Grenzregime IV (i.E.): Von Moria bis Hanau – Brutalisierung und Widerstand

Valeria Hänsel, Karl Heyer, Matthias Schmidt-Sembdner, Nina Violetta Schwarz

Transnationale und lokale Kämpfe für Bewegungsfreiheit und Exzesse staatlicher und rechtsextremer, oftmals tödlicher Gewalt gegen Migrant*innen entfalten und entzünden sich vor dem Hintergrund eines hochkomplexen und dynamischen (Re-)Konfigurationsprozesses des europäischen Grenzregimes. Dieser Prozess ist gleichermaßen gekennzeichnet von der Verstetigung provisorischer und ad-hoc Maßnahmen zur Migrationsabwehr, der Zunahme informeller und illegaler staatlicher Praktiken in den europäischen Grenzräumen, der Entstehung regionaler Laboratorien des Widerstands und des Regierens von Migration, sowie durch die Blockade EU-europäischer Reformbestrebungen im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik. Die dem Grenzregime inhärente Heterogenität von Regierungstechniken gewinnt an Bedeutung und vielfältige Praktiken des Widerstands entwickeln sich weiter.

Der Entwurf eines kohärenten oder gar singulären Erklärungsmodells zum Zustand des europäischen Grenzregimes, wie es sich nach dem »langem Sommer der Migration 2015« (Kasparek/Speer 2015) konstituiert hat, erscheint weniger denn je ein adäquates noch zielführendes Unterfangen zu sein. Dennoch lässt sich zeigen, wie sich verschiedene Paradigmen und Programmatiken innerhalb des Europäischen Grenzregimes transformieren, wo Kontinuitäten und wo Brüche zutage treten. Die Externalisierung der Migrations- und Grenzkontrolle im Sinne einer ›remote control‹, die Versicherheitlichung der Migrationspolitik, das interne Mobilitätsregime mit dem Dublin-System und der Humanitarismus mit der »Geburt der humanitären Grenze« (Walters 2010) leiteten die restriktiven, oftmals ambivalenten Migrations- und Grenzpolitiken der Europäischen Union, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Verbündeten (Hess/Schmidt-Sembdner 2020). Doch auch diese Paradigmen befinden sich in einem Transformationsprozess, die im neuen Grenzregime-Band reflektiert werden.

Konfliktlinien der Migration und die post-migrantische Gesellschaft der Vielen

Der vierte Band der Grenzregime-Reihe ist inspiriert von den Kämpfen der Migration innerhalb und außerhalb Europas und versucht Regierungsstrategien, die auf die Regulierung von Migrationsbewegungen zielen, im Wechselspiel mit pro-migrantischen Prozessen und Widerständen zu diskutieren. Um die Entwicklungen im EU-Grenzregime nachzuzeichnen, fokussieren wir uns auf lokale Prozesse des Regierens und des Widerstands und deren translokale Verwobenheit. Dabei beginnen wir in der Mitte EUropas: In der Bundesrepublik halten sich rechte Gewalt, Rassismus und Rechtsterrorismus nicht nur stabil als gesellschaftliche Konstante, sie nehmen zu. Hanau zeigt erneut, dass es sich um eine »rechtsextreme […] Gesamtstrategie der letzten Jahre« (Perinelli 2019) handelt, die in engem Verhältnis zu den restriktiven Reaktionen auf den langen Sommer der Migration und die unzureichende Aufklärungsarbeit um den NSU-Komplex stehen. Konfrontiert mit einem national-konservativen Diskurs um Migration wird die Faktizität der postmigrantischen Gesellschaft der Vielen brutal in Frage gestellt. Die Konjunktur rechtsextremer Denk-, Sprech- und Handlungsweisen ist dabei nicht auf Deutschland beschränkt, sondern zeigt sich EU-weit in unterschiedlichen Ausprägungen und Akteurskonstellationen.

Gerade auch an den Staatsrändern, der EU-Außengrenze und in sogenannten Drittstaaten macht der neue Grenzregime-Band die Immobilisierung von Migrant*innen, die Brutalisierung des Grenzregimes, die Politiken des Sterben-Lassens und des aktiven Tötens zum Gegenstand der Betrachtung und Diskussion. Die lokalen und transnationalen Kämpfe für Bewegungsfreiheit und gegen Entrechtung, geführt von einer Vielzahl unterschiedlichster Akteur*innen bilden dabei einen zentralen Ausgangspunkt von Grenzregime IV.

Translokale Kämpfe um Mobilität und die Fragmentierung des Europäischen Grenzregimes

Hotspots, Ankerzentren und Transitzonen, aber auch Solidarity Cities-Bewegungen und Forderungen nach »Sicheren Häfen« stehen emblematisch für die zunehmende räumliche, rechtliche, soziale und politische Fragmentierung des Post-2015 Grenzregimes und heben die Bedeutung des Lokalen für die Rekonfiguration des Grenzregimes hervor. Damit einher geht die Konstitution »regionaler Laboratorien« von Regierung und verschiedene Praktiken und Formen des Widerstands, welche einen zentralen Zugang dieses Bands zur Auseinandersetzung mit den Effekten gouvernementalen Scheiterns und neuen Formen von Regierungstechniken darstellen. Daran schließen sich eine Reihe von Fragen an: Welche Konflikte und Reibungen treten dadurch zutage? Welche Handlungsmacht und Gestaltungsräume eröffnen sich durch lokale Aushandlungen um Grenze und Mobilität? Welche translokalen Verflechtungen bestehen?

Dies gilt nicht nur für das Externalisierungsparadigma, vor dessen Scheitern sich neue Formen der Fixierung am Rande der EU und in Drittstaaten herausbilden. Auch innerhalb der EU lässt sich eine räumliche und rechtliche Fragmentierung des Migrationsregimes beobachten. Beispielhaft sind die jahrelangen Bemühungen der Europäischen Kommission um die Etablierung eines Gemeinsames Europäisches Asylsystem genannt. Im Rahmen der Versuche, eine Harmonisierung des EU-weiten Regierens von Migration sicherzustellen, haben sich aus den dabei eingesetzten ad-hoc Maßnahmen eine Reihe neuartiger brüchiger wie umkämpfter Regierungstechnologien entwickelt. Hierunter fallen u.a. Grenzbereiche mit extraterritorialem Charakter, die sowohl zur Begrenzung der Bewegungsfreiheit als auch zur Schaffung juridischer Sonderzonen dienen (Hänsel/Kasparek 2020).

Die Beiträge des Bandes entfalten sich deshalb entlang der Frage: Wie haben sich die Konfliktlinien der Migration und Regierungstechnologien im Post-2015 EU-Grenzregime verändert, welche Elemente haben sich zurückgezogen oder verstärkt, sind mutiert oder haben sich neu gebildet? Vor diesem Hintergrund zielt der Band darauf ab, die in den letzten Jahren zunehmende räumlich-rechtliche Fragmentierung von Regierungs- und Widerstandspraktiken greifbar zu machen und mit Hinblick auf ihre Rolle im Europäischen Grenz- und Migrationsregime zu analysieren.

Hänsel, Valeria / Heyer, Karl / Schmidt-Sembdner, Matthias / Schwarz, Nina V. (Hg.) (i.E.): Von Moria bis Hanau – Brutalisierung und Widerstand. Grenzregime IV. Berlin/Hamburg: Assoziation A.
ISBN 978-3-86241-482-6 | erscheint 01/2022 | 280 Seiten | Paperback | 18,00 €

Inhalt

Einleitung

Von Moria bis Hanau – Brutalisierung und Widerstand (Valeria Hänsel, Karl Heyer, Matthias Schmidt-Sembdner, Nina Violetta Schwarz)

Die postmigrantische Gesellschaft der Vielen und Kämpfe um Mobilität

Die rassistischen Morde in Hanau – behördliches Versagen, Kontinuitäten rechter Gewalt und der gemeinsame Kampf für Gerechtigkeit (Initiative 19. Februar)

Antirassistische Kämpfe in der Gegenwartsbewältigung (Max Czollek, Çağrı Kahveci)

Fünf Jahre später: EU-Europas neues-altes Grenzregime als Grenze der Demokratie (Sabine Hess)

Non-movements und die Brenner-Route nach 2015 – Die Autonomie der Migration weiterdenken (Matthias Schmidt-Sembdner)

»Er setzte sich auf einen Stuhl und erklärte«: Textuelle Antworten von unten auf Pushbacks an EUropas Rändern (Marijana Hameršak)

Territoriale und rechtliche Fragmentierung: Neue Regierungstechnologien der Migrationskontrolle

Rechtskämpfe um das europäische Flüchtlingsrecht nach dem Sommer 2015 (Matthias Lehnert, Marei Pelzer, Maximilian Pichl)

Moving through the Architecture of Enmity: Infrapolitics and the (Re)configuration of the Aegean Deportation Regime (Valeria Hänsel, Peter Teunissen)

What is in a name? Die europäische Grenzschutzagentur Frontex nach dem Sommer der Migration (Bernd Kasparek, Lena Karamanidou)

Die Technisierung des Grenzregimes: Informationssysteme, Frontex und die digitale Entrechtung der Migration (Christina Rogers)

Externalisierungspolitik als »travelling model«. Lokale Aneignungen und Widerstände beim Ausbau des Asylverfahrens im Niger (Laura Lambert)

Rückkehr und (Re-)Integration: Die Zauberformel der Migrationspolitik. Zur Verknüpfung von Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsmanagement (Ramona Lenz/Nina Violetta Schwarz)

Anker-Zentren im Kontext: Kontinuitäten und Brüche deutsch-europäischer Lagerpolitiken (Simon Sperling)

Der städtische Raum als regionales Laboratorium des Widerstands

Solidarische Städte – eine Alternative zur gescheiterten EU-Asylpolitik? (Stefanie Kron)

Ein Blick aus Palermo: Lokale Aushandlungen um restriktive Migrationspolitiken und die Fragmentierung des Grenzregimes seit 2015 (Karl Heyer)

(Gegen-)hegemoniales Ringen im urbanen Laboratorium. Veränderungen des musealen Kulturbetriebs in Wien durch den langen Sommer der Migration (Farina Asche, Manuel Liebig)

Theoretische Perspektiven auf die Rekonfiguration des Grenzregimes seit 2015

Spatial Convulsions, Racial Concussions: Die Grenzen und Begrenzungen des »Europäischen Problems» (Nicholas De Genova)

Dangerous Men and Suffering Women? Entanglements and Articulations of Gender in the European Border Regime (Sabine Hess, Johanna Elle, Valeria Hänsel)

Autonomie in der Festung. Grundlagen einer materialistischen Migrations- und Grenzregimeanalyse am Beispiel der EU-Migrationspolitik seit 2015 (Fabian Georgi)

Argumente für eine Politik der Bewegungsfreiheit (Charles Heller, Lorenzo Pezzani, Maurice Stierl)

  • Volume: 6
  • Issue: 1
  • Year: 2021