Auswirkungen und Schwierigkeiten der Klassifikation von Mobilität

Wie mobile Menschen Paradoxien im Ordnungssystem produzieren

Anne-Kathrin Will

Abstract Classificatory systems and categories contradict structurally with mobility, because ordering systems define fixed places for people and things. Thus mobility challenges any form of classification and might be the driver for the invention of new categories. Regardless of the structural contradiction even classifications of mobility exist. They are strongly bound to national bureaucracies which themselves are a reaction to the need of national ordering systems. Bureaucracies are important technologies to rule nationally defined territories and populations. This leads to disempowering and sometimes paradoxical situations for mobile persons, because mobility produces systematically bureaucratic paradoxes. These paradoxes can be a helpful tool to analyze the making-up and contingency of classificatory systems and categories, to keep these characteristics transparent and hindering by this the naturalization of categories and classificatory systems. Especially in bureaucracies of nation states the awareness about this contingency has to be maintained, so that bureaucratic decisions do not lose sight of the persons they concern.


Keywords Classification of mobility, mobility categories, mobility between categories, bureaucracies of nation states, migration categories


Das Leben ist unordentlich. Bewegung und Mobilität tragen zu dieser Unordnung bei und stehen dadurch im Widerspruch zu dem menschlichen Bedürfnis, Dinge zu klassifizieren. »To Classify Is Human«, postulieren Bowker und Star (1999: 1). Menschen strukturieren ihren Alltag durch Kategorien. Dabei sind diese zufällig und kontextgebunden (Foucault 1978: 17). Menschen versuchen Dinge zu ordnen und weisen ihnen in entsprechenden Taxonomien feste Plätze zu. Das geschieht im Alltag ebenso wie in Verwaltungen. Für Bürokratien sind die Klassifikationsprozesse konstitutiv. Sie verwalten Dinge und Menschen über ihre Einordnung in bestimmte Kategorien. Die genutzten Kategorien dienen der Komplexitätsreduktion, die Realität besteht jedoch aus Kontinuen (vgl. Zerubavel 1996: 421) und nicht aus voneinander abgrenzbaren Entitäten. Ein mehr oder weniger dies oder jenes könnte somit grundsätzlich besser über relativierende Skalierungen beschrieben werden; als Assemblage und unabgeschlossen (Law 2004) oder als liquide und flüchtig (Bauman 2003).

Im folgenden Text1 versuche ich, die Spannung zwischen Klassifikation und Mobilität produktiv zu nutzen und darzulegen, warum und wie Mobilität als Analyseperspektive angewandt werden kann. Das Labor Migration hat bereits 2014 gefordert, Migration nicht zu beforschen, sondern als Forschungsinstrument zu nutzen (Labor Migration 2014). Dem schließe ich mich an. Dabei greife ich auf Konzepte der Science and Technology Studies sowie der Wissenssoziologie zurück, die sich mit der Etablierung von Klassifikationen und Wissensbeständen beschäftigen. Unter Mobilität verstehe ich im Folgenden jegliche Ortswechsel, ohne dies näher zu spezifizieren. Mobilität ist einfach nur Bewegung, jede weitere Definition nach Distanz, Dauer, Motiven usw. begründet bereits eine Klassifikation.

Kategorien und Klassifikationen sind durch Mobilität herausgefordert (Skeldon 2017), denn mobile Dinge und Menschen entziehen sich den festen Plätzen, die ihnen in Klassifikationen zugewiesen werden. Dadurch entstehen Paradoxien, die nach Bowker und Star (vgl. Bowker/Star 1999) die Analyse von Klassifikationen unterstützen, da sie helfen, Naturalisierungen sichtbar zu machen und zu hinterfragen. Ausgehend von der Frage »Wie wirkt sich Klassifikation von Mobilität aus?« möchte ich im Folgenden 1) einen Überblick über die für mich wichtigen Bezugspunkte in Forschungen über Klassifikationen geben, dann 2) reflektieren, wer Mobilität klassifiziert und 3) zu welchem Zweck. Daran anschließend beschäftige ich mich 4) mit Problemen der Klassifikation von Mobilität, die jedoch nicht dazu führen, dass weniger oder grundlegend anders kategorisiert würde. Im Gegenteil: Weil Klassifikationen bestimmte Funktionen erfüllen, sind sie weitgehend stabil, trotz der Spannung, in der sie zum unordentlichen Alltag stehen.

Um einer Essenzialisierung von Klassifikationskategorien und der Menschen, die kategorisiert werden, entgegenzuwirken, schlagen Bowker und Star (1999) sowie Gunaratnam (2003) vor, die entstehenden 5) Paradoxien sichtbar zu machen. Nur die Paradoxien verdeutlichen die Gemachtheit und Grenzen von Klassifikation sowie Kategorien und helfen dabei, den von Brubaker als »Gruppismus« beschriebenen Effekt der Herstellung sozialer Gruppen durch wissenschaftliche oder verwaltungstechnische Kategorisierungen zu vermeiden (Brubaker 2007).

Ich nutze zur Illustration Beispiele aus unterschiedlichen Forschungen. Dazu gehört meine Dissertation zur Aufnahme bosnischer Geflüchteter in Berlin (Will 2010, 2014), meine Beschäftigung mit dem Migrationshintergrund im Mikrozensus (Will 2016, 2018) sowie mit der vertraulichen Geburt (Busch/Krell/Will 2017). Paradoxien sind Methode. Alle diese Forschungsfelder durchziehen paradoxe Momente aufgrund der Kategorisierung von Mobilität, weil Mobilität permanent Paradoxien erzeugt. Von daher ist es nicht überraschend, dass meine Beispiele aus unterschiedlichen Forschungsfeldern kommen. Im Gegenteil, das bestätigt meiner Meinung nach die Produktivität von Mobilität/Migration als Methode der Gesellschaftsanalyse.

Klassifikationen in Science and Technology Studies und Wissenssoziologie

In den Science and Technology Studies sowie der Wissenssoziologie werden die Durchsetzungsbedingungen von Klassifikationen und Kategorien untersucht, die zunächst »highly contingent, and hence weak« sind (Porter 1996: 42). Diese Wandel- und Veränderbarkeit wird jedoch häufig aus dem Blick verloren, wenn es um Kategorien und Klassifikationssysteme geht. Sind sie erst einmal etabliert, naturalisieren sie, d.h. sie erscheinen als natürlich gegeben, als natürliche Ordnung. Dass ein großer Aufwand nötig ist, bis sich die Beteiligten auf Kategorien oder Klassifikationen verständigen, gerät schnell in Vergessenheit. »Once put in place, though, they can be impressively resilient. […] Having become official, then, they become increasingly real« (ebd.).

Etablierte Klassifikationen werden nur noch wenig modifiziert und ihre gänzliche Abschaffung scheint unmöglich, da sie für alle Beteiligten einen gemeinsamen Wissensbestand bilden und situativ hervorgebracht und reproduziert werden. Auf Letzteres weisen auch Hirschauer und Boll hin, wenn sie über Humandifferenzierungen sprechen. Unter Humandifferenzierungen verstehen sie alle Kategorisierung von Menschen. Sie sind vielfältig und miteinander verwoben und werden aktuell häufig als Intersektionalität in den Blick genommen. Für Hirschauer und Boll sind Humandifferenzierungen gleichermaßen durch »Doing« und »Undoing« gekennzeichnet (vgl. 2017: 10ff.).

Kategorisierungen von Mobilität können meiner Meinung nach auch zu den Humandifferenzierungen gezählt werden, wenn mobile Menschen z.B. als Tourist*innen, Pendelmigrant*innen, Asylsuchende usw. klassifiziert werden. Ich würde ferner das »Doing« auf bürokratischer und auch wissenschaftlicher Seite verorten, wo die Kategorien relevant sind. Das gleichzeitig stattfindende »Undoing« geht vor allem von den betroffenen Menschen selbst aus, die ihre individuellen Geschichten und Beweggründe für Mobilität haben, die nicht mit den kategorialen Etiketten beschrieben werden können. Mobile Menschen fordern Kategorisierungen heraus, weil sie grundsätzlich nicht in starre Kategorien passen und sie aufheben, erweitern oder ignorieren. Neben Mobilitätskategorien gibt es auch Mobilität zwischen den Kategorien. Durch eine solche Mobilität zwischen Kategorien entstehen Irritationen und Paradoxien in bürokratischen Klassifikationen, aber es können auch neue humandifferenzierende Kategorien entstehen, wie z.B. Trans* oder nicht-binäre Geschlechtszugehörigkeiten.

Zur Illustration einer neuen Kategorie, die durch Mobilität entstand, dient mir die kurzzeitig, Ende der 1990er Jahre existierende Kategorie der bosnischen ›Rück-Rückkehrer*innen‹. ›Rückkehrer*innen‹ waren bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, die während des Krieges in Bosnien-Herzegowina zwischen 1992 und 1995 nach Deutschland kamen und nach Kriegsende freiwillig zurückkehrten. Reisten sie erneut nach Deutschland ein, um ihren früheren humanitären Aufenthalt sozusagen fortzusetzen, – denn an der Tatsache, dass sie wegen des Krieges geflohen waren, hatte sich ja nichts geändert, – wurden sie zu ›Rück-Rückkehrer*innen‹. Die Bezeichnung der Berliner Verwaltung sollte verdeutlichen, dass diese Menschen bereits während des Krieges in Deutschland waren, dann nach Bosnien zurückgekehrt und wiedereingereist sind. Diese ›Rück-Rückkehrer*innen‹ standen zwar nicht im Zentrum meiner Forschung über die Aufnahme bosnischer Geflüchteter in den 1990er und 2000er Jahren in Berlin. Dennoch war eine Gesprächspartnerin eine solche ›Rück-Rückkehrerin‹ und erhielt deshalb keinen Aufenthaltstitel aufgrund ihrer Traumatisierung (vgl. Will 2010: 75). Worauf ich in diesem Beitrag aufmerksam machen möchte, ist die Tatsache, dass eine durch finanzielle Anreize forcierte Mobilitätskategorie (›freiwillige Rückkehrer*in‹) eine weitere ungeplante und politisch unerwünschte Mobilitätskategorie (›Rück-Rückkehrer*in‹) nach sich zog.

Trotz dieser beispielhaften Vervielfältigung von Kategorien reduzieren Kategorisierungen Komplexität und ermöglichen dadurch Kommunikation, weil sich die Beteiligten nicht mehr mit den konkreten Inhalten oder, im Fall der Geflüchteten, mit ihren Einzelschicksalen auseinandersetzen müssen. Jede*r weiß, wovon oder worüber sie*er spricht, scheinbar zumindest. Bei genauerem Hinsehen ist dieser Konsens oft nicht gegeben. Für unterschiedliche Akteur*innen liegen die Bedeutungen weit auseinander oder widersprechen sich sogar. So sollten traumatisierte bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge in Berlin bleiben dürfen und nicht abgeschoben werden, darin waren sich Innenverwaltung und Unterstützer*innen in der Theorie einig. Was jedoch unter einer Traumatisierung in der Praxis zu verstehen war, wurde von Behandelnden und Begutachtenden anders gesehen als von der zuständigen Ausländerbehörde (vgl. Will 2010: 188ff.). Die Auseinandersetzung führte dazu, dass traumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge in Berlin mehr als zwei Jahre später ein Aufenthaltsrecht erhielten, obwohl seit dem Herbst 2000 eine entsprechende Regelung existierte (vgl. Will 2014: S. 112f.).

Griesemer und Starr sprechen von »boundary objects«, wenn sie Konzepte oder Kategorien meinen, die ausreichend flexibel, aber dennoch konkret sind, sodass unterschiedliche soziale Akteur*innengruppen mithilfe dieser Konzepte/Kategorien in Austausch treten können (Star/Griesemer 1999). Im Fall meiner damaligen Forschung war es die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung«, die Traumatisierung in einen psychologisch-psychiatrischen Fachdiskurs übersetzte und half, ein Bleiberecht für traumatisierte bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge zu erstreiten (Will 2010).

Nach diesem ersten Überblick über wichtige theoretische Bezugspunkte möchte ich mich im Folgenden dem Nationalstaat als wichtigem Akteur widmen, der bürokratische Klassifikationen mobiler Menschen und menschlicher Mobilität hervorbringt.

Nationalstaatliche Klassifikation menschlicher Mobilität und mobiler Menschen

Nach dem Ende des 30-jährigen Krieges entwickelt der entstehende moderne Staat ein Interesse an seiner Bevölkerung und nicht allein mehr, wie bis dahin, an konkreten Einheiten wie Haushaltungen oder spezifischen Subjekten wie Wehrpflichtigen (vgl. Pfister 1994: 6ff.). So beginnen Staaten, die Bevölkerungen auf ihren Territorien mehr oder weniger regelmäßig zu zählen, bzw. von Demograf*innen zählen zu lassen. Veränderungen in den Bestandszahlen der Bevölkerung werden als Bewegung beschrieben und von Demograf*innen nach Natürlichkeit unterschieden. Geburten und Sterbefälle sind ›natürliche Bevölkerungsbewegungen‹. Hingegen sind Einwanderung und Auswanderung zwar auch Bevölkerungsbewegungen, aber sie erhalten nicht den Zusatz ›natürlich‹. Mobilität ist im Umkehrschluss unnatürlich. Natürlich sind nur Geburt und Tod. Bereits diese Art der Klassifikation zeigt, dass Mobilität oder Migration als ›unnatürliche‹ Ausnahme konzeptualisiert ist, auch wenn die Ausnahme die Regel ist. Wanderungszahlen werden derzeit ebenso jährlich veröffentlicht wie Zahlen zu Geburten und Verstorbenen.

Häufig klassifizieren Nationalstaaten2 Mobilität. In ihren Statistiken finden sich neben Kategorien wie Geschlecht und Alter auch die Staatsangehörigkeit der auf dem nationalen Territorium Anwesenden. In Zensusfragebögen3 finden sich entsprechende Antwortkategorien, in die Befragte entweder durch Zensusbeauftragte eingeordnet werden oder sich selbst einordnen können.4 Typische Zensusfragen, bzw. -aufforderungen sind: Geben Sie bitte Ihr Geschlecht an; welche ausländischen Staatsangehörigkeiten besitzen Sie, sind Sie auf dem heutigen Staatsgebiet von Deutschland geboren? Für alle Fragen sind Antwortkategorien vorgegeben (männlich/weiblich), (albanisch/andorranisch/belarussisch/etc.), (ja/nein), die sich überwiegend ausschließen, manchmal aber auch Mehrfachantworten zulassen. So kann eine erste und zweite ausländische Staatsangehörigkeit eingetragen werden (vgl. Mikrozensusfragebogen 2019). Die Daten werden gesammelt und von statistischen Ämtern zusammengefasst und gezählt.

Statistische Ämter sind bezogen auf Kategorien neuralgische Punkte, denn hier werden Phänomene durch Kategorien zählbar gemacht. Supik bezeichnet die notwendige Entwicklung von Taxonomien im Vorfeld von Volkszählungen als »Ordnen« (vgl. Supik 2014: 81ff.). Demograf*innen generieren auf diese Weise durch ›Ordnen‹ und ›Zählen‹ Wissen über die Bevölkerung, ihre Größe, ihre Lebensformen, ihren Wohlstand, ihre Gesundheit und ihre Bewegungen, also Mobilität.

Bereits die Beispiele typischer Zensuskategorien verdeutlichen, dass es sich nur scheinbar um stabile Kategorien handelt. So wurde Geschlecht binär erhoben, obwohl ein weiteres Geschlecht als männlich/weiblich mittlerweile in deutsche Personenstandsdokumente eingetragen werden kann. Nichtsdestotrotz erfragten bis 20195 sowohl Zensus als auch Mikrozensus Geschlecht nur in zwei Ausprägungen und werten entsprechend u.a. die Daten nach ›Männern‹ und ›Frauen‹ getrennt aus. Auch das Geburtsland wird als unveränderliches Datum präsentiert, selbst wenn sich politische Einheiten ändern können. So wurden aus Sowjetbürger*innen und Jugoslaw*innen Staatsangehörige diverser Nationalstaaten. Dennoch werden sie weiterhin »nachrichtlich« unter »Gebiet der ehemaligen Sowjetunion« und »Gebiet des ehemaligen Jugoslawien« zusammengefasst (vgl. Statistisches Bundesamt 2018: 65). Ebenso ist Staatsangehörigkeit keine feste Eigenschaft einer Person, sie kann sich ändern durch politische Entwicklungen wie Souveränität oder Zusammenschlüsse von Staaten, aber auch durch Einbürgerungen. Staatsangehörigkeiten können sich verdoppeln oder vervielfachen, was aus staatlicher Sicht beunruhigend ist, da Zuständigkeits- und Loyalitätskonflikte antizipiert werden. Entsprechend enthielten alle Bundestagswahlprogramme des Jahres 2017 der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien das Thema doppelte Staatsangehörigkeit. Mehrfachzugehörigkeiten erzeugen Spannungen und Ambivalenz.

Mit dieser Ausführung zu nationalstaatlicher Klassifikation in Zensuserhebungen möchte ich verdeutlichen, dass Mobilität (auch zwischen Merkmalsausprägungen bei Geschlechtsumwandlungen z.B.) nationale Klassifikationssysteme herausfordert. Kertzer und Arel weisen darauf hin, dass Zensuskategorien einen Rückkopplungseffekt ins Innere der Nation haben, da so die Nation durch eine Kategorie homogenisiert wird und die Existenz von Gemeinsamkeit bekräftigt (Kertzer/Arel 2002: 2). Durch Mobilität wird diese homogenisierende Wirkung herausgefordert. So waren die zugewanderten Deutschen, also (Spät-)Aussiedler*innen und Eingebürgerte, der Auslöser, um »Deutsche ohne Migrationshintergrund« von »Personen mit Migrationshintergrund« in der amtlichen Statistik zu unterscheiden (vgl. Will 2016: 11f.). Diese mobilen Deutschen sollten weiterhin sichtbar sein und nicht in einer homogenen Kategorie ›deutsch‹ verschwinden. Gleichwohl wurden deutsche Flüchtlinge und Vertriebene, die vor 1950 einwanderten, zu den ›Deutschen ohne Migrationshintergrund‹ gezählt. Ihre Migrationserfahrung wurde bei der Ordnung nach Migrationshintergrund ignoriert. Die Migrationserfahrung der ab 1950 zugewanderten Deutschen sowie aller Ausländer*innen hingegen wird sogar auf die Nachkommen in zweiter und dritter Generation vererbt.

Mobilität ist damit konstitutiv für die Erzählung über das Deutschsein, im Rahmen von Zensuskategorien (vgl. Yanow 2000: 22). Aber durch die Mobilität entstehen Paradoxien: Deutsche, die bis 1950 in das Gebiet der heutigen BRD gelangten, haben keinen Migrationshintergrund, ihre Verwandten, die ab 1950 einwanderten, hingegen schon. Doch was unterscheidet 1949 eingewanderte Deutsche von Deutschen, die 1950 eingewandert sind? Hier treten bei der Betrachtung von Mobilität/Migration die Gemachtheit und Paradoxien naturalisierter Klassifikationssysteme deutlich hervor.

Doch wenn es so schwierig ist, wieso wird Mobilität überhaupt kategorisiert? Um dies zu verstehen, müssen die Notwendigkeiten nationalstaatlicher Klassifikationen betrachtet werden. Über den Bevölkerungsbestand hinaus interessieren in Nationalstaaten die Einwandernden. So werden neben Bevölkerungskategorien auch Mobilitätskategorien erfasst. Einwanderung erfolgt häufig aufgrund von Wohlstandsgefällen in Kombination mit einem Mangel an Arbeitskräften. So sind Nationalstaaten aus wirtschaftlichen Gründen angehalten, dafür zu sorgen, dass Menschen aus dem Ausland kommen, wenn die Konjunktur nach Arbeitskräften verlangt, und sie in Krisenzeiten davon abzuhalten. Gleichzeitig gefährdet aber Einwanderung das nationalstaatliche Projekt, bzw. die Projektion einer homogenen Nation. Diese strukturelle Spannung durchzieht auch Einwanderungsdiskurse und führt zur Einteilung einerseits in erwünschte, nützliche Mobilität und anderseits abzuwehrende, unnütze oder ausnutzende Einwanderung.

Nationalstaatlich tolerierte Mobilität wird häufig mit einem Nutzen verbunden und mobile Menschen werden nach ihrer Nützlichkeit für die Nation klassifiziert. Ihnen werden verschiedene Zugangs- und Bleiberechte zugestanden. Dies konzeptualisieren Mezzadra und Neilson als »differentielle Inklusion« (Mezzadra/Neilson 2011). Mobile Akademiker*innen und konsumierende Tourist*innen erhalten andere Zutrittsrechte als nachziehende Familienangehörige. Letztere müssen vor ihrem Zuzug Deutschkenntnisse nachweisen und ihre Familienangehörigen, dass sie über ausreichend Einkommen und Wohnraum verfügen. Die einen sollen mobil sein, die anderen möglichst nicht. Um diese gewünschten menschlichen Verhaltensweisen zu erreichen, gibt es eine Vielzahl von Technologien, um Mobilität anzuregen oder zu unterbinden. Dazu werden mobile Menschen klassifiziert und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet (ebd.).

Klassifikation als Technologie zur Kontrolle von Mobilität

Um das Kommen von erwünschten Arbeitskräften oder Tourist*innen zu ermöglichen, werden Hindernisse wie Grenzkontrollen abgebaut, um die Einreise einfach zu machen, und gemeinsame Mobilitätsräume wie die Europäische Union oder der Schengen-Raum eingerichtet. Es gibt private Agenturen, die z.B. im Gesundheitssektor Fachpersonal im außereuropäischen Ausland suchen, aber auch die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) als Teil der Bundesagentur für Arbeit unterstützt Arbeitsmobilität.6 So wirbt die ZAV in einem Bundesprogramm mit dem Namen »Mobi-Pro-EU« in EU-Staaten Jugendliche und junge Erwachsene für eine Ausbildung in Deutschland an. Es werden Deutschkurs-, Unterbringungs-, Begleitungs- und Reisekosten übernommen, die Website verspricht www.thejobofmylife.de.7

Derartige positive Anreize für Mobilität bilden die Ausnahme. Der Zutritt zum deutschen Territorium wird über Verbote geregelt, Voraussetzungen für Ausnahmen definiert und ihre Erfüllung kontrolliert. Es sind (biometrische) Identitätsnachweise, Visa, Verpflichtungserklärungen, Arbeitsverträge, Guthaben, Einkommen, Deutschkenntnisse, Familienbeziehungen usw., die genutzt werden, um den Zuzug auf das jeweilige Territorium zu regulieren. Allerdings ist das aktuell nur für Drittstaatsangehörige relevant, EU-Angehörige genießen in Deutschland exklusive Zutrittsrechte. Die EU ist ein Mobilitätsraum für Kapital, Waren, Dienstleistungen und Menschen. Nationalstaatliche Grenzen innerhalb der EU sind damit nicht hermetisch, sondern permeabel. Mobilität wird nach Staatsangehörigkeiten und Nützlichkeit gefiltert (Mezzadra/Neilson 2011).

Die Voraussetzung für eine derartige permeable, selektiv durchlässige Grenze ist immer eine Klassifikation, eine Zuordnung der Antragstellenden zur Kategorie der erwünschten oder zumindest tolerierten Einwandernden oder zur Kategorie der Abzuweisenden. Die Kriterien werden in Auslandsvertretungen, Arbeitsämtern, Ausländerbehörden, den Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge geprüft und die Antragstellenden entsprechend klassifiziert. Es bedarf einer bürokratischen Prozedur, um ein Zutrittsrecht zu erwerben. An der Grenze werden dann nur noch die Zutrittszertifikate vorgezeigt, die eine Einreise ermöglichen. Migrationssteuerung findet in Amtsstuben entfernt von den nationalstaatlichen Grenzen statt.

Im 2015er »Sommer der Migration« wurde dieses System kurz durch die Geflüchteten außer Kraft gesetzt. Aber nicht lange. Bei den 2015 Eingereisten wurde nachgelagert auf dem nationalen Territorium in Asylverfahren geprüft, ob sie bleiben dürfen oder das Territorium verlassen sollen. Diese Prüfung erfolgt nun wieder im Ausland, nachdem der spontan entstandene Landweg ›Balkanroute‹ abgeschnitten wurde. Und Zugang wird nur sehr wenigen Menschen mit humanitärem Schutzbedarf über Flüchtlingskontingente gewährt. Den meisten stehen legal nur die Wege der Fach- und Arbeitskräftegewinnung oder des Familiennachzugs offen. Damit wird humanitäre Einwanderung wie auch zuvor außerhalb europäischer Grenzen gesteuert unter Zuhilfenahme von Bürokratien (Hess/Kasparek 2010; Heimeshoff et al. 2014). Und damit leite ich über zu meinem vierten Punkt, den problematischen Implikationen der Klassifikation von Mobilität.

Probleme der Klassifikation von Mobilität

Verwaltungsapparate sind das Rückgrat von Nationalstaaten und Staatenbünden, sie sind die Ausführungsorgane der gerade geschilderten Klassifikationstechnologien. Ich möchte hier eingangs an zwei Visionen von Bürokratie erinnern: Max Webers Beschreibung einer perfekten Bürokratie, die alles ordnet und für Nachvollziehbarkeit sorgt (Weber 1972[1921/22]) und Franz Kafkas bedrückende Verlorenheit des Individuums in den Mahlwerken sinnentleerter Prozeduren (Kafka 1987[1925]). Beide Extreme sind meiner Meinung nach stets präsent. Für die Bürokrat*innen entstehen durch ihre Klassifikationen Ordnungen, die die chaotische Realität – die Unordnung und damit einhergehende Unsicherheit (Bauman 2003) – beherrschen helfen. Für die betroffenen Menschen sind die Klassifikationen eine Zumutung, ein Unding. Sie verwehren ihnen Zugänge, erschweren, bedrohen oder kosten im Extremfall ihr Leben.

Dennoch: »Zu klassifizieren ist menschlich« (vgl. Bowker/Star 1999: 1). Neben den Alltagsklassifikationen, die ggf. in Interaktionen gebrochen, modifiziert und hinterfragt werden können, sind Klassifikation konstitutiv für Bürokratien. Während Menschen Zuordnungen in der Interaktion anpassen können, sind Zuordnungen, die Bürokratien treffen, wirkmächtig und träge. Eine einmal getroffene Einordnung hat oftmals für die Zukunft Bestand und Auswirkungen auf den klassifizierten Menschen. Menschliche Mobilität wirft Probleme auf, weil den mobilen Individuen ein Platz in einer statischen, bürokratischen Ordnung zugewiesen wird. Gerade ein solcher Platz ist durch die Bewegung, das Innehalten mehrerer Plätze oder das Verlassen von Plätzen herausgefordert. Das papierne »alter ego« entfaltet ein Eigenleben, das sich immer wieder auf das existierende »ego« auswirken kann (Noiriel 2016[1994]).

Wie weit Regelungen gehen und durch Mobilität herausgefordert sind, zeigt das folgende Beispiel: In einem Erhebungsbogen für außerklinische Geburten, den Hebammen ausfüllen müssen, soll der Geburtsort des Kindes eingetragen werden. Diese banal scheinende Aufgabe wirft aber in der Praxis Probleme auf, wenn Mobilität im Spiel ist. So ist z.B. unklar, welches Standesamt zuständig ist, wenn die Entbindung einer Frau im Notarztwagen an Ort A beginnt und der Geburtsprozess in einer Klinik an Ort B abgeschlossen wird, für die ein anderes Standesamt zuständig ist als an Ort A. Deshalb gibt es zum Erhebungsbogen eine längere Klarstellung einer hessischen Behörde, die damit das korrekte Ausfüllen des Fragebogens unterstützt (vgl. QUAG e.V. 2016: 11). Gleichzeitig wird von Hebammen erwartet, einen Geburtsprozess in unterschiedliche Phasen zu zerlegen, um den ›richtigen‹ Geburtsort des Kindes angeben zu können, um darüber das zuständige Standesamt zu ermitteln. Mobilität ist eine Herausforderung für Klassifikationen. Sie macht – als Teil lebensweltlicher Realität – das Abgrenzen von Kategorien schwierig. Punktuell führt sie die Absurdität von Differenzierungen vor, wenn sie wie in diesem Beispiel die Distanz zwischen unordentlicher Realität und dokumentierender, starrer Klassifikation erfahrbar macht. Es könnte auch der Hebamme überlassen bleiben, wo sie das Kind anmeldet, ggf. dort, wo den Eltern oder ihr kürzere Wege (Mobilität!) entstehen. Doch das grenzt an Beliebigkeit.

Die Grundprinzipien von (Klassifikations-)Kategorien sind Zuordnungen. Bei zunehmender Mobilität werden die Zuordnungen schwieriger (welches Standesamt ist zuständig?) oder die Kategorien vervielfachen sich (dieses und das andere Standesamt sind involviert oder es muss zumindest geklärt werden, welches doch und welches nicht). Mobilität produziert neben Klärungsbedarf auch neue Kategorien in Verwaltung und Migrationsforschung, um neu definierte »Gruppen« zu beschreiben. Exemplarisch für eine solche neue Kategorie, die durch erneute Mobilität entstand, habe ich die sogenannten ›Rück-Rückkehrer*innen‹ bereits am Anfang erwähnt (vgl. Schomaker 1999; Rossig 2014).

Dieser Begriff wurde für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge genutzt, die nach dem Kriegsende 1995 freiwillig nach Bosnien zurückkehrten und dann erneut nach Deutschland einreisten. Bereits die Definition bosnischer Kriegsflüchtlinge enthielt paradoxe Punkte. Ein Mensch mit bosnischem Pass, der in den 1990er Jahren nach Deutschland kam, wurde durch die Bürokratie vielfältig eingeordnet. Meldete sie*er sich während des Krieges in Bosnien von April 1992 bis Dezember 1995 in Deutschland an, wurde ihr*ihm der Status eines bosnischen Kriegsflüchtlings zuteil. Für Menschen, die schon zuvor in Deutschland lebten, war dies eine Möglichkeit, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Menschen, die es nicht bis zum Kriegsende nach Deutschland schafften, erhielten den Status »Bürgerkriegsflüchtling« nicht mehr. So konnte jemand Kriegsflüchtling sein, ohne einen Tag im Kriegsgebiet verlebt haben zu müssen. Jemand, der fast den gesamten Krieg in Bosnien erlebt hatte und erst nach offiziellem Kriegsende in Deutschland ankam, war aus Sicht der Bürokratie kein bosnischer Bürgerkriegsflüchtling, sondern Asylbewerber*in aus einem Land, in dem der Bürgerkrieg beendet war. Menschliche Erfahrung und bürokratische Kategorien konnten somit völlig voneinander abweichen.

Ab 1996 wurde die freiwillige Rückkehr erwartet, beworben, finanziell unterstützt und schließlich unter Druck durchgesetzt. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge wurden so zu ›freiwilligen Rückkehrer*innen‹. Als sonderlich ›freiwillig‹ beschrieben meine Gesprächspartner*innen die Rückkehr jedoch nicht. Sie nutzten nie das bürokratisch angefügte Adjektiv, sondern sprachen nur von »Rückkehr«, zu der sie sich gedrängt sahen (vgl. Will 2010: 64ff.). Einige von ihnen reisten nach der Rückkehr wieder nach Deutschland ein. Dieses Modell von Rückkehrmobilität nach Deutschland war jedoch von der Verwaltung nicht vorgesehen. Mobilität war eine Einbahnstraße. Fanden die Betroffenen dennoch einen Weg zur Wiedereinreise, wurden sie zu ›Rück-Rückkehrer*innen‹. Im Gegensatz waren diejenigen, die erst nach dem Kriegsende in Deutschland ankamen, einfach nur Asylbewerber*innen. Dabei blieb auch den ›Rück-Rückkehrer*innen‹ nur ein aussichtsloser Antrag auf Asyl.

Das Beispiel illustriert, wie wenig Bürokratie und Realität übereinstimmen müssen und sich sogar widersprechen können. Die Betroffenen verstanden das Verwaltungshandeln nicht. In den Interviews, die ich 2005 bis 2007 führte, waren die bürokratischen Absurditäten ein ständiges Thema (vgl. Will 2010: 76f.). ›Rück-Rückkehrer*innen‹ waren ein Teil dessen, was ihnen unverständlich blieb, ebenso, dass später Eingereiste, die den gesamten Krieg überlebt hatten und aufgrund des Visazwangs nicht nach Deutschland einreisen konnten, keinerlei Schutz erhielten. Eine Gesprächspartnerin, die eine ›Rück-Rückkehrerin‹ war, erhielt keinen Aufenthalt aufgrund ihrer Traumatisierung, die sie als Überlebende frauenspezifischer organisierter Gewalt ansonsten erhalten hätte. Für alle Gesprächspartner*innen erschloss sich die Logik eines ausschließlichen Krankheitsasyls, das ihnen gewährt wurde, nicht (vgl. Will 2010: 106).

Menschen werden kategorisiert, auch wenn die Zuordnungen beliebig sind oder situationsabhängig. Ebenso wird die Mobilität von Menschen kategorisiert, nach ihren Motiven unterschieden oder nach der Bewegungsart wie beispielsweise pendelnd oder zirkulär. Gleichzeitig ist gerade die Einordnung von mobilen Menschen von vielen Widersprüchlichkeiten durchzogen, weil Kategorien starr sind, starr sein müssen, um im Verwaltungshandeln anwendbar zu sein. Es gibt keine Kategorie ›tendenziell eher Kriegsflüchtling‹. Problematisch ist aber die Essenzialisierung, die Übertragung der Kategorie auf das Individuum und seine Gebundenheit an diese Kategorie, die Rechte und Zwänge impliziert. Eine Kategorie, bzw. einen kategorialen Status wird ein Mensch nicht so schnell los, ist sie*er erst einmal eingeordnet. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, in dem ich mögliche Widerständigkeiten skizziere.

Paradoxien sichtbar machen – De-Essenzialisieren

Einer Essenzialisierung kann nur vorgebeugt werden, wenn die Verwerfungen und Paradoxien deutlich gemacht werden, die Klassifikationen hervorbringen. Die Unordnung muss sichtbar bleiben. Gunaratnam spricht von einem »mit und gegen Kategorien« (Gunaratnam 2003: 28ff.). Zur De-Essenzialisierung schlägt sie vor, die Verschiedenheit der Menschen sichtbar zu machen, die in einer Kategorie, bzw. kategorialen ›Gruppe‹ zusammengefasst werden. Derart soll der Reduktionismus von Kategorien zutage treten, aufgebrochen werden und vermieden. Kategorien werden damit nicht abgeschafft, sie dienen der Komplexitätsreduktion und Bewältigung des Alltags. Aber ihre Allmacht kann relativiert werden. Den Menschen und ihren Erfahrungen kann und muss so mehr Gewicht gegeben werden.

Bowker und Star sprechen in ihrem Buch über Klassifikationssysteme von »Monstern«, die in jedem Klassifikationssystem entstehen (vgl. Bowker/Star 1999: 302f.). Das sind Menschen, deren Biografien, Herkunft, Krankheitssymptome, Arbeitsweise usw. von der in Klassifikationssystemen zum Ausdruck gebrachten Norm abweichen. Diese »Monster«, die durch die Klassifikation hervorgebrachten Paradoxien, müssen thematisiert werden. Sie verdeutlichen die ›Gemachtheit‹ und Beliebigkeit von Klassifikationssystemen. Sie sind gleichzeitig ein Hinweis darauf, dass Klassifikationen modifiziert werden können. Nicht die Menschen müssen sich den Kategorien anpassen, sondern Abweichungen von Kategorien sind legitim und die Norm. Verwaltungen und Wissenschaftler*innen müssen lernen, mit Unordnung zu leben, die häufig durch Mobilität entsteht.

Sie müssen auch lernen, Kategorien als Idealtypen anzusehen und nicht als Zusammenfassungen empirisch ähnlicher Einheiten. Yanow macht auf die beiden Traditionen der Kategorienlehre aufmerksam (vgl. Yanow 2003: 12). Platons transzendentes Idealbild und Sokrates‘ primäre Substanz von Dingen sind auch heutzutage zwei Prinzipien, die Kategorisierungen zugrunde liegen, die jedoch nicht streng auseinandergehalten werden. Viele Kategorien sind nicht (sokratisch) aus der Empirie abgeleitet, sondern sind im Sinne Platons Prototypen, in die Dinge und Menschen sortiert werden. Häufig beinhalten sie Idealvorstellungen, die es im realen Leben nicht gibt. Insbesondere bürokratische Kategorien entbehren jeglicher Ausgangsempirie. Vielmehr schaffen sie Realitäten, die zuvor nicht vorhanden waren.

Wenn Verwaltungen lernen, die Prototypik ihrer Kategorien zu sehen, hätten sie immer die Möglichkeit zu prüfen, ob die Zuordnung (noch) stimmt, die Realität dem Ideal ähnelt. Allerdings müssen Menschen das Maß der Dinge sein. Der Entscheidungsfreiraum darf nicht genutzt werden, um beliebige Entscheidungen zu treffen und die Realität bürokratischen Kategorien anzupassen. Vielmehr sind für die betroffenen Menschen richtigere oder bessere Entscheidungen zu treffen, als dies in der Vergangenheit zugewiesene Kategorien vorschreiben. Das ist aufwändig, etwas unordentlich und vielleicht auch kompliziert, ja. Aber wieso sollte Bürokratien, die lebensgefährliche Auswirkungen haben können, nicht zugemutet werden, was auch von Einzelpersonen erwartet wird: Standpunkte und Schubladen insbesondere bezüglich ihrer*seiner Mitmenschen ständig zu hinterfragen.

Fazit

Ich habe die Wirkweisen von Klassifikationssystemen dargelegt und ihre enge Verbindung mit nationalstaatlicher Bürokratie skizziert. Die verwaltende und wissenschaftliche Kategorisierung von Menschen ist an sich bereits problematisch, weil »Gruppen« von Menschen konstruiert werden, die keinerlei sozialen Zusammenhalt aufweisen und somit keine Gruppen im sozialen Sinne sind (Brubaker 2007). Erschwerend kommt im Fall von Mobilität hinzu, dass mobile Menschen mehreren Kategorien zugeordnet werden müssten, in keine statischen Kategorien passen oder auch ihre Eigenschaften ändern, weil sie von einer oder mehreren Kategorien in andere wechseln. Vor allem Letzteres fordert Verwaltungen und Wissenschaftler*innen heraus, die danach streben, menschliche Eigenschaften festzuhalten, sowohl auf dem Papier als auch in Datensätzen. Dabei besteht immer die Gefahr der Essenzialisierung.

Doch Mobilitätskategorien sind nicht nur kontingent, sondern auch strukturell paradox. Deshalb sind sie gut geeignet, um naturalisierte Strukturen zu problematisieren und so zu einer kritischen Perspektive in Gesellschaftsbeschreibungen beizutragen. Gänzlich ungeeignet sind sie jedoch, um soziale Zusammenhänge zu beschreiben, weil sie keine realen sozialen Einheiten erfassen. Menschen, die sich in einer derartigen kategorialen »Gruppe« zusammenfinden, haben wenig miteinander gemein, außer ähnlichen Bürokratieerfahrungen ausgesetzt zu sein. Mobilität/Migration eignet sich zur Gesellschaftsanalyse, aber nicht als Analysekategorie für ›Gruppen‹. Diese Erkenntnis ist bisher noch zu vereinzelt diskutiert. Sie sollte aber dringend zum Standardwissen gehören. Sowohl vom Aufgeben von Mobilität als Ausgangspunkt für Gruppenkategorien als auch von der Nutzung von Mobilität als Analyseperspektive, die die strukturellen Verfasstheiten, tacit knowledge und Gemeinplätze (Zerubavel 2018) ausleuchtet, sind produktive Impulse zu erwarten.

Literatur

Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a.M.

Barth, Fredrik (1998): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Long Grove.

Bauman, Zygmunt (2003): Flüchtige Moderne. Frankfurt a. M.

Bowker, Geoffrey C. / Star, Susan Leigh (1999): Sorting Things Out. Classification and its Consequences. Cambridge.

Brubaker, Rogers (2007): Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg.

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  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Anne-Kathrin Will hat 2009 in Europäischer Ethnologie berufsbegleitend zur Psychologisierung bosnischer Kriegsflüchtlinge promoviert. Sie war an der Technischen Universität Dresden, der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, der Humboldt-Universität Berlin sowie in Einrichtungen der wissenschaftlichen Politikberatung angestellt. Ihre aktuellen Forschungsinteressen sind: Operationalisierung des Migrationshintergrundes, Zugehörigkeitsdiskurse, humanitärer Aufenthalt und vertrauliche Geburt.