Abstract This article discusses so-called “language learning classes” in elementary schools. Decisions on whether a pupil should attend one of these classes are motivated both by the administration’s aim to give support and the underlying discourse of ‘integration’. Together they produce exclusionary practices. I argue that the German history of segregating pupils based on categories such as ethnicity, class and language is still re-produced in today’s framework. However, as my field research shows, this brings about complexities and ambivalences that are new. As a result, I can show that today’s seperations are more flexible and permeable and at the same time less obvious then they appear at a first glance.
Keywords integration discourse, language learning classes, school, seperation, racism
Sogenannte ‚Ausländerregelklassen‘, in denen Schüler_innen aufgrund ihrer ‚ausländischen Herkunft‘ permanent von den ‚deutschen Mitschüler_innen‘ separiert wurden, hat es bis 1998 in Berlin gegeben und sind erst dann gesetzlich abgeschafft worden.1 Solche formal legitimierten Formen der Separierung von Schüler_innen entlang ihrer ‚Herkunft‘ sind heute in den Schulgesetzen der Länder nicht mehr vorgesehen. Diese Veränderung ist auf gesellschaftliche Transformationen zurück zu führen, die durch eine sich pluralisierende Gesellschaft, gesetzliche Veränderungen, migrantische Kämpfe und das wirkmächtige Integrationsdispositiv erfolgten.
Die Zahl separierter Sprachlernklassen2 hingegen vergrößert sich zurzeit ständig und diese Entwicklung wird als sehr positiv bewertet. Die Aufgabe dieser Klassen, welche als „Fördermaßnahmen“ gelten (Niedersächsisches Kultusministerium 2014), ist, ausgewählte Kinder ‚nicht deutscher Herkunftssprache‘ für ein bis maximal zwei Jahre getrennt in einem „geschützten Rahmen“ – so der schulpädagogische Sprech – zu fördern, um sie dann in den (Schul-)Alltag zu integrieren. Die in der Schule institutionalisierten Sortierungen und Hierarchisierungen, so meine These, sind somit nicht passé: Ein Blick auf die Geschichte der Beschulung migrantischer Kinder (vgl. zur Nieden/Karakayali 2013: 65ff.) zeigt vielmehr, dass Diskriminierungen und rassistische Markierungen an der Schule ständigen Veränderungen unterworfen sind. Diese lassen sich in dem von mir beforschten Feld in Form von veränderten Motiven, verfeinerten Zugriffsmechanismen und daraus resultierenden dynamischeren und zugleich poröseren Grenzziehungen beobachten (vgl. Pieper/Tsianos 2011).
Aus meinem Material einer mehrmonatigen Feldforschung rund um die Einteilungsmechanismen und die (Aus-)Wirkungen der Teilnahme an einer Sprachlernklasse in Göttingen werde ich im Folgenden einige Reflexionen zur „dynamische[n] Ambivalenz“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 194) der separierenden Fördermaßnahme ‚Sprachlernklasse‘ anstellen. Besonders geht es mir darum, zu reflektieren, wie neue Rassismusformationen (be-)greifbar gemacht werden können, die sich nicht in Form absoluter Ausschlüsse, sondern von Durchlässigkeit, differentiellen Inklusionen und doppelten Grenzziehungen realisieren.
Beforscht wurden vier Grundschulen im Raum Göttingen.3 Neben leitfadengestützen qualitativen Interviews mit den Schulleitungen, Sprachlernklassenlehrer_innen und Koordinatorinnen für Deutsch als Zweitsprache, habe ich in einem Zeitraum von 7 Monaten an eben diesen Schulen wöchentlich hospitiert, am Unterricht in den Sprachlernklassen teilgenommen und bin mit Lehrer_innen über ihre Erfahrungen und Einschätzungen ins Gespräch gekommen. Ergänzend habe ich im Sinne einer ‚symptomatischen Diskursanalyse‘ Dokumente, wie die Erlasse des Niedersächsischen Kultusministeriums und historische Entwicklungen analysiert.
Im Feld wurde schnell deutlich, dass sowohl politisch-regulative Akteure, wie das Kultusministerium, aber auch Schulen, Pädagog_innen und Eltern auf eine sich pluralisierende Gesellschaft reagierten. Daher würde es zu kurz greifen vorhandene Ausschlüsse ‚aufzudecken‘ und als ‚rassistisch‘ identifizieren zu wollen. Vielmehr zeichnete sich ab, dass die zahlreichen Akteure nicht explizit rassistisch motiviert handelten, sondern verschiedene Ansprüche des Förderns, Forderns, Integrierens, sowie ökonomische Logiken und meritokratische Diskurse anrufen, sodass rassistische Effekte besonders undurchschaubar jedoch nicht weniger wirkmächtig werden.
Mithilfe des von Marianne Pieper (2007) entwickelten Ansatzes der biopolitischen Assemblage4 kann über die Beforschung institutioneller Barrieren und individueller Ressentiments hinausgegangen werden. Der Ansatz bot in der durchgeführten Forschung die Möglichkeit, verschiedene, miteinander verknüpfte, aber auch sich widersprechende Diskriminierungsformen, die auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten sind, zu erfassen und darzustellen. Auf diese Weise können „emergente Gefüge heterogener Kräfte“ (ebd.: 200) wie juridische Anordnungen, diskursive Integrationsforderungen, schulische „Durchmarktung“, paternalistische Helfersymptomatiken und dynamische Prozesse der Subjektivierung in den Blick genommen werden.
In diesem Werkstattbericht möchte ich zeigen, wie spezifische Einteilungen der Kinder entlang der angenommenen Deutschkenntnisse in Separierung münden. So werde ich zunächst einen Blick auf den neuralgischen Punkt der schulorganisatorischen Praktiken der Einteilung werfen. Anschließend werde ich, ausgehend von dem zweiten neuralgischen Punkt des Austritts aus der Sprachlernklasse der Frage nachgehen, wie sich schulische Fördermaßnahmen im Spannungsfeld zwischen den artikulierten Zielen von ‚Teilhabe‘ und ‚Chancengleichheit‘ und der Festschreibung von Differenzen und Herstellung von Ungleichheit verorten lassen.
Einteilung in die Sprachlernklasse
Im Laufe der Forschung durchlebte ich verschiedene Phasen der Verwirrung. Nach verschiedenen Phasen der Beschäftigung mit dem empirischen Material und der Analyse lässt sich festhalten, dass im Feld kein einheitliches Verfahren zur Einteilung in die Sprachlernklassen existiert. Vielmehr gibt es verschiedene, sich überlagernde Referenzsysteme, die in einem „strukturierten Chaos“ als Rahmenbedingungen der Implementierung der Sprachlernklassen fungieren (Adam/Vonderau 2014: 8). Die Klasseneinteilung wird auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt und vollzogen, die ich im Folgenden kurz benennen werde.
Politisch-regulative Vorgaben bilden die erste Ebene, die in einer Anordnung des Kultusministeriums von 2014 bestehen (Erlass zur „Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache“). Diese gibt Rahmenbedingungen vor und eröffnet gleichzeitig Interpretationsspielräume und Leerstellen. Im Lauf der letzten Jahre lässt sich eine Dynamisierung und Verfeinerung der Einteilung durch politische und regulative Veränderungen auf dieser Ebene feststellen. Zu beobachten ist dies zum Beispiel anhand des Abstandnehmens von Kategorisierungen auf Grundlage des ‚ausländischen Hintergrunds‘ und einer im Zuge dessen zunehmenden Orientierung an der deutschen Sprachfähigkeit.
Die schulischen Eigenrationalitäten (Gomolla/Radtke 2009: 59) machen sich in der jeweiligen schulinternen Organisation der Einteilung bemerkbar und stellen die zweite Ebene dar. Von Überprüfungen mit Materialien zur Vorschulischen Sprachförderung,5 über den Vermerk „mangelnde deutsche Sprachkenntnisse“ in der ärztlichen Schuleingangsuntersuchung bis hin zu einer einfachen Anmeldungsemail aus dem Ausland lassen sich – anstelle eines einheitlichen Verfahrens – diverse Orientierungsrahmen und Praktiken der Einteilung an den einzelnen Schulen ausmachen.
Die Testung und Bewertung durch Pädagog_innen bildet die ‚praktische‘ Ebene der Einteilung. Hier entscheiden Lehrer_innen orientiert an verschiedenen Parametern, ob ein Kind in eine Regel- oder Sprachlernklasse eingeteilt wird. Diese Parameter variieren aufgrund des fehlenden normierten Verfahrens, Differenzlinien werden hier häufig auch in Hinblick auf den sozialen Hintergrund gezogen, sodass Abgrenzungen für einige Kinder durchlässiger werden und sich für andere verdoppeln.
Weitere Ebenen innerhalb dieser hochproduktiven (Grau-)Zone der „Herrichtung“ (Radtke 2014) sind die Praktiken der Eltern, die sich zu den Einteilungen verhalten, vorher präventive Maßnahmen gegen sie ergreifen oder die Entscheidung der Pädagog_innen beeinflussen, sowie des weiteren die öffentlichen Diskurse um Schule, Migration und Integration.
Ich werde mich im Folgenden exemplarisch auf die zweite Ebene konzentrieren, da sich die Organisation der Einteilungsverfahren in den einzelnen Grundschulen als besonders komplex und zugleich flexibel herausgestellt hat.
Schlaglicht: Einteilungsprozedere an den Grundschulen
Da es kein durch das Ministerium festgelegtes Verfahren und keine normierten Tests gibt (erste Ebene), mit denen Kinder den Sprachlernklassen zugewiesen werden, bietet sich den Schulen die Möglichkeit, angepasst an ihre Interessen und Eigenlogiken, ‚Einteilungsprozedere‘ festzulegen und so die Sprachförderung und damit einhergehende Einteilungsverfahren zu gestalten. Die Grundschulen nutzen die Spielräume, indem sie die ministeriale Anordnung nach eigenen Interessen ausdeuten und operationalisieren. Adam und Vonderau identifizieren solche interpretationsoffenen Leerstellen als „technokratische Mittel für flexible Ausschlussregime“ (Adam/Vonderau 2014: 11).
In den vier Grundschulen, an denen ich geforscht habe, lassen sich aus den Einteilungsverfahren divergente Motive und Mechanismen der Grenzziehung beobachten.
Das Einzugsgebiet der Wilhelm-Busch-Schule in Göttingen beispielsweise befindet sich in einem einkommensniedrigen und migrantisch geprägten Stadtteil. Die kleine Grundschule ist seit längerer Zeit bemüht, ihrem Ruf als ‚Brennpunktschule‘ entgegenzuwirken und organisiert deshalb zahlreiche Angebote und Aktionen für und mit ihrer Schüler_innenschaft. So ist man zum Beispiel am Programm „Schule mit Courage. Schule ohne Rassismus“ beteiligt oder ermöglicht den Schüler_innen mithilfe des Teilhabepakets6 zusätzliche Nachhilfe und Sprachunterricht. Seit dem aktuellen Schuljahr hat die Wilhelm-Busch-Schule „endlich“, so die Schulleiterin, eine Sprachlernklasse genehmigt bekommen, für die der Schule von der Landesschulbehörde 23 Lehrer_innenstunden pro Woche zugewiesen wurden. Durch die Sprachlernklasse wird es der Schule ermöglicht, ‚betreuungsintensive‘ Schüler_innen vom Regelunterricht zu separieren und – so die Argumentation der interviewten Schulleitungen – gezielter zu fördern. Dies biete, so erklärte mir ein Lehrer der Wilhelm-Busch-Schule, nicht nur die Möglichkeit, Kinder ‚nicht deutscher Herkunftssprache‘ im „geschützten Rahmen“ zu unterstützen, sondern natürlich auch die Möglichkeit „Schüler_innen, die besser an das Schulsystem angepasst sind, expliziter und effektiver zu fördern“.
Interessant ist in diesem Kontext auch ein Blick auf das Zusammenspiel von rassistischer Markierung und der Relevanz des sozialen Hintergrunds. Ein eindrückliches Beispiel war hier ein Junge, der vor einigen Monaten mit seinen „Akademikereltern“, so die Schulleiterin, aus Brasilien nach Göttingen gekommen war. Seine Eltern, die „beide an der Universität arbeiten“, hatten durch ihr Auftreten und zusätzlich finanzierte außerschulische Sprachförderung bewirkt, dass der Junge in eine Regelklasse anstatt in die Sprachlernklasse eingeschult wurde. Auf diesen Schüler waren die Lehrer_innen und die Schulleiterin der Wilhelm-Busch-Schule besonders „stolz“. In Interviews mit der Schulleitung, der Klassenlehrerin und der Sprachlernklassenlehrerin begründeten diese seine Intelligenz und seine Sprach- und Integrationsfortschritte mit seinem sozialen Hintergrund und erklärten damit, warum er nicht in eine Sprachlernklasse eingeschult wurde. Hier wird also eine Durchlässigkeit deutlich, die mit einer doppelten Stigmatisierung und Grenzziehung von migrantischen Kindern aus einkommensschwächeren Schichten einhergeht.
Für Eltern, deren Kinder als ‚Kinder mit Migrationshintergrund‘ oder Kinder ‚nicht deutscher Herkunftssprache‘ gelabelt werden und in separaten Sprachlernklassen unterrichtet werden sollen, sind die Sprachlernklassen, anders als für die schulinterne Organisation, Grund für Unmut. Sie provozieren Einspruch, da sie (in der migrantischen Elternschaft) teilweise als nicht förderlich, stigmatisierend und ausgrenzend wahrgenommen werden. Auf den Widerstand der Eltern wird seitens der Wilhelm-Busch-Schule mit dem Versuch der Herstellung von Legitimität reagiert, in Form von mehrstufigen Überprüfungsverfahren.
Dem Besuch in der Sprachlernklasse sind drei verschiedene Überprüfungen vorgelagert, erklärt mir die Schulleiterin in einem Interview. Bei genaueren Nachforschungen stellen sich diese Verfahren allerdings weitestgehend als Scharade dar: Das erste Verfahren, auf welches sich die Schulleiterin bezieht, ist die gesetzlich festgelegte medizinische Schuleingangsuntersuchung, welche nicht mit der Überprüfung der deutschen Sprachkompetenz betraut ist. Gomolla und Radtke stellen allerdings in ihrer Studie, trotz der Illegitimität dieses ‚Überprüfungsprozederes‘, eindeutige Zusammenhänge zwischen ärztlicher Schuluntersuchung und pädagogischer Bewertung der Sprachfähigkeit des Kindes fest (vgl. 2009: 168). Im zweiten Verfahren werden, so die Schulleiterin, die Kinder, in Absprache mit der Kita, durch eine Sprachlernklassenlehrerin und eine Förderlehrkraft geprüft. Aus dem Gespräch mit einer Sprachlernklassenlehrerin geht hervor, dass hier bereits eine spezifische Auswahl getroffen wird. Nach welchen Parametern und aufgrund welcher Umstände bestimmte Kinder geprüft werden und andere nicht, ließ sich leider nicht mehr rekonstruieren. Ein Faktor, der bei der Auswahl von Kandidat_innen für die SLK eine Rolle spielt, ist beispielsweise die vorherige Teilnahme an einer Vorschulischen Sprachförderung. Mit Pieper (2015) könnte man einen solchen Zusammenhang als Beginn einer „Maßnahmenkarriere“ verstehen. Zur Überprüfung verwendet die Sprachlernklassenlehrerin die Tests aus dem „Fit in Deutsch“ Verfahren, welche eigentlich Aufschluss über die Notwendigkeit einer Vorschulischen Sprachförderung im Kindergartenalter geben sollte, aber – so die Lehrerin – meistens ginge es „sowieso um Erfahrung“. Die dritte Überprüfung, auf welche sich die Schulleiterin bezieht, ist ein kurzer Test mit Kolleg_innen an der Schule, welcher der Sprachlernklassenlehrerin und DaZ-Beauftragten der Schule allerdings nicht bekannt ist.
Widerständige Praktiken waren aus meinem Blick auf die schulischen Akteure nur schwer zu erfassen, da ich vor allem / ausschließlich mit Pädagog_innen gesprochen habe und diese Widerstände nur bei deutlicher Artikulation als solche wahrnahmen. Ich erfuhr aber von zahlreichen Strategien, z.B. von gezielter Sprachförderung bis hin zu Formen des körperlichen Entziehens, um nicht in die Sprachlernklasse eingeteilt zu werden.
In der Heinrich-Zille-Schule, so versicherten mir die zuständigen Lehrkräfte, gibt es kein offizielles Überprüfungsverfahren zum Sprachstand. Es würde, so der Sprachlernklassenlehrer, bei der Schulanmeldung geschaut: „Das klappt, das klappt nicht“. Im Laufe eines Interviews erläuterte er mir, dass es kein nachvollziehbares, einheitliches Verfahrens brauche, da die Schulen nur ihren Bedarf bei der Niedersächsischen Landesschulbehörde melden müssten, ohne zu begründen, warum welches Kind in die Sprachlernklasse kommt.
„Da ist dann die Schulanmeldung, und da wird ja auch normal auf die Anmeldung geschrieben: ‚Kommt in die 1a, kommt in die 3b‘ und so weiter. Ist ja ganz normal, wenn neue Kinder dazukommen. Und da schreiben wir dann hin ‚Sprachlernklasse‘. Das ist nicht weiter problematisch.“ (I-SKL1, 15.04.2015)
Recht ähnlich sind die Prozedere in der Nürtingenschule, welche auch in einem strukturschwächeren und migrantisch geprägten Stadtteil Göttingens liegt und welche seit anderthalb Jahren eine inzwischen sehr gut frequentierte Sprachlernklasse betreibt.7 Im Interview mit der Sprachlernklassenlehrerin wurde mir zunächst beschrieben, wie die Sprachlernklasse an der Schule entstanden ist:
„Und zunächst hatten wir nur fünf, ich sag mal echte Sprachlernschüler, Bedingung ist aber zehn mindestens zu haben, maximal sechzehn. […] Und dann haben wir gesagt: ‚Okay, es gibt ja immer Menschen, die Sprachunterricht haben müssen und die der deutschen Sprache nicht hundertprozentig mächtig sind. Migrationshintergrundkinder haben wir genug hier.‘ Haben wir aus allen Klassen namentlich welche zusammengesucht und natürlich auch gefunden und konnten damit die Voraussetzungen für so einen Antrag, hatten wir damit, waren gegeben und haben auch wie gesagt ein positives Licht bekommen und bekamen dann die Sprachlernklasse […]. Es dauert gar nicht lange und da war die Klasse voll. Mehr als voll.“ (I-SKL2, 12.04.2015; Herv. J.E.)
Die Bedeutung dieses Interviewausschnitts liegt darin, dass hier explizit gemacht wird, dass die Schüler_innen der Nürtingenschule nicht auf der Grundlage einer methodisch nachvollziehbaren Überprüfung und eines ‚echten‘ Bedarfs in die Sprachlernklasse kommen. Maßgeblich für die Aufteilung ist das „organisatorische Kalkül der Schuladministration“ (Czock 1986: 4) und nicht die tatsächlichen Bedürfnisse der Schüler_innen. Auf meine Nachfrage, ob die deutschen Sprachkenntnisse, aufgrund derer die Kinder laut Erlass aufgeteilt wurden, gar nicht getestet würden, erklärte mir die Sprachlernklassenlehrerin, dass nicht getestet werde, da nichts zum Testen da sei: „Nee, die können ja nichts. Sich begrüßen…, aber da ist erstmal nichts“ (I-SKL2, 12.04.2015).
Eigenlogik der Schulen
Die Beispiele zeigen, dass schulische Selektions- und Segregationsprozesse im Zuge der einführend genannten gesellschaftlichen Veränderungen durch den Fokus auf die Sprachfähigkeit reorganisiert, verfeinert und flexibilisiert werden. Vor dem Hintergrund sinkender Schüler_innenzahlen, einer ‚Durchmarktung’ der Schulen, der Konkurrenz um Ruf, Lehrer_innenstunden und Schüler_innen verändert sich auch die Wahrnehmung der Kinder mit Migrationshintergrund: von einer Belastung hin zu einer Eröffnung neuer Handlungsspielräume für die Schulen. Dies erklärt auch, warum die Schulen sehr unterschiedliche Prozedere entwickelt haben. Die Vorgaben des Kultusministeriums wurden auf den jeweiligen Bedarf abgestimmt.
Die schulische Handlungs- und Entscheidungsmacht in Hinblick auf Einteilungsverfahren wird demnach vermehrt durch einen rationalen Umgang mit knappen Ressourcen beeinflusst. Diese Entwicklung lässt sich mit dem Ansatz des Postliberalen Rassismus erfassen, der sich vermehrt durch Nützlichkeitserwägungen und flexible Ein- und Ausschlüsse artikuliert (Pieper/Tsianos 2011). So bleibt festzuhalten, dass rassistische Ausschlüsse, im Rahmen der Einteilung in Regel- oder Sprachlernklasse, anhand von rationalen Kriterien hierarchisiert und legitimiert werden und sich so segregierende Praktiken ohne explizite rassistische Rhetorik in der Institution Schule vollziehen (vgl. zur Nieden/Karakayali 2013: 72).
Im ersten Schritt habe ich den neuralgischen Punkt der Einteilung nach zugeschriebenem Sprachförderbedarf untersucht. Eine solche Separierung kann an sich als stigmatisierend und ausgrenzend wahrgenommen werden. Ich möchte aber darüber hinaus auf ihre Auswirkungen auf die weitere Bildungslaufbahn eingehen, um den Austritt aus der Sprachlernklasse nach einem Jahr als einen zweiten neuralgischen Punkt in den Blick zu bekommen, an dem sich trotz oder gerade durch das Jahr isolierter Förderung Chancen und Schwierigkeiten ergeben.
Aus der Sprachlernklasse ins…!?
Durch die zeitliche Begrenzung und Durchlässigkeit der Sprachlernklassen wird ersichtlich, dass diese nicht als dauerhafte Verwahrung gedacht sind. Die temporär begrenzte Separierung der Kinder in Sprachlernklassen ist vielmehr ‚Mittel zum Zweck‘. Der Zweck, so heißt es auf politisch regulativer Ebene, besteht in der „Förderung von Bildungserfolg und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2014). Im gleichnamigen Erlass werden verschiedene Maßnahmen angeführt, mithilfe derer die „zu erreichende Integration“ (ebd.) vorangetrieben werden soll. Dass in der Realität sehr unterschiedliche Motive das Geschehen um die Sprachlernklassen lenken, wird bereits in der Betrachtung der Einteilungsmechanismen deutlich. Durch einen multiperspektivischen Zugang können im Folgenden die verschiedenen Aus- und Umdeutungen der vermeintlich ‚integratorischen Aufgabe‘ der Sprachlernklasse eingefangen werden. Darüber hinaus wird nach Konsequenzen und Widersprüchlichkeiten der Auswirkungen der Sprachlernklasse auf die Bildungskarrieren ihrer Teilnehmer_innen gefragt. Es geht ergo darum, die Frage zu stellen: Handelt es sich um ein Sprungbrett in eine erfolgreiche Bildungslaufbahn oder um eine Sackgasse, die Ausgrenzungen und Benachteiligung weiter zementiert?
Integration
In den erhobenen Daten geht es auf verschiedenen Ebenen, wie der politischen Bewerbung der Maßnahme, in pädagogischen Diskursen, aber auch in organisatorischen Rechtfertigungen immer wieder um die ‚zu erreichende Integration‘. Darum muss gefragt werden, welche Integrationsbegriffe hier mit welchen diskursiven Wirkungen operationalisiert werden. Diese Integrationsbegriffe formieren sich im Rahmen eines sich ständig modifizierenden Integrationsdispositivs, das aktuell von neoliberalen Leistungsanforderungen und Hierarchisierungen entlang gesellschaftlicher und juridischer Stratifikationen durchdrungen ist. Gleichzeitig wirken hier auch migrantische Kämpfe und Forderungen, die sich gegen diskriminierende Regelungen und Praktiken auflehnen.
Castro Varela bezeichnet den Integrationsdiskurs als „plurales Regime der Kontrolle und Normalisierung“ (2015: 66) und schließt damit an die machtanalytische Betrachtungsweise Michel Foucaults an, mithilfe derer Integrationspolitiken als Normalisierungs- und Disziplinierungsregime beschrieben werden können, die versuchen alles, was sich nicht in eine Vorstellung des ‚Normalen‘ und ‚Richtigen‘ fügen lässt, auszuschließen, zu marginalisieren oder aber eben anzupassen. Die Aufgabe der Schule besteht darin, fördernd und disziplinierend die geforderten ‚Integrationsbemühungen‘ zu steuern und zu lenken (vgl. ebd.). Die Kinder in den Sprachlernklassen sollen, zugespitzt, so ‚geformt‘ werden, dass sie in das monolinguale, homogene Schulwesen ‚passen‘ und hier an dem institutionell verstetigten sozialen Konsens der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ teilhaben können. Schule kann, mit Castro Varela, als legales Instrument zur Fokussierung von Integration verstanden werden, in der gleichermaßen strukturelle Diskriminierung wirksam wird (vgl. ebd.: 76).
Um die vom Kultusministerium beschriebene ‚Integration‘ im Sinne von ‚Teilhabe‘ und ‚Chancengleichheit‘ durch die Fördermaßnahme zu erreichen, ist der reibungslose Übergang von Sprachlernklasse zu Regelklasse wichtig. Um den Wechsel zu erleichtern, sind im ministerialen Erlass ‚Durchlässigkeiten‘ und Erleichterungen vorgesehen, auf die ich im Folgenden anhand konkreter Schul-Beispiele exemplarisch schauen werde.
Durchlässigkeit
An der Wilhelm-Busch-Schule wird der während der Teilnahme an der Sprachlernklasse vorgesehene Besuch einer entsprechenden Regelklasse für bestimmte Stunden nicht durchgeführt. Auf meine Frage, warum die Schule diese Möglichkeit, Kinder bereits im Laufe des Jahres in der Sprachlernklasse am normalen Unterrichtsgeschehen teilhaben zu lassen und so den Wechsel sowohl sozial als auch fachlich aufzugleisen, nicht ermöglicht, verfolgt die Schulleiterin zwei verschiedene Erklärungsmuster, die paradigmatisch sind. Zunächst argumentiert sie mit einer „Zugehörigkeit“, die die Kinder in der separierten Sprachlernklasse erfahren sollen und die nicht durch Austausch und Wechsel in einen anderen Klassenverband gestört werden soll:
„Weil die halt besser so gefördert werden können, wenn die in einer Gruppe sind und in der Gruppe dann auch erstmal bleiben. Das ist wenn Kinder hin und her switchen, dann wissen sie gar nicht diese Zugehörigkeit, wo sie jetzt hingehören. Und dann hat man auch wieder diese Abgrenzung, oh da kommen jetzt wieder die Sprachlernklassenkinder in Sport dazu oder in Kunst dazu.“ (I.SLWB, 21.04.2015, Herv. J.E.)
Diese pädagogisierende Deutung der ministerialen Aufforderungen, Durchlässigkeit zu schaffen, um eine erfolgreiche ‚Integration‘ im deutschen Schulsystem zu ermöglichen, schien mir im Gespräch nicht plausibel. Auf meine irritierte Nachfrage, ob es diese – vom Kultusministerium vorgesehene – Form der Durchlässigkeit an ihrer Schule sonst auch nicht gäbe, erklärte sie:
„Nein. Im Moment nicht, war so geplant, aber stundenplantechnisch eigentlich unmöglich. Da müsste man dann reine Deutschleisten machen, reine Matheleisten und da hab ich dann immer das Problem: Ich hab nicht genügend Mathelehrer. Weil die müsste dann alle zugleich unterrichten und das geht dann gar nicht.“ (I.SLWB, 21.04.2015)
Die Schulleiterin nennt somit in unserem Gespräch zwei sehr unterschiedliche Erklärungen für die Nichtexistenz der ministeriell beworbenen Durchlässigkeit an ihrer Schule. Die strukturellen Schwierigkeiten werden jedoch erst auf explizites Nachfragen eingeräumt. Hier geht es nicht um ein pädagogisches Argument, sondern um fehlende Kapazitäten der Grundschule. Das hier deutlich werdende Muster, bei dem im Vordergrund pädagogische Integrationsbestrebungen und im Hintergrund strukturelle Engpässe bzw. schulinterne Rationalitäten wirken, durchzieht die gesamte Forschung und scheint paradigmatisch für die Sprachlernklassen zu sein.
Ein weiterer Aspekt, der die Dynamik der Sprachlernklassen bestimmt, wird im konkreten Übergangsmanagement der Schulen deutlich. Von politischer Seite wird wieder von Unterstützung und garantierter Anschluss(sprach)förderung gesprochen, wofür in der Praxis – aufgrund der strukturellen Lage – meist wenig Handlungsspielraum besteht. Auch die vom Ministerium für den Raum Göttingen eingesetzte Deutsch-als-Zweitsprache-Beraterin (DaZ) betont, dass Unterstützung und Orientierung an dieser Stelle von großer Bedeutung für die Erfolgschancen einer Schullaufbahn sind. Trotzdem wird die Umsetzung nicht nur nicht durch entsprechende strukturelle Weichenstellung sichergestellt, sondern gar konterkariert. Die Crux, so erklärten mir mehrere Personen, läge darin, dass die DaZ-Förderstunden, die vom Ministerium für Sprachförderunterricht bereitgestellt werden – insbesondere in kleineren Grundschulen – mit den Lehrer_innenstunden der Sprachlernklassen aufgebraucht würden. So stehen aufgrund der separierten Beschulung „keine weiteren Stunden für DaZ-Förderunterricht zur Verfügung“ (Fachberaterin Interkulturelle Bildung 02.12.2014). Die Sprachlernklassen-Lehrerin der Nürtingenschule erklärt:
„Und die Schule hat dann auch ein Problem, weil im Erlass steht, dass die Weiterförderung, oder Anschlussförderung garantiert werden muss, sein müsste. Das steht im Erlass, das ist sozusagen die gesetzliche Vorgabe. Aber es gibt einen großen Pool an Förderstunden für Niedersachsen und aus dem werden zunächst einmal die Sprachlernklassen bedient. Das heißt, desto mehr Sprachlernklassen es gibt, desto weniger Stunden wird es für die ganzen anderen additiven Fördermaßnahmen geben.“ (I.SKL2, 12.04.2015)
Hier ergibt sich ein Bild der Schulpolitik, in der ‚Teilhabe‘ eine zentrale Rolle spielt, die auch medial immer wieder zum Beispiel im Zusammenhang mit der Erhöhung der Anzahl der Sprachlernklassen hervorgehoben wird. Auf der praktischen Ebene aber scheint eine Umsetzung aufgrund fehlender struktureller Weichenstellungen nicht in erforderlichem Maß stattzufinden. Dies versuche ich im weiteren Verlauf zugespitzt auf die Frage der Auswirkungen der SLK nach einem Jahr weiterzuverfolgen.
Sich öffnende und sich verschließende Chancen
Konkret wird die Situation der Kinder nach einem Jahr von den Praktiker_innen vor Ort als „schwierig“ beurteilt. Die Schulleiterin der Wilhelm-Busch-Schule erklärt mir, dass rein theoretisch alle Teilnehmer_innen der Sprachlernklassen alters-, klassen- und bildungsstandsgerecht unterrichtet werden und zusätzlich in Deutsch als Zweitsprache gefördert werden müssten, um nach einem Jahr dem Fach- und Sprachniveau der Regelklasse zu entsprechen. Sie resümiert: „Ja die müssten eigentlich nach einem Jahr schon so fit sein wie die anderen [Pause]. Sollten [betont]“ (I.SLWB, 21.04.2015). Auch die DaZ Net Koordinatorinnen, die die Situation an verschiedenen Sprachlernklassen der Stadt überblicken, stellen fest:
G.L.: Und wenn man da mit Niveau A2 rauskommt8 [stockt]
E.W.: [springt ein] Reicht das nicht![…]
G.L.: Nach einem Jahr sind die wirklich sehr auf sich gestellt. Die haben enorme Probleme.
(DaZ Net Koordinatorinnen 16.04.2015)
Mithilfe meines Materials lässt sich sehr eindrücklich die Ambivalenz von sich auf dem Papier öffnenden Chancen und den Momenten des Scheiterns in der praktischen Umsetzung sowie zwischen wohlwollenden Pädagog_innen und den strukturellen Hindernissen darstellen. Der obige Interviewausschnitt deutet zwei zentrale Probleme an: einmal innerhalb der Sprachlernklasse durch Separierung und starken Sprachlernfokus, infolgedessen der zu bearbeitende Unterrichtsstoff in Mitleidenschaft gezogen wird, sowie fehlende Kooperationen mit Eltern und fehlende Durchlässigkeit; und einmal im ‚Danach‘, wenn kein gutes Übergangsmanagement stattfindet und die Kinder zu geringe Folgeunterstützung erhalten, weder in Form von zusätzlichen Aufklärungs- und Förderangeboten noch in Form von integrativer Förderung innerhalb des Regelunterrichts.
Die Expert_innen im Feld, DaZ-Beraterinnen, Sprachlernklassenlehrer_innen und Schulleitungen sehen die Stärken der Sprachlernklasse in den relativ kleinen Lerngruppen, die in dem „geschützten Raum“, der durch Segregierung geschaffen wird, und durch geschultes Personal auf den Regelunterricht vorbereitet wird. In diesen Argumentationen geht es immer um die Anpassung an den ‚normalen Schulalltag‘. So wird eine Normalität innerhalb der Schule konstruiert, an die sich – vornehmlich durch den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse – angepasst werden soll. Dies entspricht der oben beschriebenen Logik des Integrationsdispositivs, das auf politischer Ebene mit einem positiven Vokabular von ‚Chancengleichheit und Teilhabe‘ operiert, während in der Praxis Integration als Anpassungsforderung an eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft verstanden wird. Bezieht man sich aber weniger auf die Aussagen der Praktiker_innen, sondern schaut auf die dargestellten Versuche der Förderung, so lässt sich feststellen, dass der Umgang mit herkunftsbezogener sprachlicher Diversität in den Schulen zwar auf Bedürfnisse reagiert, schlussendlich aber aufgrund der inkonsequenten Verfolgung der postulierten Prämisse ‚Teilhabe‘ scheitert.
Auch in Hinblick auf die langfristigen Ziele ‚Bildungsgerechtigkeit und Partizipation‘, die sowohl von der migrantischen Bevölkerung gefordert, als auch von der Politik postuliert werden, greifen die separierenden Fördermaßnahmen nicht, da sie zu inkonsequent, kurzsichtig und ohne flankierende Maßnahmen umgesetzt werden.
Literatur
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