Abstract Starting from personal observation, I develop my argument around what I call the »right to be complex,« which is often denied to marginalised persons. I propose taking intersectionality seriously by recognising the complexity of power structures and subject positions. In my examples, debates about sexual violence often equate victims with white, non-migrant females and the demands for gender-sensitive language only represent white middle-class German speakers, leaving everybody else outside, and forcing subjects situated in ambiguous positions into a false loyalty conflict. I argue for closer attention and non-reductionist approaches to such ambiguous positions. Furthermore, I draw on Urmila Goel’s insights into the complexity of racism, and argue that a person can be positively and negatively affected by it, as it is in the case of anti-Slavic and several other forms of racism. In the last section, I briefly refer to the debate on the autonomy of migration and consider the right to be complex as a right to move or to stay. I conclude with the idea of a myriad of origins belonging to every person instead of persons belonging to one single point of origin. As a consequence, I argue for a personal right not only to decide where we want to go but also where we have come from.
Keywords intersectionality, complexity of power structures and subject positions, autonomy of migration, racism, moral rights
Wie bitte?
Wo deine Heimat ist!
Hab’ ich nicht. Und brauch’ ich auch nicht.
Was ist denn so verwerflich an dem Begriff ›Heimat‹?
Nichts.
Der Dialog ereignete sich vor etwa fünf Jahren im Rahmen eines Seminars über ökonomische Anthropologie an der Universität Jena. Ich, immerhin schon seit sechs Jahren Teil dieser Gesellschaft, immerhin Studierende im Master Gesellschaftstheorie, immerhin ganze Abende in die Lektüre von Polanyi und Graeber vertieft, wurde in der Pause im falschen Deutsch angesprochen. Wie mein Kommilitone auf die Idee gekommen war, ich könnte keine komplexe Sprache verstehen oder sei nicht wichtig genug, in einem grammatikalisch korrekten Satz adressiert zu werden, ist mir bis heute schleierhaft. Meine Seminarbeiträge konnten hierfür jedenfalls keine Grundlage bieten, denn sie waren auch damals schon sehr komplex. Dass sich der Kommilitone erst nach meiner verwunderten Nachfrage an die Existenz von Pronomen und Verben in seiner vermeintlichen ›Muttersprache‹ erinnerte, war anscheinend nur für mich ein Widerspruch. Wie er meine sichtbare Erschütterung auf den Heimatbegriff zurückführen konnte und nicht etwa auf den rassistischen Platzverweis, den er ausgesprochen hatte, weiß ich ebenfalls nicht. Was ich jedoch weiß: Solche Situationen waren und sind für mich und andere als ›fremd‹ markierte Personen alltäglich.
Ich habe keine Heimat, weil ich die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, beim besten Willen nicht als Heimat bezeichnen kann, ‒ ich habe sie ja nicht ohne Grund Hals über Kopf verlassen. Dass ich das auch in Bezug auf die Gesellschaft, in der seit über einem Jahrzehnt lebe, nicht kann, beweist die oben dargestellte Situation hinreichend. Ich brauche keine Heimat, weil ich mich mit diesem Umstand abgefunden und das Beste daraus gemacht habe. Ich begreife mich nicht als Deutsche und auch nicht als Russin. Ich definiere mich als eine in Westsibirien aufgewachsene, in Deutschland lebende, postnationale Person mit Migrationsgeschichte. Und außerdem als weiblich, lesbisch, armuts- und gewalterfahren und neuroqueer — nur um Einiges zu nennen.
Dieser Artikel widmet sich dem Recht, komplex zu sein, das für Mehrfach-Nicht-Zugehörige wie mich eine existentielle Bedeutung hat, sowie seiner Umsetzung in der wissenschaftlichen und politischen Praxis. Ich widme mich dabei insbesondere zwei Kontexten: erstens dem Umgang mit vielfältigen Diskriminierungen und Positionierungen und zweitens dem Thema Autonomie der Migration.
Von Inter- und ›Intrasektionalität‹, konfligierenden Loyalitäten und falschen Persönlichkeitsspaltungen
Zwei theoretische Bezüge sind für die folgenden Überlegungen von Bedeutung und bilden meinen wissenschaftlichen Ausgangspunkt: einerseits die neuere deutschsprachige Rassismusforschung und andererseits die Intersektionalitätsdebatte. Meine Argumentation baut hauptsächlich auf Urmila Goels »Plädoyer für Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten in der Rassismuskritik« (Goel 2013) sowie meinen eigenen Beobachtungen auf.
Was ich auf der Ebene des Subjekts als das Recht, komplex zu sein, zusammenfasse, bedeutet auf der gesellschaftsanalytischen Ebene eine ganz und gar nicht so komplexe Erkenntnis: Komplexe Macht- und Ungleichheitsverhältnisse1 ergeben komplexe Subjektpositionen ergeben komplexe Macht- und Ungleichheitsverhältnisse usw. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler/innen, als politische Akteur/innen und Alltagsmenschen besteht m.E. darin, diesem Umstand Anerkennung zu verschaffen und ihn in unserer Tätigkeit zu berücksichtigen.
Wir benötigen Kategorien in unserem alltäglichen Leben, in unserer wissenschaftlichen und politischen Arbeit, weil wir ohne sie nicht sprechen könnten. Wir benötigen sie zur notwendigen Komplexitätsreduktion. Eine Frage zwingt sich für mich jedoch auf: Auf wessen Kosten erfolgt die Komplexitätsreduktion? Wer wird warum und auf welche Weise nicht benannt, nicht repräsentiert, nicht erfasst? Im Kontext der Migrations- und der Diskriminierungsforschung sagt die Frage, welche Subjektpositionen und Lebensrealitäten ausgelassen wurden, oft mehr über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus, als die Auflistung der Genannten. So kann man sich fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass es unter den Opfern der Kölner Silvesterangriffe keine nicht-weißen oder migrantischen Frauen befanden. Die mediale Inszenierung der Opfer als eine universelle, allumfassende weiße deutsche Figur und der Täter als einen einheitlich schwarzen migrantischen Mann (vgl. u.a. Kulaçatan 2016) war eine Komplexitätsreduktion mit fatalen Konsequenzen für ›migrantisierte‹ Männer, für nicht-weiß-deutsche Opfer sexistischer Gewalt und für alle anderen Subjekte, die diesem Bild nicht entsprechen konnten.
Für Mehrfach-Betroffene ergibt sich aus solchen Situationen zudem ein unmöglicher Loyalitätskonflikt. Ich kann mich nicht spalten und an einem Tag Frau, an einem anderen Tag Migrantin, wieder später mal homosexuell oder von Klassismus betroffen sein, und dann vielleicht auch noch Soziologin, die das alles analysieren darf, wenn sie denn Glück hat. Als Person bin ich das alles auf einmal und hätte zu allem etwas zu sagen. Und auch wenn die Erkenntnisse, die man üblicherweise unter dem Stichwort »Intersektionalität« zusammenfasst, mittlerweile zum politischen und wissenschaftlichen Mainstream gehören oder zumindest auf dem besten Weg dahin sind, beobachte ich wenig Konsequenzen daraus im — wissenschaftlichen wie politischen — Alltag: Wenn es hart auf hart kommt, darf man doch entweder schwul sein oder Migrant. Oder in Fatima El-Tayebs Worten:
»Zu den Erkenntnissen von postcolonial studies und queer theory, die sich im letzten Jahrzehnt nahezu als Gemeinplatz durchgesetzt haben, gehört jene von der Interdependenz der Konzepte von ›Rasse‹ und Geschlecht, der Unmöglichkeit, das eine ohne das andere adäquat zu analysieren. Auch im deutschen akademischen Diskurs wird dieser Ansatz weitgehend anerkannt — mit einer wichtigen Ausnahme: der Analyse der deutschen Gesellschaft selbst.« (El-Tayeb 2012: 129; Herv. i. O.)
Denn aus mehrfachen (Nicht-)Zugehörigkeiten können sich durchaus konfligierende Interessen und Sensibilitäten ergeben. Die Auseinandersetzungen um eine geschlechtergerechte Sprache etwa können rassistische oder klassistische Ausgrenzungen produzieren. Eine Sprachnorm, die in der geschriebenen Form mit Partizipien und Sonderzeichen gespickt ist und in der gesprochenen Form eine Sprechweise verlangt, die für viele nicht-deutsche ›Erstsprachler/innen‹ dieser Welt körperlich nicht zu schaffen ist, erzeugt immer neue Gründe, ganze Gruppen von Personen auszuschließen, die über keine ›korrekte‹ Sprache verfügen, und beraubt sie ihrer ohnehin marginalisierten Artikulationsmöglichkeiten. Das antisexistische Ziel also, Frauen, aber vor allem Inter- und Trans-Personen eine angemessene Repräsentation in der Sprache zu ermöglichen, lässt sich nicht ohne Weiteres mit der antirassistischen Linguizismus-Kritik am repressiven Gebrauch der (deutschen) Sprachnorm vereinbaren. Mit der Forderung nach einer klaren, verständlichen Kommunikation, die insbesondere im Kontext von Klassismus und Ableismus immer wieder laut wird, wird es auch nicht einfach sein.
Die Auflistung solcher ›Loyalitätskonflikte‹ ließe sich nun ins Unendliche steigern, jedoch besteht der Kern des Problems für mich darin, sie überhaupt als Konflikte zu betrachten und nicht etwa als fruchtbare Differenzen. Der oben zitierte Aufsatz von El-Tayeb endet mit einem Aufruf, die queer theory beim Wort zu nehmen und zur analytischen Grundlage für neue Koalitionen zu machen, in denen sowohl die mehrheitsdeutsche Dominanz etwa in der Lesben- und Schwulenbewegung als auch die Eindeutigkeit der ethnischen Zugehörigkeit in Frage gestellt werden (ebd.: 137f.). Beim Wort nehmen kann man auch bereits Judith Butler, die in »Das Unbehagen der Geschlechter« von einer notwendigen und produktiven Unvollständigkeit der Kategorie ›Frau‹ ausging (Butler 2014 [1991]: 35). Gerade die daraus resultierenden Divergenzen und Interessenkonflikte können zur Basis für eine neue Bündnispolitik werden:
»Vielleicht ist es für ein Bündnis gerade notwendig, die eigenen Widersprüche anzuerkennen und mit diesen ungelösten Widersprüchen zum Handeln überzugehen. Vielleicht gehört es auch zur dialogischen Verständigung, dass man die Divergenzen, Brüche, Spaltungen und Splitterungen als Teil des oft gewundenen Demokratisierungsprozesses akzeptiert.« (Ebd.)
Doch es geht noch komplexer. Die Bekenntnis zur intersektionalen Analyse und Arbeitsweise allein reicht nicht, denn jede Kategorie, um die es hier geht, und jedes Herrschaftsverhältnis ist in sich schon komplex.2 Darauf hat auch Urmila Goel (2013) in ihrem Plädoyer hingewiesen, indem sie dazu aufgerufen hat, sich vermehrt mit Widersprüchen, Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen in der Rassismusforschung zu beschäftigen. Einerseits erfordert dies eine gesonderte Aufmerksamkeit für Verflechtungen von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen, andererseits aber auch eine genauere Betrachtung der ›Familienähnlichkeiten‹ (Mecheril/Melter 2011) und der Unterschiede zwischen einzelnen Rassismen — etwas, das ich hier zugespitzt als eine ›intrasektionale‹ Perspektive bezeichne. Rassistische, aber auch sexistische, klassistische etc., Unterscheidungen sind relational und kontextspezifisch, so dass in der Forschung schon seit einiger Zeit von Rassismen im Plural gesprochen wird (Hund 2006; Mecheril/Melter 2011).
Ambivalente Positionierungen sind hier unvermeidbar und die Auseinandersetzung mit ihnen dringend notwendig. Goel verweist in diesem Zusammenhang auf die prekäre Position von Personen, »die physiognomisch als Zugehörige zur Dominanzgesellschaft passieren können, die aber als nicht zur Dominanzgesellschaft zugehörig klassifiziert und rassistisch ausgegrenzt werden, sobald mehr Informationen über sie zur Verfügung stehen (z.B. Name, Sprache, Informationen über Familienbiographie)« (Goel 2013: 86f.). Ein klassisches Beispiel aus meiner Praxis ist der Antislawismus. Von einigen Forscher/innen gar nicht erst als Rassismus anerkannt (s. Arndt 2009)3, obwohl es auch Rassismusforscher/innen of Colour gibt, die die Rassifizierung osteuropäischer Bevölkerungen durchaus anerkennen (bspw. El-Tayeb 2016) oder sogar auf die Kontinuitäten zwischen dem deutschen Kolonialismus und der jahrhundertealten Pol/innenfeindlichkeit hinweisen (Ha 2012), bildet der antislawische4 Rassismus oft einen Streitpunkt. Kann es einen Rassismus gegenüber Menschen geben, die weiß aussehen? Ja, aber man muss diese Menschen dafür als ›weniger‹ oder ›nicht so richtig‹ weiß kategorisieren. Als slawisch kategorisierte Menschen machen Rassismuserfahrungen, indem man sie etwa als gewalttätig, barbarisch, unterentwickelt und gefährlich darstellt. Und slawische Menschen können selbst rassistisch agieren, indem sie darauf bestehen, auf Kosten Anderer als weiß anerkannt zu werden, und ihren Anteil an weißen Privilegien einfordern. Eine Person kann zudem von mehreren Rassismen zugleich betroffen sein: etwa aufgrund ihres Aussehens, ethnischer, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit, ihrer Sprache, ihrer Migrationserfahrung oder Familiengeschichte. Verschiedene Betroffenen-Positionen in unterschiedlichen Rassismen erzeugen bisweilen gegensätzliche Interessen und Bedürfnisse: So ist es vielen Schwarzen Deutschen enorm wichtig, als Deutsche anerkannt zu werden, da sie auch und gerade durch die Verweigerung der nationalen Zugehörigkeit rassistisch angegriffen werden. Für viele Menschen mit Migrationsgeschichte sind hingegen Mehrfachzugehörigkeiten bedeutend, wieder Andere streben eine Dekonstruktion der nationalen Zugehörigkeit als solchen an, da sie diese als rassistisch wahrnehmen. Wichtig ist es, diese Konflikte als produktive Impulse aufzufassen und keine falsche Opferkonkurrenz darauf aufzubauen.
Für mich als Wissenschaftlerin bedeuten solche Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten wie die oben beschriebenen, dass ich in meiner Arbeit eine kontextspezifische, für Feinheiten offene Fallanalyse praktizieren muss, und zwar nicht nur in Bezug auf Rassismus. Eine Frau ist einem Mann gegenüber tendenziell benachteiligt. Der Sexismus gegenüber Trans- und Inter-Personen ist jedoch ein anderer, und in diesem Fall ist eine cis-Frau mit ihrem immerhin normkonformen Geschlecht eher als privilegiert einzustufen — vorausgesetzt, alle anderen Faktoren sind gleich, versteht sich. Gerade das Einfordern von Eindeutigkeit und klar abgegrenzten Kategorien ist zudem ein wesentliches Merkmal von Rassismus (aber auch von Sexismus), da hier alles Abweichende als monströs wahrgenommen wird (vgl. Goel 2013: 80; Mecheril 2003: 323ff.).
Für mich als Privatperson und als Aktivistin folgt aus meiner eigenen uneindeutigen Position die Anerkennung der (sozialen) Tatsache, dass ich von Rassismus, (Hetero-)Sexismus und Klassismus negativ und positiv betroffen bin. Ich muss zwischen den Kontexten und Situationen unterscheiden, in denen ich meine eigene Entmenschlichung thematisieren darf und soll, und solchen, in denen ich, z.B. als weiße Person, immer noch Vorteile und Privilegien habe. Das letzte Jahrzehnt verbrachte ich mit der z.T. unfreiwilligen Arbeit an meinem körperlichen passing, und diese Arbeit war sehr erfolgreich: Die Situationen, in denen andere Menschen immer noch nach ›slawischen Gesichtszügen‹ oder nach ›einem Akzent‹ bei mir suchen, werden immer seltener, und ich werde immer mehr als deutsch wahrgenommen. Was ich bei aller Angst, aufzufallen und wieder Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen zu machen, jedoch nie vergessen darf: Andere haben diese Wahl nie gehabt. Das Recht, komplex zu sein, wird in diesem Fall zur Pflicht.
Autonomie der (migrantischen) Komplexität, oder: It’s sociology, stupid!
Vieles wurde bereits gesagt zur Debatte um die Autonomie der Migration. Ohne auf die einzelnen Positionen hier näher eingehen zu können, fasse ich die grundlegende Frage auf folgende Weise zusammen: Sind Migrant/innen und Geflüchtete als autonome Subjekte aufzufassen, oder verharmlost eine solche Betrachtung die Zwänge und Beschränkungen, denen sie unterliegen und die sie in erster Linie zu transnationaler Migration motivieren? Vor Kurzem wurde die Kritik an der Autonomie-Perspektive in der Intervention von Miriam Lang in dieser Zeitschrift auf den Punkt gebracht:
»Migration ist meistens keine freigewählte, emanzipierte Entscheidung, sondern die Reaktion auf ein Zusammenwirken von Zwängen, beispielsweise kapitalistischen, geschlechtsspezifischen, ökologischen und/oder (neo)kolonialen. Und sicher wären viele derjenigen, die heute mit dem europäischen Grenzregime Katz und Maus spielen, lieber in ihrem kulturellen und sozioökonomischen Kontext geblieben, wenn das denn eine gangbare Perspektive gewesen wäre.« (Lang 2017: 183; Herv. i. O.)
Aus meiner Sicht muss die Entscheidung, Geflüchtete entweder als autonome Gestalter/innen ihres eigenen Lebens oder als Opfer der Umstände zu betrachten, notwendigerweise scheitern. Sie muss scheitern, weil die binäre Opposition — wie in so vielen anderen Fällen — aufgrund ihrer Unterkomplexität am Leben der Betroffenen vorbeigeht. Menschen bewegen sich aufgrund von Zwängen und nutzen dabei dennoch ihre begrenzten Entscheidungsspielräume, sind freiwillig geflüchtet oder unfreiwillig migriert, oder eins nach dem anderen, oder alles auf einmal. Vor zehn Jahren ging es mir nicht darum, hier zu sein. Es ging mir in erster Linie darum, nicht mehr dort zu sein. Aber ich bin nun mal hier, und wenn ich schon einmal hier bin, will ich auch hier sein dürfen, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Ich verstehe die Autonomie der Migration nicht als falsche Tatsachenfeststellung, die die Not und Gewalt verschleiert, denen viele Migrant/innen nach wie vor ausgesetzt sind. Der Wunsch nach Bewegungsfreiheit impliziert auch die Freiheit, zu bleiben, und die Autonomie der Migration entsprechend auch die Autonomie, nicht zu migrieren. Ich verstehe sie als Ziel, als Forderung, als ein leises Versprechen einer weniger schlechten Welt, als Spuren einer hoffentlich besseren Zukunft in der Gegenwart.
Das Recht, komplex zu sein, ist kein postmoderner Spleen. Ich sehe es als notwendige Basis für ein respektvolles Zusammenleben und -arbeiten, für unsere Forschung und unsere politischen Kämpfe. Meine Lieblingsantwort auf die Frage, wo ich ›ursprünglich‹ oder ›eigentlich‹ herkomme, lautet: Ich bin eine Person, ich habe nicht den einen Ursprung, sondern Tausende. Das Recht, komplex zu sein, hier in der Form von Autonomie der Migration, bedeutet, nicht nur selbst entscheiden zu dürfen, wo man hinwill, sondern auch, wo man herkommt. Es ist das Recht, eine Heimat zu haben und zu brauchen oder nicht, das Recht, selbst zu entscheiden, mit welchen Orten und Lebensphasen man sich am ehesten identifizieren kann, das Recht auf die eigene Geschichte.
In den vielen Positionierungen und Kategorisierungen, die ich in Bezug auf mich selbst und andere erzwungenermaßen vornehmen muss, fehlt oft eine ganze Reihe: nicht die Kategorien, die uns einfach zugestoßen sind, sondern diejenigen, für die wir uns entschieden haben. Freundin. Aktivistin. Soziologin. ›Die mit den grünen Haaren‹. Wenn ich also das Recht hätte, komplex zu sein, könnte ich mit Sicherheit sagen: Ich komme aus Jena, und zwar aus dem Institut für Soziologie der FSU. Das ist der Ort, den ich am ehesten als mein Zuhause empfinde, obwohl dieser Ort sehr hässlich und feindselig sein kann. Denn dieses Zuhause habe ich mir selbst verdient, indem ich für meine symbolische und epistemische Existenz gekämpft und mich selbst zu dem Subjekt sozialisiert habe, das ich heute bin. Ich unterrichte spezielle Soziologien an einem fast ausschließlich weißen und migrationsbereinigten Ort, und das ist es, was mich gerade ausmacht. Ich komme aus der Soziologie, die mir das analytische Rüstzeug und die Begriffe dafür gegeben hat, das auszudrücken, was ich ohnehin wusste. ›Wo Heimat‹ also? It’s sociology, stupid.
Literatur
Arndt, Susan (2009): ›Rassen‹ gibt es nicht, wohl aber die symbolische Ordnung von Rasse. Der ›Racial Turn‹ als Gegennarrativ zur Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus. In: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Dies. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. 2. Aufl. Münster. 340‒362.
Butler, Judith (2014 [1991]): Das Unbehagen der Geschlechter. 17. Aufl. Frankfurt am Main.
El-Tayeb, Fatima (2012): Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa. In: Steyerl, Hito / Gutiérez Rodriguez, Encarnación (Hg.): Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. 2. Aufl. 129‒145.
El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischer Gesellschaft. Bielefeld.
Goel, Urmila (2013): Ein Plädoyer für Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten in der Rassismuskritik. In: Mecheril, Paul / Thomas-Olalde, Oskar / Melter, Claus / Arens, Susanne / Romaner, Elisabeth (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive. Wiesbaden. 79‒92.
Ha, Kien Nhgi (2012): Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik. In: Steyerl, Hito / Gutiérez Rodriquez, Encarnación (Hg.): Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, 2. Aufl. Münster. 56‒107.
Hund, Wulf D. (2007): Rassismus. Bielefeld.
Kulaçatan, Meltem (2016): Die verkannte Angst des Fremden. Rassismus und Sexismus im Kontext medialer Öffentlichkeit. In: do Mar Castro Varela, María / Mecheril, Paul (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld. 107‒117.
Lang, Miriam (2017): Den globalen Süden mitdenken! Was Migration mit imperialer Lebensweise, Degrowth und neuem Internationalismus zu tun hat. In: movements 3 (1), 179‒190.
McCall, Leslie (2005): The Complexity of Intersectionality. In: Signs, 30(3). 1771‒1800.
Mecheril, Paul (2003): Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. Münster/New York/München/Berlin.
Mecheril, Paul / Melter, Claus (2011): Rassismustheorie und -forschung in Deutschland. Konturen eines wissenschaftlichen Feldes. In: Dies.: Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach. 13‒22.