vorgänge vor dem Dienstgebäude am 27. August 2001 aufbringen konnte.
Mehmet Turgut | 1979 - 2004 | Rostock
Mehmet Turgut versuchte über Jahre einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu erhalten. Am Morgen des 25. Februar 2004 wurde er in Rostock-Toitenwinkel ermordet. Er ist erst wenige Tage in der Stadt und kann im Imbiss eines Freundes aushelfen. Kurz nachdem er öffnet, wird er ermordet.
Der kleine Imbiss befand sich an einem Durchgang zwischen Straßenbahnhaltestelle, Supermarkt und Wohnviertel. Diese Fläche ist heute eine Gedenkstelle mit zwei leeren und kargen Betonbänken. Sie stehen sich nur an einer Stelle direkt gegenüber, wo auf der einen Bank eine deutsche, auf der anderen eine türkische Inschrift eingelassen ist. Mehmet Turgut war jedoch Kurde. Als einzige Gedenktafel bundesweit ist hier nicht die Erklärung der Tatortstädte zu lesen, sondern ein Auszug aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Verweis auf den „menschenverachtenden rechtsextremen Terror“, dessen Opfer Mehmet Turgut wurde. Es werden weder der NSU noch die Namen der anderen Opfer genannt. Auch wenn der Gedenkort etwas deplatziert wirkt, ist er doch zumindest gut frequentiert, da der Weg vom Wohngebiet zur Straßenbahn hier entlang verläuft.
Bis zum 10. Todestag wurden die Gedenkveranstaltungen von der Initiative „Mord verjährt nicht“ organisiert. 2014 richtete die Stadt gemeinsam mit der Einweihung des Denkmals das Gedenken aus und versicherte, dass der Mord an Mehmet Turgut nie vergessen werden dürfe. 2015 stand die Initiative abermals allein da, die Stadt verkündete nur einen Tag vorher eine 15-minütige Gedenkveranstaltung, bei der lediglich Presse anwesend war. Auch 2016 gab es zunächst keine offizielle Planung für das Gedenken, erst auf Nachfrage der Initiative signalisierte die Stadt Unterstützung.
Im Alltag wird die Freifläche um den Gedenkort als Hundewiese genutzt – wobei die Hundehalter*innen der Bedeutung des Ortes augenscheinlich kaum Beachtung schenken.
Theodoros Boulgarides | 1964 - 2005 | München
Anfang Juni macht sich Theodoros Boulgarides in der stark befahrenen Trappentreustraße im Münchner Westend selbständig. Im Sekundentakt fahren Autos vorbei, zahlreiche Passant*innen kommen hier zu jeder Tageszeit entlang. Der Laden befindet sich am Anfang einer Ladenzeile, welche die hiesigen Wohnhäuser bis hin zur nächsten großen Kreuzung säumt. Nebenan befindet sich auch heute noch ein gut besuchtes Café. Hier, in seinem neueröffneten Schlüsseldienst, wird Theodoros Boulgarides am 15. Juni 2005 vom NSU ermordet.
Direkt vor dem Laden befindet sich eine Bushaltestelle, die etwa im 5-Minuten Takt angefahren wird. Zwischen Bushaltestelle und Laden besteht eine direkte Blick"-achse. Auch von vorbeifahrenden Autos oder Bussen hätte man in den Laden hineinschauen können. Theodoros Boulgarides wird nicht in seinem kleinen Laden, sondern an einem quasi-öffentlichen Ort ermordet, direkt an der pulsierenden Verkehrsachse des Münchner Westends.
Heute befindet sich hier ein Imbiss. Am Eingang des Hauses erinnert eine Gedenktafel an Theodoros Boulgarides. Sie wurde, wie auch die Gedenktafel für Habil Kılıç, von der Stadt angebracht. Zu lesen ist die gemeinsame Erklärung der Tatortstädte sowie die Namen der Opfer. Der Name von Theodoros Boulgarides ist markanter gesetzt als die anderen. An diesem lauten und hektischen Ort geht die Tafel unter, jedenfalls wirkt sie nicht, als wenn die Stadt mir ihr die Markierung eines stadtgeschichtlich relevanten Ortes beabsichtigt hätte.