Abstract While hegemonic discourses are constantly conceptualizing migration movements as a threat for the national welfare state, the German economy has largely profited from migration and bilateral agreements on temporary labour migration. This was possible due to restrictions of migrant workers’ residence permits, freedom of movement and access to social rights. Based on an early-stage research on the meat industry of the Oldenburg Münsterland the authors assume that this situation is persistent even after the EU enlargement and the promised higher distribution of EU-citizenship rights.
Keywords labour migration, EU, meat industry, EU internal migration, exploitation
Migrationsbewegungen von EU-Bürger_innen durch Europa wurden in den letzten Jahren in der Medienöffentlichkeit vermehrt als Problem dargestellt. Insbesondere die Ost-Erweiterungen der EU in den Jahren 2004, 2007 und 20131 skandalisierten zahlreiche Medien, Gewerkschaftsvertreter_innen und konservative politische Kreise als drohenden ›Ansturm der Armen‹. Die EU-Erweiterung verstanden diese Akteure als neue Möglichkeiten für Lohndumping, was eine Verdrängung deutscher Arbeitnehmer_innen aus ihren Jobs zur Folge haben würde (vgl. Oster 2005; Ewels 2008). Der Zugang von neuen Unionsbürger_innen zur Erwerbsarbeit wurde in den ersten sieben Jahren nach EU-Beitritt stark eingeschränkt, so dass ihnen nur wenige Vorteile der EU-Erweiterung blieben.
Der Diskurs um ›wirtschaftlich bedrohliche‹ Arbeitsmigration verschränkte sich zunehmend mit rassistischen Figuren wie den ›Pleitegriechen‹ oder ›Bettelroma‹ (vgl. Sinn 2010; Vöhringer/Schindler/Witte 2011; Gezer 2012). Ausgehend von der Debatte um ›Sozialtourismus‹ und ›Armutsmigration‹ deklarierte der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich die EU-Freizügigkeit zur Bedrohung und initiierte mit mehreren seiner EU-Kolleg_innen eine stärkere Abhängigkeit der Freizügigkeit von den ökonomischen Verhältnissen der EU-Bürger_innen.
Zwei konkrete Konsequenzen beschäftigen uns daher in unserer Forschungsarbeit: wie sich sozialstaatliche Behörden zu Wächtern der Freizügigkeit entwickeln2 und wie Diskurse um eine ›falsche Nutzung‹ des Freizügigkeitsrechts Arbeitsverhältnisse von EU-Bürger_innen nicht nur kaschieren, sondern die Formen der Ausbeutung auch intensivieren.
Mit dieser Arbeit begannen wir im Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) in Form eines eigens gegründeten Themenknotens und darauf aufbauender Vernetzungsprojekte.3 Da sich die Debatte z.T. über alle Parteien hinweg auf Rumän_innen und Bulgar_innen als generelle Bedrohung des deutschen Sozialstaates zuspitzte (Apostolova 2013), interessierte es uns, den Blick auf die Konkretisierung des innereuropäischen Grenzregimes und der Ökonomisierung von Mobilität und Bürgerschaft zu richten. Dabei fokussierten wir unsere Aufmerksamkeit auf Werkvertragsarbeit in migrationsgeprägten Branchen.
Die für EU-Bürger_innen verbriefte Freizügigkeit wird beständig neu ausgehandelt. Dabei sind in Folge der von der Politik beschworenen Bedrohungsszenarien Rückschritte hinter die Grundlegungen der Freizügigkeit festzustellen. EU-Bürger_innen, die entsprechend den ihnen zustehenden Rechten ihren Arbeits- und Lebensort frei wählen, werden weiterhin als Migrant_innen4 behandelt, die sich den Aufenthalt außerhalb ihres Heimatlandes erst verdienen müssen. Die Zugänge in den Arbeitsmarkt bleiben auf mehreren Ebenen restringiert. Im Gegensatz dazu stellen Leiharbeit und Werkvertragsarbeit Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt außerhalb des Herkunftslandes dar. Doch dies hat nicht nur weitreichende Konsequenzen für die Form der Arbeit an sich, sondern prägt die gesamten Lebensverhältnisse. Deshalb sprechen wir von einem Regime der Werkverträge, welches das ganze Leben der Arbeiter_in durchzieht und darauf Einfluss nimmt.
Der Fleischindustrie-Komplex
In Form eines Werkstattberichts unserer aktuellen Forschung über Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse im Kontext binneneuropäischer Werkvertragsarbeit berichten wir von einem Ort, an dem sich Migration und Ökonomie in transnationalen Strukturen massiver Ausbeutung verdichten: dem fleisch-industriellen Komplex im Oldenburger Münsterland. Das heutige Potenzial der wirtschaftsstarken Agrarregion südlich von Oldenburg wurde in dieser Form erst durch Migration möglich. Trotzdem spielt die Situation von Migrant_innen in der öffentlichen Wahrnehmung keine größere Rolle.
Erst Konflikte in Folge struktureller Vernachlässigung des Arbeitsschutzes und der Unterbringung von Arbeiter_innen in gesundheitsgefährdenden Unterkünften führten ab 2015 zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Situation von Arbeitsmigrant_innen in der Region (vgl. Öchsner 2010; Kunze 2014). Diese Konflikte machten zwar auch uns auf den Landstrich aufmerksam, konnten als situative Auseinandersetzungen jedoch kaum einen Zugang zum Feld eröffnen. Stattdessen bekamen wir über verschiedene Anlaufstellen für Arbeits- und Sozialrechtsberatung Einblicke in diese bestehenden Ausbeutungspraktiken. Eine Hospitation bei der Arbeitslosenselbsthilfe (ALSO) bot uns die Möglichkeit für eine teilnehmende Beobachtung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Trotz der Vielzahl an persönlichen Berichten bleibt im Beratungsalltag jedoch meist keine Zeit, diese zu systematisieren und als ein Gegenwissen zu den Entwicklungen kapitalistischer Reproduktion5 zu nutzen. An dieser Stelle wollen wir mit unserer Forschungsarbeit anknüpfen.
Seit den 1990er Jahren ist in der Fleischwirtschaft des Oldenburger Münsterlands – dessen Landkreise Vechta und Cloppenburg auch ›Schweinegürtel‹ genannt werden – im nördlichen Niedersachsen eine weitreichende Industrialisierung zu beobachten. Schlachthöfe wurden von Konzernen wie Wiesenhof/PHW, Westfleisch oder Danish Crown sukzessive aufgekauft und in Folge neuer technischer Entwicklungen zu großen Fabriken mit Fließbändern und automatisierter Verpackung umgebaut. Heute ist die Region durch die weltweit größten Fleischkonzerne geprägt. Allein im Kreis Vechta gab es 2010 fast 800 Schweinemastbetriebe, in denen 1,06 Millionen Tiere gehalten werden konnten. In den Jahren 2013 und 2014 wurden 87.000 neue Plätze genehmigt (vgl. BUND 2016: 10).
Sowohl Mastanlagen und Schlachthäuser als auch Wohnraum für die Unterbringung von Arbeiter_innen gehören zum Erscheinungsbild der Region. Um die Produktionsraten zu steigern, war ein Mensch wie Tier betreffender Strukturwandel erforderlich (ebd.: 8f.). Forschungen im Bereich der Gentechnik und ein gezieltes Anpassen von Tieren auf die Massentierhaltung durch Züchtung sind ausschlaggebend für die Entstehung und den Erfolgskurs des fleisch-industriellen Komplexes (vgl. Rohwetter 2004). Dabei unterläuft die Fleischbranche massenhaft und systematisch Tierschutz-Gesetze, etwa indem Federn und Schnäbel weggezüchtet und Ferkelschwänze entfernt werden (vgl. Göbel/Rohde 2016).
Die Industrialisierung der Fleischindustrie und die Ausweitung der Produktion ist Resultat der durch kapitalistische Dynamik geschaffenen Konkurrenz, auf die die Unternehmen reagieren müssen. Um Kosten zu sparen, wird das Lohnniveau niedrig gehalten. Gezielt werden hierfür Arbeiter_innen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten zu schlechten Konditionen angeworben. Neben den Schlachter_innen und Hilfsarbeiter_innen in den Fleischfabriken sind es Fahrer_innen und Spediteure aus EU-Staaten und dem Nicht-EU-Ausland, die den Erfolg der fleischproduzierenden Betriebe auf dem globalen Markt ermöglichen.
Leiharbeit und Werkverträge in der Fleischindustrie
Werkverträge spielen seit den 1980er Jahren eine entscheidende Rolle, um Produktionskosten zu senken. Zu diesem Zweck spalten Unternehmen der Fleischindustrie die Arbeitsschritte innerhalb der Tieraufzucht, -schlachtung und -zerlegung in separate Aufträge bzw. ›Werke‹ auf und schreiben diese international aus. So erledigt eine Firma beispielsweise das Einstallen von Tieren, während Ausstallung und Transport zur Schlachtbank ein anderer Dienstleister durchführt. Schlachtbetriebe deklarieren Tätigkeiten wie das Aufhängen der Tierhälften an Fleischerhaken oder die Sortierung von Fleisch als einzelne Werke, welche eine andere Firma im Rahmen eines Werkvertrages verrichtet. Die Werkvertragsnehmer_in ›verleiht‹ ihre Arbeiter_innen an die Auftraggeber_in. Somit entfallen Lohnnebenkosten für den Schlachtbetrieb, da lediglich das erfüllte Werk bezahlt wird, die Vergütung der Arbeiter_innen jedoch Subunternehmen obliegt. Dies externalisiert nicht nur Kosten, sondern auch die Verantwortung für die Arbeiter_innen. Eine weitere Reduktionsmöglichkeit von Kosten bietet sich durch Arbeiter_innen aus Ländern mit niedrigeren Lohnniveaus. Mit dem Aufkommen von Werkverträgen in den 1980er Jahren wurden von der BRD zugleich mehrere bilaterale Abkommen mit vorwiegend mittel- und osteuropäischen Staaten geschlossen. Beschränkt auf wenige Branchen konnten so geregelte Kontingente von Arbeiter_innen als Leihbelegschaft eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Gastarbeiter_innen wurde festgesetzt, dass zeitliche Begrenzungen von vornherein geregelt waren und aus der Arbeitswerkerfüllung keine weiteren Ansprüche auf soziale Teilhabe entstanden (vgl. Riedner/Zehmisch 2009). Die bilateralen Abkommen wurden mittlerweile durch die EU-Osterweiterungen und die Ausweitung der Dienstleistungsfreizügigkeit abgelöst. Durch die EU-Richtlinie zur Dienstleistungsfreizügigkeit6 ist heute auch eine europaweite Leiharbeit möglich. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass das Kerngewerk des Betriebes nicht ausgelagert werden darf und dass der entleihende Betrieb eine tatsächlich vorhandene Belegschaft zu entleihen hat. Beides wird immer wieder unterlaufen. Die Segmentierung der industriellen Fleischproduktion lässt die Grenzen des Kerngewerks nicht mehr eindeutig erkennen.
Zudem verschleiert die Konstruktion sogenannter ›Hilfs- und Zuarbeit‹ das konkrete Arbeitswerk. Wenn ein Schwein nur hängend in seine Bestandteile aufgeteilt werden kann, dann ist das Anhängen des Schweinekörpers an den Fleischerhaken grundlegend für die Produktionskette. Das Aufhängen wird jedoch als Hilfsarbeit deklariert, da es keine Schlachttätigkeit im engeren Sinne ist. Sowohl die enge Begrenzung der Arbeitstätigkeit als auch die hochgradige Mechanisierung führen zu monotonen und repetitiven Tätigkeiten, für die keine Vorqualifikationen notwendig sind.
Zwischen den Subunternehmern, die sich für die Aufträge bewerben, herrscht harte, marktwirtschaftliche Konkurrenz. Sie sind gezwungen, sich gegenseitig zu unterbieten und senken somit zusätzlich die Produktionskosten der Auftraggeber. Der Bedarf an billiger Arbeitskraft hat sich zu einem eigenen Geschäft entwickelt, weshalb oftmals entsendende Schlachtbetriebe als solche gar nicht mehr bestehen oder auch nie existiert haben. Wie Recherchen des Europäischen Gewerkschaftsbundes und der Gewerkschaft für Nahrungsmittel, Gaststätten und Genuss (NGG) zeigen, handelt es sich bei den Unternehmen, die Arbeiter_innen nach Deutschland entsenden, vielfach um Briefkastenfirmen (McGauran 2016: 21ff.). Die Subunternehmerkette erweitert sich durch Personaldienstleister, welche Aufträge zur Arbeitskräftebeschaffung annehmen und entweder direkt Arbeitskräfte akquirieren oder die Personalsuche im europäischen Ausland ausschreiben. Mit steigender Zahl beteiligter Firmen steigt auch die Undurchsichtigkeit bei den Verletzungen von Arbeitsrechten.
Zwar muss eine Bezahlung seit 2015 auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns erfolgen, jedoch verringern Abzüge für Transportkosten, Unterkunft und Arbeitsausstattung häufig den tatsächlichen Lohn. Wie die Erfahrungen zahlreicher Beratungsstellen verdeutlichen, existiert in diesem Subunternehmer_innen-Milieu ein fließender Übergang zu kriminellen Praktiken, wie etwa dem Ausstellen falscher Papiere und gewalttätigen Übergriffen auf die Arbeiter_innen (vgl. Redaktion Hallo Niedersachsen! 2003; Leyendecker 2013; Report Mainz 2015).
Das Modell der Werkverträge erweitert die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen noch aus einem weiteren Grund. Sie können kritische Stimmen innerhalb der Arbeiter_innenschaft zum Schweigen bringen, indem sie die Werkverträge für ihre Subunternehmen nicht verlängern. Ein Bericht der Gewerkschaft NGG führt dies anschaulich vor Augen:
»Als die NGG versuchte, bei einem Subunternehmer einen Betriebsrat zu gründen […], kündigte Danish Crown dem Subunternehmer sofort. Zwar nahm ein Gericht die Kündigung zunächst zurück. Das hinderte [Danish Crown] aber nicht, sofort statt 7.000 Schlachttieren nur noch 2.000 bis 2.500 Schlachttiere pro Tag auszuliefern.« (Doelfs 2012)
Nicht nur interne Kritik und Proteste von Arbeiter_innen gegen einzelne Subunternehmen können so geschwächt und umgelenkt werden. Auch wenn Gewerkschaften oder Medien Arbeitsverhältnisse öffentlich skandalisieren, verweisen die Fleischkonzerne immer wieder auf die Verantwortung der Subunternehmen. Durch den Wechsel der Werkvertragsnehmer_innen ziehen sie oberflächlich Konsequenzen, ohne an der Durchsetzung des Preis- und Leistungsdrucks etwas zu ändern (vgl. Hirsch/Peter 2015).
Mobilitäten und Widerstände – Hospitation in der Anlaufstelle
Seit 2014 hat eine kritische Berichterstattung über das Oldenburger Münsterland zugenommen (vgl. Epler 2014; Kunze 2014). Die Praktiken der Fleischindustrie, massiv Löhne zu drücken und elementare Rechte von Arbeiter_innen zu verletzen, sind bundesweit bekannt. Mit Ausnahme eines Modellprojektes in Sögel7, zweifelhafter Selbstverpflichtungen (vgl. Krogmann 2016) und Imagekampagnen sind keine Veränderungen festzustellen. Der Landtag richtete zwar Fördertöpfe für die Beratung ausländischer Arbeitskräfte ein, diese Mittel decken jedoch den tatsächlichen Bedarf kaum ab. Im Rahmen dieser Maßnahmen ist das DGB-Projekt ›Faire Mobilität‹ in der Region ebenso aktiv wie die Oldenburger Arbeitslosenselbsthilfe (ALSO), die Anlaufstellen für mobile EU-Arbeitskräfte bieten. Bedarf besteht jedoch noch weit über diese Gruppe hinaus.
Seit November 2015 berät die ALSO auch in Ahlhorn (Landkreis Oldenburg) und Lohne (Landkreis Vechta). Nach vorheriger Vereinbarung wird die Beratung auch flexibel an anderen Orten angeboten. Trotz der staatlichen Förderung reicht hier das Geld gerade einmal aus, um die Beratungsangebote zu finanzieren. In Ahlhorn wird ein Kellerraum der Diakonie genutzt, da kein Budget für eigene Räumlichkeiten vorhanden ist. Im Raum gibt es mehrere Sitzgruppen aus Stühlen und einer Couch. Durch diese Raumeinrichtung sollen hierarchische Situationen zwischen Berater_innen und Arbeiter_innen/Klient_innen vermieden oder abgebaut werden. Statt sich zur Konsultation vor den Schreibtisch einer Berater_in zu setzen, kommen die Besucher_innen der Beratungsstelle mit den Beratenden an runden Tischen zusammen und besprechen die aktuelle Situation. So werden die Hilfeleistungen schrittweise enthierarchisiert, auch wenn die Zeit stets knapp bemessen ist. Die ALSO-Aktivist_innen sind jeweils nur ein paar Stunden in der Woche an den einzelnen Beratungsstellen aktiv. Doch die Vorortpräsenz ist wichtig, da die Arbeiter_innen kaum Zeit haben, um nach Oldenburg in die reguläre Beratung zu kommen.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Ziel, das Beratungsangebot immer mehr Arbeiter_innen zugänglich zu machen. In zwölf Sprachen, darunter Rumänisch, Französisch, Spanisch, Litauisch, Ungarisch, Russisch, Türkisch und Arabisch wurde Beratungsmaterial produziert. Dies zeigt, dass die Arbeiter_innenschaft transnationaler zusammengesetzt ist, als es das bisherige öffentliche Bild vermuten lässt. Mit unserem zunächst auf rumänische und bulgarische Arbeiter_innen zugespitzten Forschungsinteresse wirkten wir im Gespräch mit den Aktivist_innen der ALSO etwas anachronistisch. Zwar suchen Arbeiter_innen aus Polen, Rumänien und Bulgarien die Beratungsstellen aktuell am häufigsten auf, mittlerweile stehen aber auch arabischsprachige Menschen, oft mit einer Fluchtgeschichte, stärker im Fokus von Ausbeutung und damit auch der Beratungstätigkeit. Denn nicht allein die Akquisition von Arbeitskräften durch die Unternehmen ist mobil und orientiert sich an den aktuell profitabelsten Möglichkeiten. Für Arbeiter_innen, die mit Restriktionen und Praktiken des Ausschlusses konfrontiert sind, bieten Branchen mit großem Bedarf an (ungelernter) Arbeitskraft die Möglichkeit, Zugänge in den Arbeitsmarkt zu finden.
Die von der ALSO gesammelten Berichte der hilfesuchenden Arbeiter_innen geben einen Einblick in ihre Probleme und Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz, aktuelle Entwicklungen in den Subunternehmerketten und insbesondere in die Lebensverhältnisse der Arbeiter_innen. Die Beratungsstellen können Probleme nur selten direkt lösen, da oft keine einzelne und konkrete Ursache der Problemlage festzustellen ist. Stattdessen setzt sich das prekäre Arbeitsverhältnis in einer Prekarisierung der Lebensverhältnisse fort: Arbeiter_innen werden angewiesen, in verschimmelte Wohnungen zu ziehen; Familien wird es verboten, ihre Kinder ebenfalls in den Mietwohnungen unterzubringen; ein Arbeitsunfall führt zum Jobverlust, tausende Kilometer vom eigenen Zuhause und der zuständigen Krankenkasse entfernt. Die Fragestellungen in den Beratungen gehen weit über eine Arbeitnehmer_innenberatung hinaus und betreffen grundlegende sozialrechtliche Aspekte. Im Kontext der nationalen Grenzziehungen des Sozialstaates (vgl. Voigt 2016; Riedner in diesem Heft) werden diese Fragen immer schwieriger zu beantworten.
Auch bei konkreten Problemen auf der Arbeitsstelle ist es schwierig, Verantwortliche für die Misere zu finden, in denen sich die Arbeiter_innen befinden. So berichtet ein Arbeiter während unserer Hospitation, dass Schutzkleidung für ihn fehlt. Er arbeitet zwar nicht durchgängig im Kühlbereich, muss jedoch von dort immer wieder Ware transportieren. Insbesondere seine Hände schmerzen zunehmend durch die ständige Arbeit in einer sehr kalten Umgebung. Weder das Unternehmen, über das er bezahlt wird, noch die Putenschlachterei, in der er arbeitet, fühlen sich für das Bereitstellen der Schutzkleidung verantwortlich. Das beständige Hin- und Herschieben von Verantwortung spart Kosten für die Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards für das Generalunternehmen und geht insgesamt zu Lasten der Arbeiter_innen.
Ein weiterer Arbeiter beklagte, wie seine Arbeit ihn körperlich beeinträchtigt. Er ist dafür verantwortlich, bereits zerteilte Schweinehälften an die Fleischerhaken zu hängen, wodurch diese in die weitere Zerlegekette überführt werden können. Dies ist eine jener Tätigkeiten, welche bisher noch nicht sinnvoll maschinell gelöst werden kann. Die Arbeiter_in arbeitet dem weiteren maschinellen Zerlegeprozess zu. Wie der Arbeiter berichtete, ist er selbst wie eine Maschine tätig und muss die schweren Schweinehälften in kürzester Zeit hochstemmen und anhängen. Die höchst monotone und repetitive Tätigkeit ist eine stetige körperliche Belastung und mit vielen Schmerzen verbunden. Eine Versetzung wurde jedoch mehrmals abgelehnt und eine Kündigung ist keine Option, da Arbeit und Unterkunft miteinander verknüpft sind. Medizinische oder physiologische Versorgung kommt ebenfalls nicht in Frage, da diese Leistungen nur im Herkunftsland übernommen werden.
Im Jahr 2014 untersuchte Cindy Thommerel von der französischen Gewerkschaft »La Confédération Paysanne« bereits die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Arbeiter_innen in Niedersachsen. Die körperlichen Schäden und die täglichen Belastungen, hielt sie in mehreren Artikeln fest, wobei sie anmerkt:
»[Die Arbeiter_innen] wissen wenig darüber, auf welche Arbeitsbedingungen sie hier einen Anspruch haben. Sie verlassen ihre Heimatländer aus der Not und sie sind bereit viele Zumutungen zu akzeptieren.« (Thommerel 2014)
Die Arbeit wird für die Lohnarbeiter_in in der Fleischindustrie unter diesen Bedingungen zum Eigenrisiko. Im Arbeitsverhältnis sind häufig noch nicht einmal eine Kranken- oder Unfallversicherung enthalten. Werkvertragsarbeiter_innen entsprechen somit weitgehend dem kapitalistischen Ideal der disponiblen Arbeitskraft, die flexibel im Sinne des Unternehmens funktioniert und buchbar ist.
Aushandlungsebenen der EU-Bürgerschaft
Die oben beschriebenen Verhältnisse kommen nicht aus heiterem Himmel zustande, sondern sind durch den Druck neoliberal deregulierter Märkte und ihrer entscheidenden Akteur_innen gestaltet. Werden konkrete Missstände aufgezeigt, wechseln die Haupt-Unternehmen zwar die Werkvertragsdienstleister_in, verändern ihre Geschäftspraktiken aber meist nicht. Während die offiziellen Anbieter_innen wechseln, arbeiten in den Betrieben oft dieselben Leute, da diese schnell an einen anderen Anbieter vermittelt werden. Dabei fällt oftmals unter den Tisch, dass es nicht allein Unternehmen sind, welche Nutzen aus der aktuellen Rechtslage ziehen. Die ausbeuterischen Praktiken werden in der Öffentlichkeit immer wieder so verhandelt, als würden sie sich in einem abgeschlossenen Bereich abspielen. Jedoch funktionieren sie nur, indem sie Widerhall in der beständigen Nachfrage nach billigem Fleisch erhalten. Zwar appellieren kritische Medienbeiträge über die Fleischindustrie immer wieder, ›fair‹ produziertes – und damit teureres – Fleisch zu konsumieren. Sie folgen dabei jedoch einem Duktus, als ob jede Konsument_in in der Lage sei, diese Praktiken zu kontrollieren und auf sie Einfluss zu nehmen. Dies übersieht klassenspezifische Unterschiede8, die sich innerhalb der wechselseitigen Beziehung zwischen Marktregulation und individueller Kaufkraft offenbaren.
In diesem Artikel haben wir verschiedene Schlaglichter auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie im Oldenburger Münsterland geworfen und herausgearbeitet, wie die europäische Bürgerschaft mit nach marktwirtschaftlicher Produktivität gestaffelten Rechten versehen ist und somit Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten differenziert (vgl. Riedner 2015). Die aufgezeigten Funktionsweisen der Werkvertragsarbeit sind ein gutes Beispiel dafür, dass das Arbeitsprodukt bzw. dessen Tauschwert und der damit erzielbare Profit in der kapitalistischen Arbeitswelt mehr zählt, als die sozialen Belange der Arbeiter_innen. Auf einer migrationspolitischen Ebene bedeutet dies eine Binnendifferenzierung von EU-Bürgerschaft über die individuelle Einbindung in soziale Sicherungssysteme. Wie Sonja Buckel (2013) bereits ausführte, verläuft die Differenzierung von europäischer Bürgerschaft entlang ökonomischer Kriterien. In der Fleischindustrie verdeutlicht sich zudem, dass die sozialen Differenzierungen, die Migrant_innen betreffen, nicht nur von Grenz- und Aufenthaltsrechten per se abhängig sind, sondern auch in Betrieben und Beschäftigungsmodellen ausgehandelt werden.
Das europäische ›Schweinesystem‹, das sowohl Mensch als auch Tier zur Massenware nivelliert, weist darauf hin, dass die Zwänge kapitalistischer Produktion viel häufiger im Zentrum von antirassistischer Aufmerksamkeit stehen müssten. Unsere Hospitation in der ALSO Beratungsstelle und die Gespräche mit Arbeiter_innen sowie Aktivist_innen machten deutlich, dass eine tiefergehende, den Arbeits- wie Beratungsalltag begleitende Forschung notwendig wäre, um die Komplexität und die Verflechtungen von Ausbeutungsverhältnissen und Migrationsregimen in der Fleischindustrie aufzuzeigen.
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