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Europäische ›Grenzsicherung‹ vor dem Hintergrund des neuen Migrationsgesetzes in der Türkei

Fritz Rickert

Abstract This article analyses the background of measures taken at the EU-Turkey border that were part of the EU-Turkey deal in 2016 or came along with the latter. In doing so, it examines the new Turkish Law on Foreigners and International Protection and takes a closer look at its development. Hereby, the paper shows on the one hand that this national law was strongly influenced by the EU and that it constitutes an EU-orientated and often repressive migration policy in Turkey itself as well as at its borders. On the other hand, the text makes clear that the enforcement of the measures at the Turkish-European borders since 2016 would not have been possible without the establishment of this law on foreigners. To summarize, these current attempts at sealing European borders are not just the outcome of negotiations between the EU and Turkey in 2015, but rather a continuation of a long standing engagement of the EU with Turkey in order to control and decrease migration to Europe.


Keywords migration policy, asylum, European Union, Turkey, externalisation


Die starken Migrationsbewegungen, die Schengen-Europa zwischen Sommer 2015 und Frühling 2016 erreichten, stellten eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union dar. Im Mittelpunkt stand dabei die Route von der Türkei nach Griechenland. Mit einer zuvor nicht dagewesenen Dynamik überquerten so viele Menschen wie nie zuvor die Seegrenze auf die griechischen Inseln. Nach Zahlen des UNHCR nutzten allein im Jahr 2015 über 850.000 Menschen diese Route (UNHCR 2016).

Vor diesem Hintergrund versuchte die EU seit 2015 einmal mehr die Zahlen der über die Türkei nach Europa kommenden Migrant_innen zu reduzieren sowie Rückführungen in die Türkei zu forcieren (vgl. European Council 2015). Nachdem die EU im Oktober 2015 zusammen mit der Türkei einen gemeinsamen Aktionsplan verabschiedete, welcher eine engere Kooperation zwischen Bulgarien und der Türkei, verschärfte Kontrollen durch die türkische Küstenwache und beschleunigte Rückübernahmen vorsah, veröffentlichte die Europäische Kommission bereits wenige Tage später einen 17-Punkte-Aktionsplan. Um das Grenzmanagement zur Türkei zu verbessern, wurde die Frontex-Meeresoperation Poseidon in Griechenland ausgeweitet, der Frontex-Einsatz an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei vergrößert und die »Nutzung des gesamten Potenzials des EU-Türkei-Rückübernahmeabkommens« vorgesehen (European Commission 2015a; vgl. European Commission 2015b).

Am 18. März 2016 gipfelten all diese Bemühungen »die Tage der irregulären Einwanderung« zu beenden (Donald Tusk) schließlich im sogenannten EU-Türkei-Deal (Die Welt 2016). Dieser sieht zum einen vor, dass die türkische Küstenwache, unterstützt durch Nato- und Frontex-Schiffe, vermehrt Boote auf dem Weg nach Griechenland abfängt. Zweitens soll Personen, die dennoch illegalisiert auf die griechischen Inseln gelangen, die Weiterreise verwehrt werden und drittens sollen diejenigen, denen in Griechenland kein Anspruch auf Schutz zugesprochen wird, konsequent in die Türkei zurückgeführt werden (vgl. Europäischer Rat 2016). Auch wenn diese Rückführungen kaum umgesetzt wurden, reduzierte der Deal dennoch effektiv die Überfahrten von der Türkei auf die griechischen Inseln. Erreichten in den Wochen vor Abschluss des Abkommens täglich im Schnitt noch etwa 1800 Personen die griechischen Inseln, verringerte sich diese Zahl bis September 2016 auf ca. 100 am Tag (vgl. UNHCR 2016).

Doch kann der EU-Türkei-Deal lediglich als Folge der oben genannten diplomatischen Verhandlungen seit dem Herbst 2015 verstanden werden oder mussten ihm nicht weitreichendere Maßnahmen vorausgehen, die ihn letztlich erst möglich und umsetzbar gemacht haben? Ein zeitlich auf das Jahr 2015 und räumlich auf die EU begrenzter Blick greift hier zu kurz. Vielmehr gehe ich davon aus, dass der EU-Türkei-Deal nur im Kontext umfassender juristischer und struktureller Maßnahmen in der Türkei selbst zustande kommen konnte. Diese wurden durch das neue »Ausländer- und internationale Schutzgesetz« der Türkei etabliert (im Folgenden Migrationsgesetz), das die türkische Nationalversammlung 2013 verabschiedet hatte (Republik Türkei 2013).

Ausgehend von Expert_inneninterviews, die ich im Jahr 2014 in der Türkei geführt habe, wird dieser Zusammenhang im Folgenden erläutert. Zunächst werde ich dazu auf die migrationspolitischen Herausforderungen eingehen, mit denen sich die EU vor der Schaffung des türkischen Migrationsgesetzes konfrontiert sah. Anschließend betrachte ich, wie die EU auf den Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen versuchte. Der Verabschiedung des neuen Migrationsgesetzes ging ein jahrelanger Aushandlungsprozess voraus, an dem neben staatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisation auch internationale Organisationen beteiligt waren. Obwohl die EU an der Aushandlung und Formulierung dieser nationalen Gesetzgebung nicht direkt beteiligt war, konnte sie sowohl über die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als auch über die stark eingebundene Internationale Organisation für Migration (IOM) sowie über das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) einen bedeutenden Einfluss auf den Inhalt und die Verabschiedung des Gesetzes ausüben, wie ich im Folgenden zeigen werde. Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich das Migrationsgesetz selbst und seine Relevanz für den EU-Türkei-Deal in den Blick nehmen.

Mangelnde Kontrolle und die Missachtung von Menschenrechten: Problemstellung für die EU

Angesichts zahlreicher Konflikte in den Nachbarländern sowie der Versuche der EU, andere Fluchtrouten nach Europa zu schließen, wurde die Türkei bereits in den 1990er Jahren zu einem Transitland für Menschen auf dem Weg nach Europa und nimmt daher schon lange eine zentrale Rolle in der europäischen Migrationspolitik ein (vgl. İçduygu 2011: 9f.; European Commission 1998: 44). Der EU gelang es jedoch lange Zeit nicht, unerwünschte Migrationsbewegungen an der türkischen Grenze oder innerhalb der Türkei selbst zu begrenzen und zu kontrollieren.

Bereits seit Mitte der 1990er Jahre und einmal mehr ab der Jahrtausendwende wiesen verschiedene NGOs und schließlich auch der Europarat auf massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migrant_innen in der Türkei hin. In ähnlicher Regelmäßigkeit urteilte zudem der EGMR, dass die Türkei immer wieder gegen das Refoulement-Verbot verstoße und auch im Allgemeinen kein sicheres Land für Flüchtlinge sei (vgl. Kirişci 2012: 20).1 Doch selbst formal fehlte der EU eine juristische Grundlage, um die Türkei zu einem ›sicheren Drittstaat‹ zu erklären und Geflüchtete in hoher Zahl zurückschieben zu können, denn das Land hatte die Genfer Flüchtlingskonventionen nur unter dem geografischen Vorbehalt unterzeichnet, dass nur aus Europa fliehende Menschen in der Türkei als Flüchtlinge anerkannt werden können. Entsprechend existierte weder ein Gesetz noch ein Asylverfahren, das den Umgang mit nicht aus Europa kommenden Geflüchteten regelte.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten standen jedoch nicht nur vor humanitären sowie rechtlichen Herausforderungen, um Rückführungen und die Abschottung der Grenzen zur Türkei zu rechtfertigen. Da eine auf Migrant_innen und Schutzsuchende zugeschnittene Gesetzgebung fehlte, herrschten in der Türkei gegenüber Geflüchteten weit verbreitet Willkür, Repression und Menschenrechtsverletzungen von Seiten der Sicherheitsorgane. Zugleich öffneten sich dadurch jedoch auch große unkontrollierte Räume der Migration, die für Menschen auf dem Weg in die EU bedeutende Handlungsspielräume boten. Weder gab es eine auf Flucht und Migration spezialisierte Behörde, noch Sicherheitsorgane und ausreichende Infrastruktur, die Migrant_innen in der Türkei effektiv verwalten, kontrollieren und nach rechtsstaatlichen Standards sowie ganz praktisch ggf. über längere Zeit inhaftieren, ausweisen oder in Empfang nehmen konnten. Nur aufgrund dieser Zustände war für viele Migrant_innen ein Verbleib und Überleben in der Türkei möglich (vgl. Hess/Karakayali 2007: 44; Soykan 2012: 40; Düvell/Kopp/Kopp 2014: 57, 22). Repression und Freiheiten stellten als Folge fehlender Institutionen, Ressourcen und Regelungen in der Türkei somit zwei Seiten derselben Medaille dar. Dieser Zustand stand jedoch dem Gedanken eines europäischen Migrationsmanagements und einer effektiven Kontrolle der Migration fundamental entgegen.

Eine Vertreterin der IOM äußert sich mit Blick auf diesen Zusammenhang in einem von mir geführten Interview folgendermaßen:

»Turkey didn’t have any migration policy. […] There was no coordination at all. Everyone [was] doing something. […] Before setting up a good system you cannot expect that this country will prevent irregular migrants coming to Europe or others. It’s not fair to ask this from a country where no well grounded system is in place.« (IOM 2014: 178ff.)

Mangelnde Kontrolle, fehlende Regelungen und Institutionen sowie die Missachtung von Menschenrechten müssen somit als zentrale Problemstellungen für die EU angesehen werden, die es ihr lange Zeit erschwerten, eine Reduzierung der Migration von der Türkei in die EU politisch, juristisch und praktisch durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die langjährigen Bemühungen der EU erklären, ein effektives System des Migrationsmanagements in der Türkei zu etablieren.

Auf dem Weg zu einem »effektiven System des Migrationsmanagements«

Verschiedene in der türkischen Migrationspolitik aktive Institutionen bewerten das 2013 verabschiedete Migrationsgesetz als einen historisch bedeutsamen und richtungsweisenden Schritt in der Migrationspolitik des Landes (vgl. UNHCR 2013; ECRE 2013; Elitok 2013: 164). Im Folgenden gehe ich daher auf die Entstehung des Gesetzes sowie auf die daran beteiligten Akteure ein und zeige anschließend seine Implikationen und deren Relevanz für den EU-Türkei-Deal auf.

Eine Analyse der diplomatischen Dokumente und der EU-geförderten Programme im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zeigt auf, dass die EU schon lange versucht, in der Türkei ein umfassendes Migrationsmanagementsystem nach europäischem Vorbild zu etablieren. In diesem Kontext betonte sie immer wieder, dass die Türkei Menschenrechte beachten und gewährleisten müsse, während zugleich jedoch ein Großteil ihrer Maßnahmen auf eine Kontrolle und Begrenzung von Migration ausgerichtet war. Seit 1998 zieht sich eine Kritik an »einer großen Anzahl illegaler Immigranten« und die Forderungen, diese »illegale Migration« zu managen und zu bekämpfen, durch die Beitrittspartnerschaftsdokumente und Fortschrittsberichte der EU-Kommission (vgl. European Commission 1998; 2008: 71ff.; 2012: 75ff.; Europäischer Rat 2003). Neben diplomatischem Druck trieb die EU durch konkrete Förderprogramme den Aufbau einer Infrastruktur und Gesetzgebung zur Regulierung von Migration voran.2

Bei einem Blick in die Fortschrittsberichte wird jedoch deutlich, dass diese Bemühungen der EU lange Zeit nur sehr begrenzte Resultate mit sich brachten. Sowohl in Bezug auf den Aufbau eines Asylsystems als auch in Bezug auf das »Management von irregulärer Migration« im Ganzen wird immer wieder ein nur »begrenzter Fortschritt« festgestellt und die Notwendigkeit »erhöhter Anstrengungen« gesehen (vgl. European Commission 1998; 2008: 71ff.; 2012: 75ff.). Erst mit der Verabschiedung des Migrationsgesetzes 2013 wird der Türkei schließlich ein »signifikanter Fortschritt« im Bereich der Migration attestiert und hervorgehoben, dass sie hiermit den Forderungen nach einem umfassenden Rechtsrahmen im Bereich der Migration sowie nach einem effektiven Migrationsmanagement weitgehend nachkommen würde (European Commission 2014: 18; 2013). Bei der Entstehung dieses Gesetzes nahmen insbesondere die IOM sowie das UNHCR eine bedeutende Rolle ein.

Die IOM als Serviceprovider der EU

»IOM actually has been working with the governments since its establishment. […] We have been doing and we have been assisting from Ministry of Foreign Affairs especially on for example human trafficking issues. We have been working with the Turkish national police on various ideas of migration management.« (IOM 2014: 68)

In dieser Aussage einer langjährigen Mitarbeiterin der IOM spiegelt sich wider, wie die Wahrung der Menschenrechte und die Notwendigkeit, staatliche Sicherheitsorgane zu stärken, zusammenhängen. Hauptsächlich von der EU, ihren Mitgliedsstaaten sowie den USA finanziert (vgl. IOM 2014: 19), ist die IOM in der Türkei zentrale Partnerin der EU, um ein System des Migrationsmanagements aufzubauen. Im Sinne ihres noch 2014 auf ihrer Internetseite genannten Ziels, »irreguläre Migration und Menschenhandel« unter einem »menschenrechtsorientierten Ansatz« zu bekämpfen, führte die IOM in der Türkei eine Vielzahl von Projekten in migrationspolitischen Bereichen durch (vgl. IOM Turkey 2014). Ab 2009 arbeitete die IOM schließlich direkt mit den Beamt_innen des türkischen Innenministeriums an der Formulierung des Migrationsgesetzes, finanziert von der EU und insbesondere von Schweden. Die interviewte Mitarbeiterin schätzt den Einfluss der IOM auf den letztlich entstandenen Gesetzestext hierbei als sehr hoch ein (vgl. IOM 2014: 56ff., 88ff.). Sie gibt zudem offen zu, dass bei solchen Projekten ein entsprechendes Agenda Setting von Seiten der EU stattfand: »This is not my personal opinion but if you work in such organizations there are priorities and also there are priorities of funders. They are doing also agenda setting in the country. […] The whole system is based on the interests« (ebd.: 165). Primärer Referenzpunkt der IOM während der Entwicklung des Gesetzes waren schließlich vor allem die europäischen Standards sowie die Gesetze einzelner westlicher Länder (ebd.: 9).

Das UNHCR als strategischer Verbündeter des Staates?

Auch das UNHCR hatte im Schreib- und Aushandlungsprozess des Gesetzes eine bedeutende Rolle inne. Es stellte von 2008 an mehrere beratende Mitarbeiter_innen bereit, die zusammen mit den türkischen Beamt_innen den Gesetzesentwurf entwickelten (vgl. Çorabatır 2014: 105; IOM 2014: 34). Dabei nahm das UNHCR während des Gesetzgebungsprozesses immer weniger eine kritische Beobachter- und Beraterrolle ein. So verzichtete es selbst auf zentrale Forderungen, wie den geografischen Vorbehalt abzuschaffen, gab seine traditionelle Funktion, staatliche Akteure beim Umgang mit Schutzsuchenden kritisch zu beobachten, weitgehend auf (vgl. Çorabatır 2014: 67, 115, 124f.; Mülteci-Der 2014: 195ff.) und lobte schließlich sogar den migrationspolitischen Kurs der türkischen Regierung (Today’s Zaman 2010). Der ehemalige Pressesprecher des UNHCR’s, Metin Çorabatır merkte 2014 diesbezüglich an:

»Between 2011 and 2013 UNHCR was very silent to some violations in the case of mass influxes. […] It was not allowed to work with good main functions in the camps. Still it is the case. But it didn’t criticize the Turkish government. It invited Angelina Jolie, the High Commissioner, just to say [clapping hands] these camps are five star camps, everything is perfect. If there are negative things, fires in the tents, protests, killings, human trafficking, it kept silence. You know to save the law to be passed.« (Çorabatır 2014: 67)

Darüber hinaus stand laut Çorabatır bei der konkreten Mitgestaltung des Gesetzestextes und bei der Lobbyarbeit die Zufriedenstellung der Europäischen Union an allererster Stelle. Verbesserungen im Sinne der Betroffenen waren hier nachrangig:

»The main activity was – this is my opinion – to make something which would be acceptable by international community. Above all EU. […] So my argument is that it was just to make EU happy. With minimum standards available to match. And UNHCR was silent on the missing parts and empathized and propagated in Europe for the good parts. For improvements of the draft. But didn’t negotiate or didn’t take the weak parts to the attention of EU Strasbourg court etc. They tried to keep it low profile and advocate the draft as a big step forward.« (Çorabatır 2014: 105)

Diese starke Orientierung an den Forderungen der EU, die auch im Sinne des türkischen Staates waren, spiegelte sich auch in dem letztlich auf ein Minimum reduzierten Umgang mit NGOs wieder (vgl. Mülteci-Der 2014: 168ff.; Çorabatır 2014: 115, 124ff.; HCA 2014: 98, 122). Zwei in den Prozess involvierte Interviewpartner_innen merkten zudem an, dass das UNHCR während der finalen parlamentarischen Verhandlungen versuchte, Kritik an repressiven Regelungen des neuen Gesetzes sowie Forderungen nach weitgehenderen Rechten für Geflüchtete zu unterbinden (Anonyme Quelle 2014a; 2014b).3

Diese unkritische Haltung in den Aushandlungsprozessen des Gesetzes lässt sich zum einen mit dem starken Wunsch nach einer schnellen Verabschiedung des Gesetzes begründen, zum anderen aber auch mit der Abhängigkeit des UNHCR von westlichen Geldgeber_innen.4 Diese forderten schon lange, dass das UNHCR in der Türkei die inoffiziellen und vom Staat tolerierten Asylverfahren an eine staatliche Behörde übergeben müsse (vgl. Çorabatır 2014: 124f., 71).

»UNHCR has a problem of getting funds from its own sources. Every year we have to make a budget. The numbers [of refugees] were increasing. […] UNHCR was aware that one day the budget was cut […] [and] was happy to handover RSD [refugee status determination] work to the government.« (Çorabatır 2014: 71)

Sowohl die IOM als auch das UNHCR, als zwei direkt an der Entstehung des türkischen Migrationsgesetzes beteiligte Akteure, handelten demnach stark im Interesse der EU und unterstützten den Aufbau eines von der EU geforderten Migrationsmanagements.

Das neue Migrationsgesetz

Betrachtet man das bis 2013 ausgehandelte und schließlich 2014 in Kraft getretene Migrationsgesetz selbst, wird deutlich, dass es insbesondere die schon oben dargestellten Problemstellungen in den Blick nimmt, mit denen sich die EU bei der Durchsetzung ihrer Migrationspolitiken in der Türkei konfrontiert sah: mangelnde Kontrolle von Migration, fehlende Regelungen und Institutionen sowie die Missachtung von Menschenrechten.

›Humanitär‹, …

Durch das Gesetz wird Geflüchteten aus dem außereuropäischen Raum nun erstmals ein rechtlicher Anspruch auf ein umfassendes Asylverfahren mit klaren Vorgehensweisen gewährt (§§ 4, 65) und in Aussicht gestellt, einen rechtlich abgesicherten Status zu erlangen, der sie – zumindest für einen gewissen Zeitraum – vor Abschiebungen schützt (§§ 46, 48, 51, 61–63). Während des Asylverfahrens und darüber hinaus werden ihnen weitreichende Rechte, wie ein zügiges Verfahren (§75ff.) oder auch der Zugang zu Bildung und Arbeit (§ 89), zugesprochen oder zumindest in Aussicht gestellt. Im Interview hob eine Sprecherin der NGO Mülteci-Der insbesondere die Regelung der Gesundheitsversorgung (§ 89) hervor:

»For example access to health services was very difficult up until now in Turkey. […] From now on hopefully the access to health service would be much easier and they won’t suffer because they could not pay the contribution money or the expenses for medicine anymore.« (Mülteci-Der 2014: 33)

Flüchtlingspolitische NGOs bewerten zudem die neu eingeführte Auskunftspflicht gegenüber Asylsuchenden, die Rechtsmittelunterstützung (§81) sowie die Rücksichtnahme gegenüber besonders Schutzbedürftigen (§ 95) als positiv (HCA 2014: 102; Mülteci-Der 2014: 97). Mit dem Gesetz werden somit viele der ehemals bestehenden Gesetzeslücken und Grauzonen geschlossen, sowie ein Schutzstatus und ein national einheitliches Asylverfahren etabliert. Aufgrund der Einführung dieser rechtlichen Grundlage und der damit einhergehenden Rechte für Schutzsuchende halten NGOs in der Türkei das Gesetz für humanitär, da es dem bisher weitverbreiteten willkürlichen Umgang mit Schutzsuchenden entgegen stünde (ECRE 2013; Mülteci-Der 2014: 323; HCA 2014: 102, 104).

…, restriktiv …

Gleichzeitig kritisieren die von mir interviewten Vertreter_innen der NGOs jedoch, dass mit dem Gesetz neben diesen deutlichen Verbesserungen der rechtlichen Situation von Asylsuchenden auch eine Reihe von restriktiven Vorgaben eingeführt wurden (vgl. Mülteci-Der 2014; HCA 2014). Durch die Beibehaltung des geografischen Vorbehaltes bleibt allen nicht aus Europa kommenden Geflüchteten ein Flüchtlingsstatus und somit ein gesicherter langfristiger Aufenthalt und eine mögliche ›Integration‹ kategorisch verwehrt (§ 61). Weiterhin findet darüber hinaus eine systematische Prekarisierung der Lebenssituation von Geflüchteten statt, insbesondere aufgrund fehlender finanzieller und materieller Unterstützung (§ 95), während hohe Hürden zum Erhalt einer Arbeitserlaubnis (§ 89) sowie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit (§ 71) bestehen bleiben.

Darüber hinaus erhalten durch das Gesetz europäische Konzepte, wie das des sicheren Drittstaates, Einzug in die türkische Gesetzgebung (§§ 73f.). Hierdurch kann vielen in die Türkei kommenden Migrant_innen der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt werden. Ferner werden die Einführung von Asylschnellverfahren (§ 79), ein möglicher Rückzug des Asylantrages von Seiten der Behörden (§ 77) sowie die Möglichkeit, Geflüchtete ohne Anklage für bis zu ein Jahr in Abschiebehaft zu nehmen (§§ 57ff.) und ihre Abschiebungen durch die Schaffung von Kapazitäten und Zuständigkeiten (§§ 60, 103ff.) effektiv durchführen zu können, gesetzlich festgeschrieben. Hierauf Bezug nehmend fasst ein Mitarbeiter der NGO Helsinki Citizens’ Assembly (HCA) zusammen:

»You study those provisions you see that they are pretty much word by word transpositions of the relevant EU standards. And now they are part of Turkey’s national law framework. So with this new law we have very keen seen the way in which what some observers have identified as Fortress Europe is actually finding its way to the legislation and practices of EUs migration asylum partners and definitely Turkey as an accession country.« (HCA 2014: 104)

… und durchsetzbar!

Ein weiterer zentraler Aspekt des Gesetzes ist die Schaffung einer Vielzahl neuer Institutionen und Behörden mit klaren Zuständigkeiten und einer gesicherten finanziellen Ausstattung. Im Mittelpunkt steht dabei die Gründung des Directorate General for Migration Management (DGMM) (§§ 103ff.), mit der die Zuständigkeit für die Umsetzung und Koordination von Migrationspolitiken einer zivilen Behörde übergeben wird. Die Hauptaufgabe des DGMM ist die Implementierung von national einheitlichen Migrationspolitiken und Strategien. Darüber hinaus übernimmt es die Koordination zwischen den im migrationspolitischen Bereich tätigen Behörden und Organisationen, die Durchführung von Handlungen in Bezug auf die Einreise, den Aufenthalt, die Inhaftierung und die Ausreise von Ausländer_innen, sowie ihre Abschiebungen. Erst durch diese Institution kann das Gesetz effektiv implementiert werden. Jenseits der direkten Umsetzung der Verfahrensrichtlinien obliegt der Behörde zudem die Schaffung von Expertise, Ressourcen, Koordination sowie die Kontrolle und Begrenzung von (illegalisierter) Migration.

Betrachtet man die Praxis der Behörden seit in Kraft treten des neuen Migrationsgesetzes, wird deutlich, dass zwar viele der restriktiven Regelungen des Gesetzes angewandt, die Verfahrensrechte der Betroffenen aber häufig missachtet werden: Während seit 2014 vom DGMM wohl kein einziges Asylverfahren abschließend bearbeitet wurde (vgl. Soykan 2017: 54; Pross 2016), steigen die Zahlen verhafteter Migrant_innen und die Kapazitäten der Abschiebehaftanstalten in der Türkei massiv an (DGMM 2016, 2017; aida 2016).5 Zugleich sind die neu geschaffenen Haftbedingungen oft unmenschlich, während der Zugang zu Asylverfahren sowie selbst der Kontakt zu Anwält_innen verweigert wird und Abschiebungen von Inhaftierten rechtswidrig durchgeführt werden (Soykan 2017: 56; Rickert 2016; Pro Asyl 2016).

Seit der Verabschiedung des Gesetzes und der damit einhergehenden Etablierung eines Migrationsmanagementsystems nach europäischen Vorbild verschärfen sich Repression, Kontrolle und unmenschliche Behandlungen von Migrant_innen, während gleichzeitig die bisher vorhandenen unkontrollierten Räume und Lebensmöglichkeiten, von denen Migrant_innen in der Türkei in der Vergangenheit profitierten, eingeschränkt werden. Das neue Migrationsgesetz forcierte ein Migrationsmanagement, durch das eine Ausweitung der Kontrolle von Migration in der Türkei umgesetzt werden kann.

Fazit – Das internationale Migrationsgesetz als Grundlage aktueller ›Grenzsicherungsmaßnahmen‹

In diesem Aufsatz habe ich deutlich gemacht, dass die EU nicht erst seit dem Sommer der Migration 2015 versucht, Migrationsbewegungen über die Türkei nach Europa zu reduzieren, sondern dass die jüngsten Abschottungsmaßnahmen die Folge ihres langjährigen Engagements in der Türkei sind. Die Schaffung des 2013 verabschiedeten Migrationsgesetzes war ein bedeutender Aspekt dieses migrationspolitischen Engagements. Eine genauere Betrachtung der Entstehung des Gesetzes zeigte, dass die EU dabei, zum Teil vermittelt über die IOM und das UNHCR, einen beachtlichen Einfluss ausübte. Konkret wurden mit dem Gesetz eine Grundlage für ein effektives Migrationsmanagement in der Türkei gelegt und gleichzeitig vier zentrale Voraussetzungen geschaffen, ohne die der EU-Türkei-Deal nicht möglich gewesen wäre.

Erstens wurde mit der Schaffung des Migrationsgesetzes zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei der Umgang mit Migration auf rechtlicher Ebene umfassend geregelt und für dessen Durchsetzung entsprechende Kapazitäten geschaffen. Migration innerhalb der Türkei wurde so erstmals ›managebar‹ und effektiver regier- und auch kontrollierbar gemacht. Zweitens wurden mit dem Gesetz erstmals auch verlässliche Ansprechpartner und auf den Umgang mit Migrant_innen spezialisierte Institutionen geschaffen. Erst hierdurch wurde eine effektive migrationspolitische Zusammenarbeit der EU mit der Türkei möglich. Als dritte für den Deal notwendige Voraussetzung sind die mit dem Gesetz geschaffenen menschenrechtlichen Standards und Verfahrensrechte zu nennen. Auch wenn diese in der Realität häufig missachtet werden (vgl. Soykan 2017: 56f.; Rickert 2016), ermöglichen sie der EU und ihren Mitgliedsstaaten doch, einen ›humanitären‹ Umgang mit Migrant_innen in der Türkei als erfüllt anzusehen und Migrant_innen auf dieser Grundlage nun ganz praktisch an den europäischen Außengrenzen zur Türkei abfangen zu lassen. Viertens kann die EU die Türkei nun zu einem sicheren Drittstaat erklären. Migrant_innen, denen trotz der in der Türkei und an der Europäischen Außengrenze etablierten Kontrollmaßnahmen eine Einreise in die EU gelingt, können nun in die Türkei zurückgeschoben werden.

Es zeigt sich somit, dass ein zeitlich auf das Jahr 2015 und räumlich auf die EU begrenzter Erklärungsansatz für den EU-Türkei-Deal und die im Zuge dessen stattfindenden Abschottungsmaßnahmen an der Türkisch-Europäischen Grenze zu kurz greift. Der EU-Türkei-Deal kann eben nicht nur als Folge diplomatischer Verhandlungen seit dem Herbst 2015 verstanden werden. Vielmehr gingen ihm ein langjähriges Engagement der EU und die Schaffung des beschriebenen Migrationsgesetzes unter Rückgriff auf internationale Organisationen voraus. Erst dies machte den Deal letztlich möglich und umsetzbar. Der Deal und die mit ihm einhergehenden Abschottungsmaßnahmen stellen lediglich einen weiteren Höhepunkt eines Prozesses dar, der bereits seit Jahren kontinuierlich forciert wurde: die Türkei zu einer ›Pufferzone‹ auszubauen, die Migrant_innen die Einreise nach und den Verbleib in Europa erschweren soll.6

Literatur

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Interviews

Anonyme Quelle (2014a): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Türkei.

Anonyme Quelle (2014b): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Türkei.

Çorabatır, Metin (2014): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Ankara.

Helsinki Citizens’ Assembly (HCA) (2014): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Istanbul.

IOM (2014): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Ankara.

Mülteci-Der (2014): Interview von Fritz Rickert. Februar 2014. Izmir.

  • Volume: 3
  • Issue: 1
  • Year: 2017


Fritz Rickert hat Psychologie und Friedens- und Konfliktforschung in Darmstadt und Marburg mit dem Schwerpunkt Migrationsforschung studiert. Seit 2013 forscht er zum türkisch-europäischen Migrationsregime. Er ist in verschiedenen Bündnissen und Netzwerken der Geflüchtetensolidarität tätig und arbeitet hauptamtlich beim Hessischen Flüchtlingsrat.