Der Europäische Pakt gegen Migration

Charles Heller, Bernd Kasparek

Abstract The EU Commission’s proposal for a ›New Pact for Migration and Asylum‹ is a pact against migration. While it offers a new mechanism of flexible »burden sharing« between EU member states, it remains premised on keeping most migrants from the global South out at all cost. It offers no prospect of ending the enduring mobility conflict opposing the movements of illegalised migrants to the EU’s restrictive migration policies. A new Pact with migrants is urgently needed, one that takes as starting point the reality of migrants’ movements and offers a frame for it to unfold, all the while addressing the systemic conditions leading people to flee their homes as well as the root causes of Europe’s racism. Until such a policy is instituted, human suffering and political crises will be perpetuated, and nongovernmental actors will have to continue to mobilize in defence of and in solidarity with migrants.


Keywords European Commission, New Pact, Moria, Schengen


Diese Übersetzung ins Deutsche basiert auf zwei englischen Artikeln, die im Oktober 2020 bei openDemocracy erschienen sind: The EU’s pact against migration, Part One & Towards a European pact with migrants, Part Two. Eine französische Übersetzung ist im März 2021 bei mouvements erschienen: Le pacte européen contre les migrations. Deutsche Übersetzung: Matt Rees.

Das von der Europäischen Kommission bereits im Juli 2019 angekündigte ›Neue Migrations- und Asylpaket‹ wurde am 23. September 2020 vorgelegt.1 Das Paket wurde mit Spannung erwartet, da es als ein »Neuanfang für die Migration in Europa« bezeichnet wurde. Damit wurde nicht nur zugegeben, dass das Dublin-System gescheitert war2, sondern auch, dass die Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten darüber, welches System es ersetzen soll, ins Stocken geraten waren. Das Feuer in Moria, durch das mehr als 13.000 Menschen auf den Straßen der Insel Lesbos strandeten, war ein leuchtendes Symbol, welches das Versagen der aktuellen EU-Politik deutlich macht. Der darauffolgende öffentliche Aufschrei und die deutlichen Zeichen der Solidarität in ganz Europa, drängten die Kommission zu einer Reaktion in Form der Veröffentlichung ihres neuen Migrations- und Asylpakets. In Anbetracht der Entwicklung der EU-Migrationspolitik in den vergangenen Jahrzehnten, der besonderen Stellung der Kommission in der europäischen Machtstruktur sowie einer derzeitig im politischen Umfeld Europas vorherrschenden verschärften Anti-Migrationsstimmung, konnte man nicht davon ausgehen, dass der Vorschlag der Kommission den der Krise der Migrationspolitik zugrundeliegenden Mobilitätskonflikt konstruktiv adressieren würde. Und in der Tat, das Hauptanliegen des Pakets besteht darin, die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten durch ein neues Konzept für »flexible Solidarität« zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden, indem man die »Last« der auf europäischem Gebiet ankommenden Migrant*innen aufteilt. Unter Weiterführung der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte baut es weiterhin auf der Voraussetzung auf, dass die Mehrzahl der Migrant*innen aus dem globalen Süden um keinen Preis in die EU gelassen werden sollen. Das »Neue Paket« ist gewissermaßen ein Pakt zwischen den europäischen Staaten gegen Migrant*innen. Das Migrations- und Asylpaket, das in den kommenden Monaten vom Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union geprüft und möglicherweise verabschiedet wird, bestätigt die Sackgasse, in die drei Jahrzehnte europäische Migrations- und Asylpolitik geführt haben sowie das Fehlen jeglicher politischer Imagination, die diesen Namen verdient hat.

Die gescheiterte Architektur des EU-Migrationsregimes

Die aktuelle Architektur des Europäischen Grenzregimes basiert im Wesentlichen auf zwei ineinandergreifende Säulen: Das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ oder Schengen II) und das Dubliner Übereinkommen, die beide 1990 unterzeichnet und in den darauffolgenden zwei Jahren sukzessive umgesetzt wurden .3 Geschlossen außerhalb des EG/EU-Kontexts wurden diese Übereinkommen nach deren Einbeziehung in das EU-Recht durch den Vertrag von Amsterdam (1997/99) zur zentralen Rationalität des entstehenden europäischen Grenz- und Migrationsregimes. Schengen etablierte das Territorium der EU als Gebiet, in dem die EU-Bürger*innen ohne Kontrollen an den Binnengrenzen frei reisen können. Als direkte Folge wurde der Ausschluss von Bürger*innen aus dem globalen Süden verschärft und die Kontrolle auf deren Außengrenzen übertragen. Diese tiefgreifende Änderung der europäischen Grenzen änderte jedoch nichts an den systemimmanenten, unausgeglichenen Beziehungen zwischen den Ländern Europas und denen des globalen Südens, in denen die Migrationsbewegungen eingebettet sind. Folglich hielt dieser politische Kurswechsel die Migrant*innen nicht davon ab, in die EU zu gelangen, sondern illegalisierte ihre Mobilität, was sie dazu zwingt, prekäre Migrationsstrategien zu wählen und somit zu leicht auszubeutenden Arbeitskräften zu werden, die zu einem weitreichenden und dauerhaften Merkmal der EU-Volkswirtschaften geworden sind. Seit Ende der 1980er-Jahre verzeichnen NGOs mehr als 40.000 ums Leben gekommene Migrant*innen. Dies ist die tödliche Folge des andauernden Mobilitätskonflikts zwischen den illegalisierten Migrant*innen und den restriktiven Migrationspolitiken der EU.

Die zweite Säule der Migrationsarchitektur der EU, das Dubliner Übereinkommen, befasst sich mit Asylsuchenden und regelt ihre Aufteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Um zu verhindern, dass sie in verschiedenen EU-Ländern Anträge stellen – abfällig auch »asylum shopping« genannt − besagt die Dublin-Verordnung von 2003, dass das erste Land in der EU, in das Asylsuchende einreisen, für die Bearbeitung ihrer Anträge verantwortlich ist. Infolgedessen schuf die Dublin-Verordnung eine sehr ungleiche Geographie der (Un)verantwortlichkeit, die es den Mitgliedstaaten, die nicht direkt an einem Schnittpunkt europäischer Grenzen und Migrationsrouten liegen, ermöglicht, sich ihrer Verantwortung, Unterkunft und Schutz zu bieten, zu entziehen, und bürdete den Staaten, die sich an den Außengrenzen der EU befinden, eine noch schwerere »Last« auf. Diese unausgewogene Architektur, um die das gesamte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) konstruiert wurde, begann zu schwanken, als die Anzahl der Menschen, die die Küsten der EU erreichten, anstieg. Sie führte zu krisengetriebenen Antworten der Politik, die zu verhindern versuchten, dass das Migrationsregime zusammenbricht: einerseits unter dem Druck der migrantischen Weigerung, einem Land zugeteilt zu werden, das nicht ihrer Wahl entsprach, andererseits durch die Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten.

Die Entwicklung der europäischen Grenz-, Migrations- und Asylpolitik war daher von Beginn an kriesengetrieben und inhärent reaktiv. Dieses Muster gilt insbesondere für das letzte Jahrzehnt, als die großen Bewegungen von Migrant*innen nach Europa nach den arabischen Aufstände 2011 das Migrationsregime der EU in einen permanenten Krisenmodus versetzten und hastige Reformen hervorbrachten. 2011 erlaubte Italien es den Tunesiern, in der EU weiterzuziehen, was zu einer vorläufigen Wiedereinführung der Grenzkontrollen durch Staaten wie Frankreich führte. Im gleichen Jahr veranlasste der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil, Überstellungen nach Griechenland unter dem Dublin-System aufgrund unzumutbarer Aufnahme- und Lebensbedingungen vor Ort einzustellen. Die ab 2013 zunehmende Ablehnung der Asylsuchenden, ihre Fingerabdrücke abzugeben – der Kernmechanismus der Umsetzung der Dublin-Verordnung – führte zu einer weiteren Destabilisierung des Migrationsregimes.

Die Instabilität nahm weiter zu, als im April 2015 mehr als 1.200 Menschen in zwei aufeinanderfolgenden Schiffsunglücken ihr Leben verloren und die Kommission dazu zwangen, ihre »Europäische Agenda für Migration« im Mai 2015 zu veröffentlichen. Die Agenda kündigte die Etablierung eines Hotspot-Systems an, in der Hoffnung, das europäische Migrationsregime durch einen gezielten Einsatz europäischer Agenturen an Europas Grenzen wieder zu stabilisieren. Im Wesentlichen bietet der Hotspot-Ansatz den EU-Mitgliedstaaten einen Deal an: Eine umfangreiche Registrierung in europäisierten Strukturen (den Hotspots) durch sogenannte »Frontstaaten« – wodurch das Dublin-System wieder angewandt wird – im Austausch für eine Umsiedlung (relocation) eines Teils der registrierten Migrant*innen in andere EU-Länder – wodurch Frontstaaten ein Teil ihrer »Last« abgenommen wird. Dieser Plan scheiterte jedoch, bevor er jemals funktionieren konnte, da kurz darauf, im Sommer 2015, in großer Zahl Migrant*innen Europa erreichten und ihre Reise auch in ihrem Inneren fortsetzten. Gleichzeitig wurde die Agenda von mehreren Mitgliedstaaten, die Umsiedlungen ablehnten, boykottiert und die auch weiterhin eine deutliche Anti-Migrationsagenda in der EU vorantreiben. Grenzkontrollen wurden wieder eingeführt und die relocation fand in den darauffolgenden Jahren kaum statt.

Nachdem das Dublin-Regime effektiv lahmgelegt worden war und die EU sich nicht auf ein neues Konzept für die Verteilung von Asylsuchenden innerhalb Europas einigen konnte, bediente sich die EU jahrzehntealter Politiken, die das europäische Grenz- und Migrationsregime von Beginn an geformt hatten: Migrant*innen um jeden Preis von der EU fernhalten, umgesetzt entweder durch die Mitgliedstaaten, europäische Agenturen oder durch Drittstaaten, die in die externalisierte Migrationskontrolle einbezogen worden waren. In Anbetracht der tiefen Krise, in die die turbulenten Migrationsbewegungen die EU im Sommer 2015 gestürzt hatten, schien keine Maßnahme zu übertrieben zu sein, um dieses Ziel des Ausschlusses zu erreichen: weder die stillschweigende Akzeptanz der gewaltsamen Ausweisungen und Push-backs durch Spanien und Griechenland, noch die Auslagerung der Grenzkontrollen an libysche Folterer, noch die schamlose Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen wie etwa der Türkei. Unter dem Vorwand, »die Grundursachen der Migration anzugehen«, wurde Entwicklungshilfe zweckentfremdet und genutzt, um die Externalisierung der Grenzen voranzutreiben und Abschiebevereinbarungen zu schließen. Aber die externe Dimension des EU-Migrationsregimes hat sich als genauso instabil erwiesen wie die interne – wie die Wiederöffnung der Grenzen durch die Türkei im März 2020 beweist. Die Bewegung der illegalisierten Migrant*innen in Richtung EU konnte nie ganz aufgehalten werden und diejenigen, die Europas Küsten erreichten, wurden zunehmend in Internierungsinfrastrukturen verbannt. Auch wenn Tausende in der Hölle von Moria gestrandete Migrant*innen kein Teil des ursprünglichen Hotspot-Plans waren, so war es doch das Ergebnis der internen Blockaden der EU und untermauerte letztendlich deren Abschreckungsstrategie in effektiver Manier.

Das »Neue Paket« hält weiterhin an der gescheiterten Abschottungspolitik der EU fest

Nun wurde das »Neue Paket«, das eigentlich für das Frühjahr 2020 angekündigt und auf der Höhe der Covid-19-Pandemie anscheinend in Vergessenheit geraten war, eilig wieder aus der Schublade geholt, um auf die Zerstörung des Hotspots Moria zu reagieren. Obwohl eine detaillierte Analyse der Bestimmungen, die es vorschlägt, über den Umfang dieses Artikels hinausgeht4, so sind die allgemeinen Absichten des Pakets mehr als deutlich. Trotz all seiner menschlichen und humanitären Rhetorik und einigen kritischen Worten bezüglich des offenkundigen Mangels an Rechtsstaatlichkeit an der Grenze Europas ist das Paket der Kommission ein Pakt gegen die Migration. Zieht man Bilanz aus der anhaltenden Sackgasse zum Thema interne Verteilung der Migrant*innen, bestätigt sich einmal mehr das zentrale Ziel der EU, die Anzahl der Asylsuchenden, denen Asyl in Europa gewährt wird, massiv zu reduzieren. Das Paket verspricht dieses sicherzustellen, indem weiterhin ausgelagerte Grenzkontrollen entlang der gesamten Migrationsroute installiert werden. Diejenigen, die es dennoch schaffen, anzukommen, sollen rasch überprüft und in Internierungsinfrastrukturen entlang der Grenzen von Europa sortiert werden. Die wenigen Glücklichen, denen es gelingt, ihr Leben dem immer enger gesteckten Rahmen des Asylrechts anzupassen, werden dann in andere EU-Länder umgesiedelt, die gemäß einem Verteilungsmechanismus je nach Bevölkerungsgröße und Wohlstand des Mitgliedsstaates ausgewählt werden.

Die Frage, ob das die Ungleichgewichte des Dublin-Regimes ausgleichen kann, bleibt offen, und doch ist der Verteilungsschlüssel einer der wenigen positiven vom Paket festgelegten Schritte, da es dem eigenen »Verteilungsschlüssel« der Migrant*innen näher kommt, jedoch nicht so weit geht, Asylsuchenden die Freiheit zu geben, zu wählen, in welchem Land sie Schutz suchen und wohnen möchten.5 Die Mehrheit der abgelehnten Asylsuchenden – was z.B. auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses des Begriffs »sicherer Drittstaat« festgelegt werden kann – wird in Richtung Abschiebung geleitet, die durch die EU-Staaten erfolgt, die eine Umsiedlung ablehnen. Die Kommission hofft, dass Abschiebungen reibungsloser stattfinden werden, nachdem ein neu ernannter »EU-Koordinator für Rückführungen« die Herkunftsländer mit Zuckerbrot und Peitsche, sprich mit Entwicklungshilfe und Visa-Sanktionen, unter Druck setzen wird, ihre Bürger*innen wieder aufzunehmen. Die Kommission scheint zu glauben, dass sie durch weniger erwartete Ankommende und weniger Migrant*innen, die letztendlich in Europa bleiben, und dank ihres Mechanismus der »flexiblen Solidarität«, der eine selektive Beteiligung an Umsiedlungen oder Rückführungen je nach Gusto der Mitgliedstaaten ermöglicht, sowohl die Lücke zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten schließen kann, als auch auf eine tiefere Europäisierung des Politikfeldes drängen kann, in dem sie eine zunehmend zentralere Rolle spielen wird.

Somit führte der Versuch der Quadratur des Kreises der EU-Kommission, das heißt, den Interessenkonflikt der Mitgliedstaaten zu beheben, zu einem europäischen Pakt gegen die Migration, der die Vorhaben der (Anti-)Migrationspolitik der EU in den letzten drei Jahrzehnten weiterverfolgt, die da wären: Auslagerung, aufgerüstete Grenzen, beschleunigte Asylverfahren, Haft und Abschiebungen, um Migrant*innen aus dem globalen Süden abzuschrecken und fernzuhalten. Die EU-Kommission scheint nun einen weiteren Deal mit den europäischen Mitgliedstaaten abzuschließen, ohne die Migrant*innen selbst zu beteiligen und auf deren Kosten. Da die meisten politischen Mittel in diesem Paket nicht neu sind und bisher immer erfolglos darin waren, illegalisierte Migration dauerhaft zu beenden – stattdessen haben sie eine große prekarisierte Bevölkerung im Herzen Europas hervorgerufen – wissen wir nicht, warum diese Mittel heute funktionieren sollten. Es werden auch weiterhin Migrant*innen ankommen und viele werden in den Grenzstaaten oder in anderen EU-Staaten stranden, während sie auf ihre Abschiebung warten. Im Grunde genommen ist das Ergebnis des Pakets (falls er angenommen wird) vermutlich die Aufrechterhaltung und Verallgemeinerung des Hotspot-Systems, als genau des Systems, dessen Unhaltbarkeit – versinnbildlicht durch das Feuer in Moria – überhaupt erst die Vorlage des »Neuen Pakets« veranlasste. Auch wenn die Rhetorik der Kommission – »keine weiteren Morias« – uns gerne vom Gegenteil überzeugen will: die Ruinen von Moria sind sowohl ein Fingerzeig in die Vergangenheit als auch auf die mögliche Zukunft der GEAS, falls die Kommission sich durchsetzt.

Wir sind schockiert darüber, dass Europa eine weitere Gelegenheit verpasst hat, seine Abschottungspolitik von Grund auf zu überdenken, eine Politik, die in keiner Weise der Realität von Massenvertreibung in einer ungleichen und miteinander verbundenen Welt entspricht. Wir sind schockiert über die Aussicht weiteren Leidens und weiterer politischer Krisen, die das einzige Ergebnis dieses kontinuierlichen Politikversagens sein wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass ein ganz anderer Ansatz dafür erforderlich ist, wie Europa die Migrationsbewegungen angeht. Ein Ansatz, der zum Ziel hat, den andauernden Mobilitätskonflikt zu deeskalieren und zu transformieren. Einer, der bei der Realität der Migrationsbewegung ansetzt und einen Rahmen dafür bietet, damit sie sich entfalten kann, anstatt sie zu unterdrücken und zu leugnen.

Für einen Pakt mit Migrant*innen

Stellen wir uns einen Moment lang vor, dass die EU-Kommission wirklich beabsichtigte und auch in der Lage wäre, die Migrationspolitik der neu auszurichten, und zwar in eine Richtung, die tatsächlich den andauernden Konflikt deeskalieren und transformieren könnte: Wie könnte ein Pakt mit Migrant*innen aussehen? Der Pakt mit Migrant*innen könnte von drei Grundvoraussetzungen ausgehen. Erstens könnte er anerkennen, dass jegliche Politik, die den sozialen Praktiken komplett entgegensteht, zwangsläufig Konflikte hervorruft und daher am Ende scheitern wird. Eine Migrationspolitik muss bei der sozialen Realität der Migration ansetzen und einen Rahmen für deren Entfaltung schaffen. Zweitens würde der Pakt sicherstellen, dass kein Konflikt einseitig beendet werden kann. Jeder Prozess der Konfliktbewältigung muss die Konfliktparteien zusammenbringen und anstreben, deren Bedürfnisse, Interessen und Werte anzusprechen, so dass sie nicht mehr in Widerspruch geraten. Vor allem Migrant*innen aus dem globalen Süden müssen in die Definition der Politiken einbezogen werden, die sie betreffen. Drittens müsste der Pakt anerkennen, dass, wie Tendayi Achiume es ausdrückte, die Migrant*innen aus dem globalen Süden nicht fremd in Europa sind.6 Sie sind schon seit langem in das weite Netz des Empire eingewoben. Migration und Grenzen sind in diesen ungleichen Beziehungen verankert und ein Ende des Mobilitätskonflikts kann ohne eine grundlegende Änderung dieser Felder nicht erreicht werden. Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen könnte der Pakt mit den Migrant*innen die folgenden vier Kernmaßnahmen enthalten:

1. Globale Gerechtigkeit und Konfliktprävention

Anstatt zu behaupten, die »Grundursachen« der Migration anzugehen, indem Entwicklungshilfe zweckentfremdet und für Grenzkontrollen instrumentalisiert wird, würde der Pakt mit Migrant*innen alle europäischen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen beenden, die zu den Krisen beitragen, die letztendlich zu Massenvertreibung führen. Die EU würde jegliche Unterstützung für Diktaturen einstellen, Waffenexporte stoppen und alle destabilisierenden Militärinterventionen beenden. Sie würde unfaire Handelsvereinbarungen kündigen und den Ländern im globalen Süden die Schulden erlassen. Sie würde massiven Kohlendioxidemissionen ein Ende machen, die zur Klimakrise beitragen. Dank dieser Maßnahmen würde die EU nicht behaupten, die Migration, die als »Problem« für Europa wahrgenommen wird, zu beenden, sondern sie würde dazu beitragen, dass mehr Menschen ein würdevolles Leben führen können, wo auch immer sie sich aufhalten und die Zwangsmigrationen reduzieren, die zweifellos ein Problem für Migrant*innen ist. Ein ehrliches Engagement für globale Gerechtigkeit und Konfliktprävention und -lösung ist erforderlich, wenn Europa die Faktoren reduzieren möchte, die dazu führen, dass sich zu viele Menschen in ihren Ländern und Regionen auf die beschwerlichen Wege des Exils machen, von denen nur ein kleiner Teil die Küsten Europas erreicht.

2. Die »Grundursachen« des Rassismus in Europa angehen

Während der von der EU verfolgte sogenannte »Globale Ansatz« für Migration im Grunde einseitig war und sich nur auf die Migration als »das Problem« und nicht auf die Prozesse konzentrierte, die die EU-Politik der Ausgrenzung vorantreiben, würde der Pakt der EU mit den Migrant*innen die »Grundursachen« für Rassismus und Xenophobie in Europa mutig angehen. Es würde eine beherzte Politik vorgeschlagen, die die koloniale Vergangenheit und Gegenwart sowie die rassistischen Vorstellungen, die sie hervorgerufen haben, adressiert. Es würde eine positive Vision für ein gemeinsames Zusammenleben verschiedener Gesellschaften bekräftigt und ein inklusiveres und faires Wirtschaftssystem in Europa errichtet, um die geschickt gelenkte Abneigung europäischer Bevölkerungsgruppen gegen Migrant*innen und rassifizierte Menschen zu reduzieren.

3. Universelle Freizügigkeit

Wenn die EU die Ursachen für die Massenvertreibung und die ausgrenzende Migrationspolitik angeht, dann könnte sie den Mobilitätskonflikt deeskalieren und somit eine Politik verfolgen, die allen Migrant*innen rechtliche Wege ermöglicht, Zugang zu Europa zu erhalten und dort zu bleiben. Als eine direkte Folge des Rechts auf internationale Mobilität7 würden sich Migrant*innen nicht mehr an Schlepper wenden und ihr Leben beim Überqueren des Meeres riskieren müssen – und müssten somit auch nicht mehr gerettet werden. Und in Zeiten der COVID-19-Pandemie würde die Nutzung sicherer und legaler Reisemittel es den Migrant*innen auch ermöglichen, alle Hygienemaßnahmen anzuwenden, die erforderlich sind, um sich selbst und jene, denen sie begegnen, zu schützen. Wenn Migration nicht weiter durch militärische Mittel kontrolliert würde, könnte Migration als ein normaler Prozess betrachtet werden, der keine Ängste schürt. Frontex, die EU-Grenzagentur, würde nur noch ein minimales Budget erhalten könnte ihre eingeschränkten Tätigkeiten auf die Aufdeckung echter Gefahren für die EU konzentrieren, anstatt vulnerable Bevölkerungen als »Risiken« darzustellen. In einer Welt, die weniger ungleich wäre und in der Menschen die Möglichkeit hätten, ein würdevolles Leben zu führen, wo auch immer sie sind, würde die universelle Freizügigkeit auch nicht zu einer »Invasion« Europas führen. Eine ständige Bewegung anstatt einer dauerhaften Niederlassung wäre üblich. Die verbesserte rechtliche Stellung der Migrant*innen würde es den Arbeitgebern auch nicht weiter ermöglichen, die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Ein europäisches Asylsystem würde es weiterhin geben, um den Bedürftigen Schutz und Unterstützung zu gewähren. Die Überreste der EU-Hotspots und der Internierungslager könnten in Willkommensministerien umfunktioniert werden, die die Menschen registrieren und zu den Orten ihrer Wahl bringen. Die Registrierung wäre dann nur eine Bescheinigung darüber, dass der erste Schritt in Richtung europäische Staatsbürgerschaft gemacht wäre und verwandelt Letztere in eine wahre postnationale Institution, ein ferner Horizont, auf den aktuelle EU-Verträge lediglich vage verweisen.

4. Grenzen demokratisieren

In Anbetracht dessen, dass alle bisherigen europäischen Migrationspolitiken völlig undemokratisch waren – in der Hinsicht, dass sie einer Gruppe von Menschen, den Migrant*innen, auferlegt wurden, die kein Mitspracherecht bei dem rechtlichen und politischen Prozess hatten, der die Gesetze zur Regelung ihrer Bewegungen definieren – würde der Pakt stattdessen das Ergebnis wesentlicher Beratungsprozesse mit Migrant*innen und den sie unterstützenden Organisationen und den Staaten des globalen Südens sein. Der Pakt würde, in Anlehnung an Étienne Balibars Vorschlag – eine dauerhafte Demokratisierung der Grenzen bedeuten, indem »eine multilaterale, verhandelte Kontrolle ihrer Arbeit durch die Bevölkerungen selbst stattfindet (einschließlich der Migrantenbevölkerungen natürlich)«, innerhalb »neuer Vertretungsorganisationen«, die »nicht nur ›territorial‹ und schon gar nicht nur national aufgestellt sind.«8 (unsere Übersetzung). In solch einem Pakt würde das ursprüngliche Versprechen eines Europas als postnationales Projekt endlich wieder Bedeutung erhalten.

Eine solche Politikausrichtung mag natürlich eine reine Fantasievorstellung sein. Und doch erscheint es uns einleuchtend, dass die Richtung, die wir vorschlagen, die einzig realistische ist. Europäische Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen gleichermaßen müssen verstehen, dass es nicht um die Frage geht, ob Migrant*innen ihre Freiheit nutzen, um Grenzen zu überqueren, sondern zu welchem menschlichen und politischen Preis sie das tun. Aus diesem Grund ist es wesentlich realistischer, sich den Prozessen zu widmen, in denen der Mobilitätskonflikt verankert ist, als zu versuchen, der menschlichen Mobilität einen Riegel vorzuschieben. Der »Black Lives Matter«-Slogan »No Justice, No Peace«, der in den vergangenen Monaten erneut auf den Straßen der Welt ertönte, erinnert uns daran, dass der Mobilitätskonflikt ohne Mobilitätsgerechtigkeit9 nicht beendet werden kann.

Die zukünftigen Herausforderungen der Solidaritätsbewegungen für Migrant*innen

Falls unsere Politikvorschläge realistisch im Hinblick auf die Migrantenbewegungen und die Prozesse, die sie formen, sind, sind wir uns dennoch bewusst, dass sie nicht unbedingt auf der Tagesordnung eines neoliberalen und nationalistischen Europas zu finden sind. Wenn die EU-Kommission eine weitere Gelegenheit verpasst hat, die Migrationspolitik der EU neu auszurichten, dann kann man mit Recht sagen, dass dieses Europa, regiert von diesen Mitgliedstaaten und Politiker*innen, die Fähigkeit verloren hat, mutige Visionen der Demokratie, der Freiheit und der Gerechtigkeit für sich selbst und die Welt zu entwerfen. Von daher haben wir wenig Hoffnung auf eine grundlegende Neuausrichtung der EU-Politik. Es bleibt nur die trübe Aussicht auf einen andauernden Mobilitätskonflikt und das menschliche Leiden sowie die politischen Krisen, die er verursacht.

Was können diejenigen tun, die Migrant*innen in diesem Zusammenhang unterstützen möchten? Wir müssen wohl mit einer ernüchternden Anmerkung an die Bewegung beginnen, von der wir ein Teil sind: Das Feuer von Moria ist nicht nur ein Symptom und ein Symbol gescheiterter Migrationspolitiken der EU und der Mitgliedstaaten, sondern auch unserer eigenen gescheiterten Strategien. Seitdem die Hotspots im Jahr 2015 vorgeschlagen wurden, haben wir sie immer wieder verurteilt und die entsetzlichen Lebensbedingungen dokumentiert, die sie mit sich gebracht haben. Wir haben Prozesse gegen sie angestrengt, aber die Bemühungen wurden durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abgeschmettert, der sich zunehmend schwerer damit zu tun scheint, sich selbst in Sachen Migration zu positionieren und damit zur Fortsetzung schwerer Gewalt durch die Staaten beiträgt. Und trotz der außerordentlichen Mobilisierung der Zivilgesellschaft zusammen mit Gemeinden in ganz Europa, die sich bereit erklärten, Migrant*innen willkommen zu heißen, blieb die Anzahl der Umsiedlungen stets gering. Nach fünf Jahren unermüdlicher Mobilisierung sind die Hotspots noch immer da, mit Tausenden von Asylsuchenden, die darin festsitzen. Die Untersuchungen zur Ursache des Feuers in Moria dauern noch an, es hat jedoch den Anschein, dass die Migrant*innen selbst, die dort wie Geiseln festsitzen, einen Versuch starteten, das Camp loszuwerden, indem sie es in einer Verzweiflungstat bis auf die Grundmauern niederbrannten. Aus diesem Grund müssen unsere politischen Bewegungen, während wir die EU-Politiken anprangern, auch unser eigenes Handeln dringend neu bewerten und es auf eine effektivere Art und Weise neu überdenken. Es steht uns nicht zu, oberlehrerhaft diese Missstände zu kritisieren, da wir selber einen Anteil an ihnen tragen. Wir glauben jedoch, dass einige der Richtungen, die wir in unserem utopischen Pakt mit Migrant*innen vorgeschlagen haben, auch die Solidaritätsbewegungen für die Migrant*innen anleiten können, da sie in der Gegenwart von Grund auf umgesetzt werden könnten und dabei helfen könnten, unsere politische Imagination neu zu beflügeln.

Freizügigkeit ist nicht, oder nicht nur, eine ferne Utopie, die vielleicht irgendwann in der fernen Zukunft von Staaten eingeführt werden wird. Sie kann durchaus auch als ein Recht und eine Freiheit gesehen werden, die sich illegalisierte Migrant*innen Tag für Tag nehmen, wenn sie die Grenzen ohne Erlaubnis überqueren und darauf bestehen, dort zu leben, wo sie leben möchten. Freizügigkeit kann als nützlicher Kompass dienen, um unsere Praktiken des Herausforderns und des Unterstützens zu steuern und zu bewerten. Gerichtsprozesse bleiben ein wichtiges Mittel, um den verschiedenen Formen von Gewalt und Verstößen, denen Migrant*innen entlang ihrer Routen ausgesetzt sind, zu begegnen, auch wenn wir einräumen müssen, dass nationale und internationale Gerichte weit davon entfernt sind, gegen die Anti-Migrations-Stimmung innerhalb der Staaten immun zu sein. Infrastrukturen der Unterstützung für Migrant*innen auf ihrem langen Weg (wie das WatchThe Med Alarm-Phone und die zivile Rettungsflotte), als auch an ihrem Aufenthaltsort zu schaffen, sind und werden auch weiterhin von großer Bedeutung sein. Während die Staaten sich bemühen, ein, wie sie es nennen »integriertes Grenzmanagement« umzusetzen, das anstrebt, die aufrührerische Mobilität vor, an und hinter den Grenzen zu managen, können wir uns unsere eigenen Netzwerke vorstellen, die eine fragmentierte, und doch miteinander verbundene »integrierte Grenzsolidarität« entlang der gesamten Route der Migrant*innen bildet. Die Kriminalisierung unserer Solidaritätsbekundungen durch die Staaten ist ein Beweis dafür, dass wir erfolgreich darin sind, die Gewalt der Grenzen herauszufordern.

Solidarity Cities bilden wichtige Knotenpunkte entlang dieser Strecken, denn Gemeinden können es Migrant*innen ermöglichen, in Würde in urbanen Räumen zu leben, und zum Beispiel die Reichweite ihrer Sicherheitskräfte einzuschränken. Ihre dissonanten Stimmen des Willkommens waren wichtig, um zu beweisen, dass Teile der europäischen Bevölkerung, die sicher nicht zu vernachlässigen sind, sich nicht nachsagen lassen wollen, dass sie an der Abschottungspolitik der EU mitschuldig sind und die sich bereit erklären, ein offenes Solidaritätsverhältnis mit den Migrant*innen zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen jedoch auch einräumen, dass das Recht, Zugang zu europäischen Staaten zu gewähren, den Zentralverwaltungen vorbehalten bleibt und nicht den Gemeinden, und dass die Bereitschaft, Migrant*innen willkommen zu heißen es ihnen letzten Endes doch nicht immer ermöglicht hat, auch dauerhaften Schutz zu finden.

Obwohl humanitäre Willkommensrufe wichtig sind, müssen wir Migration und Grenzen auch in einem breiteren politischen und wirtschaftlichen Kontext positionieren – den der Vergangenheit und der Gegenwart des Empire – so dass man sie als Fragen der (Un)gerechtigkeit verstehen kann. Mit den Worten des verstorbenen Edouard Glissant, der sagte, dass wir als Aktivist*innen, die sich der illegalisierten Migration widmen, wir nie vergessen sollten, dass »wenn man sich seinen Weg über Grenzen bahnen muss, um der Not zu entfliehen, dies genauso skandalös ist, wie das, was die Not ausgelöst hat«10 (unsere Übersetzung). Als Folge dieses Framings könnten heute viele weitere Allianzen zwischen den Solidaritätsbewegungen für Migrant*innen und den Bewegungen für globale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit sowie den antirassistischen, antifaschistischen, feministischen und dekolonialen Bewegungen geschmiedet werden. Dank solcher Allianzen sind wir vielleicht besser ausgerüstet, um Migrant*innen entlang ihrer gesamten Route zu unterstützen und die Bedingungen, die sie heute einschränken, schon heute zu verändern.

Damit Solidaritätsbewegungen mit Migrant*innen am Ende den Weg aus dieser eigenen Sackgasse wieder hinaus finden, glauben wir, dass sie sich mit den vier folgenden wesentlichen Fragen befassen müssen. Erstens, was für eine Migrationspolitik wollen wir? Die vorhersehbaren Beschränkungen des Pakts gegen die Migration können eine Gelegenheit sein, unsere eigene alternative Agenda zu schmieden. Zweitens, wie können wir nicht nur die Umsetzung restriktiver Politiken ablehnen, sondern den Politikprozess an sich mitgestalten, um das Feld, auf dem wir kämpfen, zu transformieren? Wenn wir in den kommenden Monaten gegen den Anti-Migrationspakt vorgehen, können wir eventuell neue Ansätze erproben. Drittens, solange es noch Politiken gibt, die die Grundprinzipien der Gleichheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit und unserer gemeinsamen Menschlichkeit leugnen, wie können wir handeln, um derartige Politiken effektiv zu stören? Welche Formen der nichtstaatlichen Evakuierungen gibt es, die Migrant*innen beim Zugang zu Europa und der Überquerung der Binnengrenzen unterstützen könnten? Viertens, wie kann der ganze Kampf um Migration und Grenzen seinen Beitrag dazu leisten, eine gerechtere, freie, faire und nachhaltige Welt für alle zu schaffen?

In den kommenden Monaten, in denen der Pakt der EU gegen die Migration vor dem Europäischen Parlament und dem Rat diskutiert wird, wird es einen harten Kampf für all diejenigen geben, die noch immer an die Möglichkeit eines Europas der Offenheit und der Solidarität glauben. Obwohl wir uns hinsichtlich des politischen Ergebnisses keine Illusionen machen, so ist es doch eine Gelegenheit, die wir ergreifen müssen, nicht nur, um zu behaupten, dass ein anderes Europa und eine andere Welt möglich sind, sondern auch, um diese von unten aufzubauen.

  • Volume: 6
  • Issue: 1
  • Year: 2021


Charles Heller is a Research Fellow at the Graduate Institute in Geneva. He is co-director of the Forensic Oceanography project based at Goldsmiths, University of London, and a co-founder of the WatchTheMed platform. He is currently co-president and the Migreurop network.

Bernd Kasparek is a post-doctoral researcher at the Institute for European Ethnology and the Berlin Institute for empirical integration and migration research, both at Humboldt University. His book Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex was published by transcript in June 2021. He is a member of the network for critical migration and border regime studies and member of the editorial board of movements.