Gewöhnlich führt das Editorial der movements in den jeweiligen Themenschwerpunkt der Ausgabe ein. Von dieser Tradition weichen wir für dieses Mal ab, denn die aktuelle Ausgabe ist die erste, die aus einem offenen Call heraus entstanden ist. Wir freuen uns, damit aktuelle und auch internationale Forschungsarbeiten präsentieren zu können, die u.a. aus polit-ökonomischer, feministischer, urbanistischer und ANT-Perspektive argumentieren und deren Gegenstände beispielsweise die Produktion von Grenze, Kämpfe der Migration und die institutionelle Bearbeitung von (Flucht-)Migration sind. Damit ist die kritische Rassismus-, Migrations- und Grenzregimeforschung in ihrer ganzen Breite abgebildet.
Ein aktuelles Thema allerdings findet sich nicht unter den eingereichten Beiträgen, nämlich eine Auseinandersetzung mit dem am 11. Juli 2018 zu Ende gegangenen NSU-Prozess. Das ist zum einen der Zeitökonomie der Heftproduktion geschuldet — der Call endete bereits Anfang 2018, verweist aber außerdem auf eine strukturelle Leerstelle. Denn wissenschaftliche Beiträge, die sich mit dem NSU-Komplex auseinandersetzen, gibt es nach wie vor nur wenige (Ausnahmen sind z.B. Greif/Schmidt 2018; Grittmann et al. 2015; Karakayali et al. 2016; Quent 2016). Darum wollen wir dieses Editorial für eine Analyse des NSU-Komplexes nutzen. Dabei verstehen wir den NSU-Komplex nicht als singuläres Ereignis, sondern, so unsere These, der gesellschaftliche Umgang mit dem NSU-Komplex gibt Hinweise auf vergangene und aktuelle Konfigurationen des Rassismus sowie des Antirassismus, wie wir im Folgenden nachzeichnen werden.
Zunächst gehen wir dafür auf die gesellschaftliche Rezeption der Taten ein, indem wir der Frage nachgehen, wie sich das Nicht-Erkennen der Mordserie als rassistische Verbrechen mit der Migrationspolitik der beginnenden 2000er Jahre erklären lässt. Hier führen wir Überlegungen weiter, die wir bereits 2013 begonnen haben. In einem zweiten Schritt analysieren wir den gesellschaftlichen Umgang mit der Enttarnung der Mordserie als rassistisch als Ausdruck der aktuellen postmigrantischen gesellschaftlichen Situation.
Der NSU-Komplex im Kontext der Migrationspolitik: 2000 und danach
Vor fünf Jahren argumentierten wir bezüglich des NSU-Komplexes, dass die Rezeption der Morde — nämlich als Bandenkriminalität und nicht als rassistisch motiviert — im Kontext der bundesdeutschen Migrationspolitiken und der Rekonfigurationen des Rassismus in den 2000er Jahren zu analysieren sei (Karakayali/Kasparek 2013). Denn damals wurde in verschiedenen gesellschaftlichen Arenen erbittert um die Neudefinition von Deutschland als Einwanderungsland gerungen, wobei beachtliche Veränderungen im Feld der Politik, des Rechts und der Repräsentation stattfanden: das Staatsangehörigkeitsrecht wurde modifiziert und damit eine Möglichkeit zur Einbürgerung bereits in Deutschland lebender Migrant_innen und ihrer hier geborenen Kinder geschaffen; erstmals wurde ein Einwanderungsgesetz verabschiedet und Rassismus als Problem von Regierungsseite durch die Initiierung von Bundesprogrammen dagegen anerkannt; Kulturproduktionen, die Migration und Rassismus thematisierten wurden breit rezipiert und die deutsche Fussballnationalmannschaft der Männer bestand zur Weltmeisterschaft 2006 aus lauter »Multi-Kulti-Zauber-Jungs« (ein leider erst 2010 von Deniz Yücel gefundener Begriff). Die faktisch längst schon bestehende plurale Gesellschaft fand endlich, und quasi nachholend, die Anerkennung breiter Teile von Politik und Gesellschaft.
Eben diese Entwicklung war es, die der NSU mit Mord und Terror attackierte und zu stoppen versuchte. Warum aber wurde die rassistische Motivation der Taten gerade in einer Zeit migrationsgesellschaftlicher Öffnung nicht erkannt? Weil diese Öffnungsprozesse mit aggressiven politischen Gegenbewegungen konfrontiert waren, für die konservative Politiker_innen oft genug den vorhandenen gesellschaftlichen Rassismus bewusst mobilisierten.1 Die erbitterten Auseinandersetzungen um die doppelte Staatsbürgerschaft und ein Zuwanderungsgesetz Anfang der 2000er Jahre stellten dafür nur den Auftakt dar. Dies führte dazu, das die zunächst weitreichend anmutenden Maßnahmen der gesellschaftlichen Öffnung in der tatsächlichen Umsetzung stark aufgeweicht wurden, wobei einige dieser Begrenzungen in spezifischer Weise Menschen mit einem türkischen background bzw. Muslim_innen2 trafen und immer noch treffen. So wurde in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts keine Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit eingeräumt, ein Umstand, der insbesondere die in Deutschland lebenden Menschen aus der Türkei traf. Als deutlich wurde, dass einige diesen Ausschluss damit umgingen, indem sie den zweiten Pass irregulär erwarben, wurde dies 2005 von dem damaligen Innenminister Otto Schily (SPD) öffentlichkeitswirksam skandalisiert. Türkische Einwander_innen wurden als irgendwie unzuverlässige Staatsbürger_innen stigmatisiert und vielen wurde der gerade erst erworbene deutsche Pass wieder entzogen. Aus dem Einwanderungsgesetz wurde das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Und die geschaffenen Möglichkeiten der Partizipation wurden durch einen neuen Integrationsimperativ, der inbesondere Muslim_innen unter Verdacht stellte, eingeschränkt.
Markierte bis 2005 der Satz »Deutschland ist ein/kein Einwanderungsland« die politische Haltung zu Migration, so wird er 2006 abgelöst durch den Satz »der Islam gehört/gehört nicht/gehört unter Umständen zu Deutschland«. Statt der notwendigen Debatte über häusliche Gewalt gegen Frauen und der flächendeckenden Schaffung von Unterstützungsangeboten wurde die Ermordung der Berlinerin Hatun Sürücü durch ihre Familie (Stichwort ›Ehrenmord‹; vgl. kritisch Yurdakul/Korteweg 2012) zum Anlass genommen, das Einreisealter für nachziehende Ehegatten hochzusetzen und in Rheinland-Pfalz spezielle Fragen in den Einbürgerungstest für Menschen aus muslimischen Ländern einzuführen (vgl. den ›Muslimtest‹; Cetin 2015). Mit Murat Kurnaz, der 2001 in Guantanamo inhaftiert wurde, vermeinten Konservative, eine direkte Verbindung zwischen der türkischen Bevölkerung in Deutschland und dem islamistischen Terror, der sich am 11. September 2001 in das Bewusstsein der westlichen Welt bombte, identifiziert zu haben — auch wenn Kurnaz’ Unschuld bereits wenige Monate später fest stand (Tsianos 2010). Die gesellschaftliche Situation der 2000er Jahre zeichnete sich also durch eine Gleichzeitigkeit von weitreichenden politischen Maßnahmen der migrationsgesellschaftlichen Öffnung einerseits und der massiven Mobilisierung gegen eine Pluralisierung, inklusive einer spezifische Problematisierung von Migrant_innen aus der Türkei bzw. Muslim_innen andererseits aus. Und eben Menschen aus der Türkei waren es, die der NSU zu ermorden trachtete. Da türkische/muslimische Männer im öffentlichen Diskurs nur als Täter erschienen, konnten sie nicht als Opfer (an)erkannt werden. Erst mit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 fand diese fatale Zuschreibung im Bezug auf die Opfer ein Ende. Wie nun lässt sich der gesellschaftliche Umgang mit der Enttarnung als rassistische Mordserie beschreiben und verstehen?
Urteilsverkündung im NSU-Prozess
Der NSU-Prozess ist am 11. Juli 2018 nach 438 Prozesstagen vor dem Oberlandesgericht München zu Ende gegangen. Während die lebenslange Haftstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld für Beate Zschäpe erwartet worden war, fielen die Urteile für die weiteren Angeklagten mehr als nur überraschend aus. Carsten Schulz, der einzige der Angeklagten, der sich einigermaßen glaubwürdig von der Neonaziszene losgesagt hatte und deutlich zur Aufklärung der Verbrechen beitrug, erhielt mit drei Jahren nach Jugendstrafrecht eine auffällig hohe Haftstrafe. Holger Gerlach wurde ebenfalls zu drei Jahren Haft verurteilt. Schockiert waren Prozessbeobachter_innen und die durch den NSU Geschädigten von den milden Urteilen, die gegen André Eminger und Ralf Wohlleben verhängt wurden: Eminger, für den die Staatsanwaltschaft im Sommer 2017 zwölf Jahre Haft gefordert hatte und der seither in Untersuchungshaft saß, erhielt nur zwei Jahre und sechs Monate. Ralf Wohlleben wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Diese niedrigen Urteile wurden von den im Publikum anwesenden Neonazis mit Jubel aufgenommen (Hansen/Schneider 2018). Die Verurteilten warten nun in Freiheit auf ihren Haftantritt — falls die Urteile überhaupt noch vollstreckt werden. Eminger und Wohlleben sind unterdessen bereits wieder in ihren angestammten Neonazizirkeln aktiv (vgl. taz vom 03.11.2018). Und längst hat es seit der Urteilsverkündung verschiedene rassistische Angriffe gegeben, die sich explizit auf den NSU beziehen, so z.B. eine Neonazizelle in der Frankfurter Polizei, die vermutlich die Anwältin der Nebenklage im NSU-Prozess, Seda Basay-Yildiz bedrohte.3
Die Angehörigen der Ermordeten verließen den Gerichtssaal entsetzt. Das Urteil sei ein Schlag ins Gesicht aller, deren Angehörige durch den NSU ermordet wurden, ließ Elif Kubaşık auf einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude in München erklären. Und auch die Anwält_innen der Nebenklage formulierten Wut und Enttäuschung über das Urteil und forderten etwa eine Abkehr von der Trio-These, die Untersuchung der Neonazistrukturen um das Trio sowie die Aufklärung der Involvierung der Sicherheitsbehörden (NSU-Nebenklage, 11.07.2018).4 Offensichtlich wurde, dass es nicht gelungen war, den systematischen Rassismus, der hinter den Morden steckt, justitiabel zu machen.5
Selbstverständlich passen die milden Urteile gegen rechte Terrorist_innen in den allgemeinen rassistischen rollback nach dem »Sommer der Migration« (Kasparek/Speer 2015), in dem die Bewegungen der Migration eine neue, offenere Migrationspolitik zumindest temporär erzwungen hatten. Zu nennen wäre die Schaffung von weiteren sicheren Drittstaaten und die Erweiterung der Abschiebegründe im Zuge der zahlreichen sexuellen Übergriffe von Migranten auf Frauen in der Silvesternacht 2015/16 (vgl. Dietze 2016), der EU-Türkei-Deal (vgl. movements 2 (3)), das Seehofersche Grenzschutzpolitiktheater (zur Renationalisierung der Grenze vgl. Schmidt-Sembdner in diesem Heft), die pogromartigen Überfälle in Freital, Heidenau, Chemnitz und Köthen, unzählige Brandstiftungen in Sammelunterkünften, einen Anstieg antisemitischer Angriffe, den Einzug der AfD in alle Landesparlamente und nicht zuletzt die hämischen Angriffe auf die Fussballnationalspieler Mesut Özil6 und Jérôme Boateng, die auch im Jahr 2018 noch eine wirksame völkisch-nationalistische Zugehörigkeitslogik offenbaren.
Richtet man den Fokus aber weg von der rassistischen Mobilisierung, und gehen wir stattdessen entsprechend der oben skizzierten Perspektive der Frage nach, wie die gesellschaftliche Rezeption des NSU nach seiner Enttarnung verlief und was das mit der aktuellen Migrationspolitik zu tun hat, so gerät etwas anderes in den Blick.
Konjunkturen des Antirassismus: in Verteidigung der postmigrantischen Gesellschaft
Dann lässt sich sehen, dass neben der Mobilisierung rassistischer Kräfte, wie wir sie auch für die beginnenden 2000er skizziert haben, auch eine Mobilisierung von dem stattfindet, was mit dem Begriff der postmigrantischen Gesellschaft bezeichnet wird (vgl. Foroutan et al. 2018). Das Wachsen von Anerkennung und Akzeptanz der pluralen Migrationsgesellschaft und die neuen rechtlichen und repräsentativen Möglichkeiten der Artikulation zeigen durchaus Wirkung, wie sich exemplarisch an der gesellschaftlichen Reaktion auf den NSU-Komplex aufzeigen lässt.
Denn um den NSU-Prozess herum fand eine breite gesellschaftliche Organisierung statt, die als blueprint für eine Vision davon taugt, wie ein breites, emanzipatorisches, gesellschaftliches Bündnis aussehen könnte. Ein bewegendes Bild dafür war die Demonstration am 11. Juli 2018 nach der Urteilsverkündung in München, an deren Spitze die Nebenkläger_innen und ihre Anwält_innen voranschritten und dabei Schilder mit den Bildern der Ermordeten trugen.7
Vor Gericht haben sich 24 der Anwält_innen der Nebenklage zusammengetan und gemeinsam im Auftrag ihrer Mandant_innen Recherchen zu Neonazi-Netzwerken, V-Leuten und deren Beziehungen zu den Sicherheitsbehörden vorgenommen. Unterstützt wurden sie dabei von investigativ arbeitenden Journalist_innen und Antifa-Recherchegruppen. Damit gelang es der Nebenklage immer wieder, das Gericht dazu zu bringen, relevante Zeug_innen zu laden — auch wenn diese dann häufig wenig engagiert befragt wurden. Durch diese Zusammenarbeit erfolgte eine Vernetzung höchst unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, die in einer einzigartigen Kooperation interdisziplinär Wissen über institutionellen Rassismus, Neonazistrukturen und das V-Leute System produzierten. Zu dieser Wissensproduktion trugen maßgeblich auch die Angehörigen der Ermordeten und die Überlebenden der Bombenanschläge bei. Viele von denen, die nach ihren traumatischen Erfahrungen — sowohl mit dem NSU als auch mit der folgenden Behandlung durch die Polizei — oft jahrelang geschwiegen hatten, traten nun an die Öffentlichkeit und trugen mit ihrem Erfahrungswissen maßgeblich dazu bei, die Muster neonazistischen Terrors und polizeilicher Verfahrensweisen im Umgang mit rechter Gewalt sichtbar zu machen.
Dieser mutige Schritt an die Öffentlichkeit wurde im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung um den NSU auch von anderen Überlebenden und Angehörigen der Opfer rechten Terrors getan, die oft jahrzehntelang über das, was Ihnen widerfahren war, geschwiegen hatten. So kam es zur Vernetzung von Menschen, die die gleiche Erfahrung teilten, nämlich Opfer mörderischen rassistischen Terrors geworden zu sein. Mit ihren Erzählungen ließ sich das Bild über die Arbeit der Polizei im Umgang mit rechtem Terror, aber auch der gesellschaftliche Umgang damit vervollständigen.
Mit NSU-Watch wurde eine Informationsplattform etabliert, auf der detaillierte Analysen, vor allem aber auch Protokolle jedes einzelnen Prozesstages sowie Protokolle aus beiden Bundestagsuntersuchungsausschüssen sowie den Untersuchungsausschüssen der Länder zur Verfügung gestellt wurden. Die Jahre des Prozesses wurden begleitet von unzähligen Informations- und Diskussionsveranstaltungen, die von antirassistischen und antifaschistischen Initiativen überall in Deutschland organisiert wurden. Dabei gelang es höchst unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, sich zu vernetzen und den NSU-Komplex zum gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Arbeit zu machen. Unter anderem wurden dazu immer wieder internationale Expert_innen z.B. aus Griechenland, Großbritannien, Nordirland und der Türkei eingeladen, die ihre Erfahrungen mit den dem NSU-Komplex vergleichbaren Fällen teilten. Als eines der herausragenden Ereignisse ist das Tribunal NSU-Komplex auflösen zu nennen, dass im Mai 2017 über mehrere Tage hinweg in Köln abgehalten wurde und Öffentlichkeit schaffte, aber insbesondere auch im Vorfeld einer intensiven Vernetzung antirassistischer und antifaschistischer Initiativen diente.
In verschiedenen künstlerischen Arbeiten ist der NSU-Komplex bearbeitet worden, zu nennen sind hier Filme, Installationen und insbesondere Theaterstücke, die zum Teil mit den Angehörigen der Ermordeten und Geschädigten zusammen entwickelt wurden und die den NSU-Komplex einer breiten Öffentlichkeit näher brachten. Herausragend ist hier die Arbeit des künstlerisch forschenden Kollektivs Forensic Architecture zu nennen, die mit einer Installation nachweisen konnten, dass der als Zeuge geladene Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, der während der Ermordung Halit Yozgats in dessen Internetcafé in Kassel vor Ort war und behauptet, den Mord nicht bemerkt zu haben, vor dem Oberlandesgericht München gelogen haben musste. Diese Arbeit erreichte auf der documenta 14 ein großes internationales Publikum.
Die breite Mobilisierung rund um den NSU-Komplex ist in beeindruckender Weise unter Einsatz von sehr viel Kraft, Mut und Engagement erfolgt. Doch nicht alles wurde erreicht: keine einzige Demonstration, die den NSU-Komplex zum Anlass hatte, war von einer bemerkenswert großen Zahl an Menschen besucht. Keine einzige Institution, der Fehler im Umgang mit dem Neonazinetzwerk nachgewiesen werden konnte, ist nennenswert umgestaltet worden — das Bundesamt für Verfassungsschutz ist hinsichtlich Kompetenzen und Ressourcen sogar seither noch besser ausgestattet worden. Keine der Beamt_innen, die nachweislich Akten geschreddert, gelogen oder die Angehörigen der Opfer und die Geschädigten mit unlauteren Verhörmethoden bedrängt haben, sind in irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen worden, niemand wurde entlassen oder bestraft. Die Urteile gegen die Neonazis fielen milde aus, und trotz der Aufdeckung ihre Unterstützungsstrukturen sind daraus bisher keine Konsequenzen gefolgt. Die damit verbundene Verharmlosung rechten Terrors kann gerade in der jetzigen politischen Situation verheerende Folgen haben, ist es doch ein ähnliches Fanal wie das Gewährenlassen gewalttätiger Neonazis zu Beginn der 1990er Jahre.
Dennoch war die gesellschaftliche Organisierung rund um den NSU-Komplex erfolgreich. Sie war erfolgreich, weil es mit ihr gelungen ist, die Deutungshoheit über den NSU-Komplex nicht dem Gericht zu überlassen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Ermöglichungsbedingungen von Rassismus und Neonazismus anzustoßen. Axel Hoffmann, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess, fand dafür bewegende Worte, als er nach der Verkündigung des Urteils vor das Gebäude des Oberlandesgerichts München trat:
»Ein deutsches Gericht hat sicherlich die Macht und die Möglichkeit darüber zu bestimmen, wie die Angeklagten die nächsten Jahre verbringen, ob jemand frei gesprochen wird oder nicht. Aber ein deutsches Gericht hat nicht die Deutungshoheit über das, was in den letzten 430 Tagen hier an Beweisaufnahme erfolgt ist. […] Das Wissen über den Verfassungsschutz, staatlichen Rassismus, institutionellen Rassismus, das Wissen über die organisierten militanten Neonazis, das ist in der Welt, das ist geschaffen, das haben wir, das wird auch ein Urteilsspruch nicht aus der Welt schaffen.« (Axel Hoffmann, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess auf der Kundgebung am 11. Juli 2018 vor dem Oberlandesgericht München)
Und sie war erfolgreich, weil sich verschiedene gesellschaftliche Kräfte darüber zu einer vielschichtigen, kritischen Öffentlichkeit zusammengefunden haben. Wie sehr dies die öffentliche Wahrnehmung beeinflusst hat, zeigt sich vor allem jetzt, nach der Urteilsverkündung, und wird sich noch in Zukunft zeigen. Diese einzigartige Mobilisierung hat in jedem Fall eine Gegenerzählung etabliert, die den vermeintlichen Skandal der Migration nicht nur zurückweist, sondern den Fokus auf staatliche und gesellschaftliche Strukturen lenkt, die die Herstellung des vermeintlichen Skandals ermöglichen und unterstützen. Diese Art der Mobilisierung findet sich auch an anderer Stelle, etwa in den großen Mobilisierungen rund um We’ll come United, Unteilbar und rund um die Seebrücke, eine Initiative zur Verteidigung des Rechts auf zivile Seenotrettung im Mittelmeer und für sichere Fluchtwege nach Europa. Der Hashtag ›me two‹ schuf ein neues, situiertes Archiv des Alltagswissens über Rassismus.
Allgemein lässt sich unserer Meinung nach festhalten, dass die Skandalisierung der Migration von rechts zwar omnipräsent ist und bedrohliche Formen angenommen hat, die plurale Gesellschaft aber dennoch hartnäckig und beharrlich verteidigt wird. Der Erfolg wird jedoch in nicht unwesentlicher Weise auch davon abhängen, über konkrete Mobilisierungen hinauszugehen, eigene Wissensbestände aufzubauen und verfügbar zu machen, und diese in konkrete Materialisierungen der Gesellschaft der Vielen zu überführen. Die Konjunkturen des Rassismus sind immer auch die Konjunkturen des Antirassismus.
movements 4 (2): der Inhalt
Einen Beitrag zu dieser Gegenerzählung zu leisten ist das selbstgesteckte Ziel unseres Journals movements. Daher freuen wir uns, diese Ausgabe vorstellen zu dürfen, die erstmals keinen thematischen Schwerpunkt hat, sondern Beiträge der kritischen Migrations-, Grenzregime- und Rassismusforschung in thematischer Vielfalt versammelt. Die Entscheidung für die Möglichkeit offener Calls war auch dem Wunsch geschuldet, vermehrt Debatten im Heft führen zu können.
Für den ersten Beitrag konnten wir die Initiator_innen des architektonischen Forschungsprojekt Leros: Island of Exile gewinnen. Leros ist eine der fünf griechischen Ägäis-Inseln, auf denen ein so genanntes Hot Spot-Zentrum existiert. Das Forschungsprojekt zeigt in Text und Fotos, dass sich diese besondere Form der Disziplinierung in eine lange Geschichte von disziplinarischen Formierungen auf der Insel einreiht.
Im ersten Textbeitrag beschäftigen sich Moritz Altenried, Manuela Bojadžijev, Leif Höfler, Sandro Mezzadra und Mira Wallis mit den sich verändernden behördlichen Strategien der Arbeitsmarkt-›Integration‹ Geflüchteter seit dem Sommer 2015. Sie zeigen auf, wie die einst strenge Unterscheidung zwischen Flucht- und Arbeitsmigration zunehmend aufweicht und Fluchtmigration mehr und mehr unter dem Aspekt der Arbeitskräftegewinnung in den Blick genommen wird. Die Versuche, die migrantische Arbeitskraft mit dem Vokabular und den Techniken der Logistik zu verwalten und zu verteilen sind dabei nur selten erfolgreich.
Auch der zweite Beitrag beschäftigt sich mit grundlegenden Veränderungen des Migrationsregimes, nämlich der Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum. Matthias Schmidt-Sembdner hat dafür die Praktiken der Grenzkontrollen Italiens, Österreichs und Deutschlands auf der sog. Brennerroute untersucht und zeigt auf, wie diese im Sommer 2015 zunächst provisorisch eingerichtet und seither verstetigt und professionalisiert wurden.
Maria Schwertl analysiert die Grenze(n) aus einer anderen Perspektive: sie untersucht die Produktion des europäischen Grenzregimes durch Grenzschutztechnologien. Deutlich wird, wie territoriale, geo- und biopolitische Vorstellungen der Produzent_innen von Grenztechnologien (Unternehmen und Wissenschaftler_innen) die Form und Funktionsweise der Grenze bestimmen. Diese werden damit dort zu den informellen Gestalter_innen der Grenze, wo politische Vorgaben, insbesondere eine vereinheitlichte europäische Migrationspolitik, fehlen.
Der vierte Aufsatz widmet sich der Situation von Geflüchteten in Istanbul. Gülçin Balamir Coşkun und Aslı Yılamz Uçar untersuchen, welche unterschiedlichen Strategien verschiedene Bezirke in Istanbul im Umgang mit den dort ankommenden Geflüchteten entwickeln. Aus dieser Analyse leiten sie ab, welche Instrumente Verwaltungen brauchen, um sinnvolle Praktiken entwickeln zu können.
Zum ersten Mal findet sich in unserer Ausgabe die Rubrik Essay, die wir eigens eingeführt haben, damit der Text von Thomas Müller und Sascha Zinflou einen Platz im Heft findet. Dieser Text analysiert den so genanten Jungle von Calais aus einer stadtsoziologischen Perspektive. Deutlich wird hier, dass den Bewohner_innen des Jungle das Recht auf Stadt in doppelter Weise verwehrt wird: indem die von ihnen hervorgebrachte Sozialstruktur nicht als solche anerkannt wird und indem diese schließlich im Namen der Migrationskontrolle niedergewalzt wird. Der Beitrag liegt uns deswegen so sehr am Herzen, weil er konkret die Frage aufgreift, wie die schon seit Jahren bestehenden, informellen und ephemären Siedlungen in Europa nicht als Slum, Ghetto oder Skandal aufgegriffen werden können, sondern präzise als Möglichkeit einer migrantischen Stadt, die sich entlang der Bedürfnisse der Migration organisiert.
In der Forschungswerkstatt präsentieren wir diesmal drei Beiträge. Naemi Gerloff untersucht die Rolle der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen der seit 2015 verstärkten Zusammenarbeit zwischen der EU und afrikanischen Staaten zum Zwecke der Verhinderung von Migration. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit Abschiebungen, ebenfalls ein Bereich der Migrationskontrolle, der seit 2015 ausgebaut wird: Therese Lerchl unternimmt eine ethnographisch inspirierte Untersuchung der Abschiebehaft unter besonderer Berücksichtigung der amtlichen Dokumente, die den Prozess der Inhaftierung legitimieren und strukturieren. Und mit dem Beitrag von Hassan Ould Moctar richtet sich der Blick auf den urbanen Kontext Nouakchotts, der Hauptstadt Mauretaniens, und den Prozessen rund um die Aushandlungen von Ethnizität, Nationalität und Klasse.
In der Rubrik Interventionen beschreibt Mine Gençel Bek, die als eine der academics for peace die Türkei verlassen musste, sehr eindrücklich ihre Flucht nach Deutschland und Ria Prilutski fordert das Recht ein, komplex sein zu dürfen.
Die Redaktion von movements bedankt sich herzlich bei unseren Autor_innen und hofft, dem Gefühl der Ohnmacht mit Analysen und vor allem einer Gegenerzählung etwas entgegensetzen zu können. Als Leitspruch empfehlen wir die Haltung des Schaffers des Afrofuturismus, Sun Ra:
»Das Unmögliche zieht mich an, denn alles Mögliche ist schon gemacht worden, und die Welt hat sich nicht verändert.« (Zit. n. Walter 2014)
Literatur
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