Kritik des methodischen Residentialismus

Die ländliche Gesellschaft und die Produktion von Sesshaftigkeit im 19. Jahrhundert

Katrin Lehnert

Abstract Today’s powerful reality of national borders and their link to national migration control is a relatively new phenomenon that emerged in the course of western modernisation. The foundation of European national states in the nineteenth century was a culminating point of this development and accompanied the creation of mobility and migration control that affected all parts of society. Commonly, rural society is in retrospective considered to consist of homogenous, stable communities and identities, in opposition to a highly mobile notion of (post-)modernity. However, this essay shows a mobile rural society whose members have unsteady and discontinuous daily lives and biographies. National authorities struggled to categorize and control their mobilities, e.g. day labouring and travelling trade. In a similar way, today’s migration and mobility studies fail to understand the complexity of mobile societies because they are based on the idea of residency as normality. The persisting effort to establish the idea of residency and to erase mobile history ought to be included in the European historiography to provide a more realistic picture of historical and current European societies.


Keywords rural mobility, western modernisation, nation building, mobility and migration control, national historiography


Wie die Nationalismusforschung gezeigt hat, war ein wesentliches Element der Entstehung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, dass soziale Rechte an die Voraussetzung der Staatsbürgerschaft – das heißt an eine bürgerliche und sesshafte Lebensweise – gekoppelt wurden (vgl. Anderson 1988; Hobsbawm 1991). Diese Tatsache wird nicht selten missverstanden, indem rückblickend eine sesshafte Lebensweise für alle gesellschaftlichen Schichten, insbesondere für die Landbevölkerung, angenommen wird: Das Bild des ›Bauern auf der Scholle‹, das eine immobile vorindustrielle Gesellschaft mit stabilen Gemeinschaften und eindeutigen Identitäten heraufbeschwört, dient in aktuellen Gesellschaftstheorien gerne als nostalgische Kontrastfolie für die Postulierung einer nie dagewesenen Mobilität.

Dieser Beitrag weist empirisch nach, dass dieses Bild falsch ist: Auch und gerade in der ländlichen Peripherie, an den Rändern der entstehenden Nationalstaaten, war die gesellschaftliche Transformation hin zum Residentialismus ein mühsamer, widersprüchlicher und lange andauernder Prozess. Mobile Alltagspraktiken der ländlichen Bevölkerung widersetzten sich bewusst oder unbewusst staatlichen Kategorisierungs- und Kontrollmechanismen, während ein immer ausdifferenzierteres System der Legitimierung bzw. Illegitimierung bestimmter Formen von Mobilität und Sesshaftigkeit entstand. Der Beitrag untersucht, wie die Durchsetzung des Nationalstaats (doing nation) im Alltag der Dorfbevölkerung vor Ort wirkte und welche Konflikte damit einhergingen. Untersuchungsgebiet ist das sächsisch-böhmische Grenzgebiet des 19. Jahrhunderts.

Vor der empirischen Analyse wird auf die theoretischen Voraussetzungen der Vorstellungen von Mobilität, Migration und Grenze eingegangen: welche Vorannahmen finden sich in der Migrations- und Mobilitätsforschung und welche Probleme bringen sie mit sich? Welche Herangehensweise eignet sich für die Untersuchung historischer Lebensrealitäten?

Mit Mobilität aus der Sackgasse der Migrationsforschung?

Migration wird meist mit der dauerhaften Veränderung des Wohnsitzes über Staats- und Verwaltungsgrenzen hinweg assoziiert, wodurch zwei Momente ausschlaggebend sind – die Veränderung des Wohnsitzes und eine Grenzüberschreitung. Eine prominente Formulierung nach Ingrid Oswald lautet, Migration sei ein »Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunktes, also einiger bis aller relevanten Lebensbereiche, an einen anderen Ort, der mit der Erfahrung sozialer, politischer und/oder kultureller Grenzziehung einhergeht« (Oswald 2007: 13). Diese Definition macht deutlich, dass der Migrationsbegriff bei genauerem Hinsehen schnell unscharf wird. Insbesondere temporäre, zirkuläre und kleinräumige Mobilitäten zeigen seine Unzulänglichkeiten. Denn was von der transnationalen Migrationsforschung allgemein festgestellt wird, gilt auch und gerade für Wanderungen von kürzerer Dauer und über geringere Distanzen: Sie haben selten den Charakter einmaliger Ortsveränderungen, sondern bestehen aus sich wiederholenden Pendel- und Saisonmigrationen, mehrörtigen Arbeits-, Freizeit-, Familien- und Handelsbeziehungen oder aus kreuz und quer verlaufenden Wanderungen von einer Arbeitsstätte zur nächsten, vom Land in die Stadt und wieder zurück. Dies widerspricht der Definition eines einmaligen Wohnortwechsels.

Mindestens ebenso problematisch ist das Kriterium der Grenzüberschreitung. Im herkömmlichen Sinn impliziert es einen engen Begriff von Grenze, der die staatliche, nationale und scheinbar unverrückbare und unangreifbare Außengrenze meint. Dabei zeigen sowohl historische Forschungen als auch tagesaktuelle Ereignisse und Praxen, dass sowohl der Verlauf als auch die Durchlässigkeit von Grenzen stets verhandelbar bleiben und für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Konsequenzen haben. Ungeachtet dessen ist unbestreitbar, dass das Schicksal von Menschen und die An- oder Aberkennung staatsbürgerlicher Rechte eng verknüpft sind mit der Überschreitung staatlicher Grenzen.

Der sogenannte mobility turn brachte eine Wende in der Erforschung vielfältiger, schwer kategorisierbarer Wanderungen: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mobilität war bis in die 1990er-Jahre fächerübergreifend kaum vorhanden, seitdem lässt sich ein ununterbrochener Boom beobachten. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und Spätmoderne behauptet die Mobilitätsforschung, einem nie dagewesenen Phänomen auf der Spur zu sein. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Migrations- und Mobilitätskonzept ist, dass Grenzen beziehungsweise deren Überschreitung kein Bestimmungsmerkmal von Mobilität sind: Unter Mobilität wird jegliche Art von Veränderung, nicht nur von Menschen, sondern auch von Objekten, Kapital und Information verstanden. Darin liegt der größte Vorteil und der größte Schwachpunkt von Mobilitätskonzepten zugleich: Sie sind nicht angewiesen auf ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibungen. Das Fehlen des Topos der Grenze führt aber auch dazu, dass staatlicher Rassismus und Diskriminierungen, die auf dem Staatsbürgerschaftskonzept gründen, nicht angemessen erfasst werden können. Stattdessen ist Mobilität im Gegensatz zu Migration durchweg positiv konnotiert und wird in neoliberalen Anrufungen zum Imperativ des modernen und erfolgreichen Individuums. Die scheinbare Grenzenlosigkeit von Mobilität wird nur dann als Herrschaftsideologie entlarvt, wenn Grenzlinien, Ein- und Ausschlüsse, Differenzierungen und Kategorisierungen benannt werden.1 Häufig bleibt das Mobilitätsparadigma aber rein deskriptiv, ohne Ungleichheiten zu berücksichtigen (vgl. Lenz 2010: 71ff.).

Kritik des methodischen Residentialismus

Auch die Mobilitätsforschung selbst befragt kritisch ihre Vorannahmen: John Urry, einer der einflussreichsten Mobilitätsforscher, geht ebenso wie Mike Featherstone der Geschichte eines Paradigmas der Sesshaftigkeit nach. Sie kritisieren die Ausklammerung von Mobilität und sozialer Desintegration aus der Gesellschaftstheorie, die auf einer nostalgischen Konstruktion vermeintlich immobiler vorindustrieller Gesellschaften beruhe (vgl. Urry 2000: 26f.; Featherstone 1995: 130ff.). Damit führt die Mobilitätsforschung eine Tradition kritischer Selbstbefragung fort, die seit den 1980er-Jahren sowohl in der Soziologie als auch in der Ethnologie und der historischen Migrationsforschung zu finden ist: Vertreter*innen der genannten Fächer kritisieren die Grundannahme, dass der Mensch prinzipiell ein sesshaftes Wesen sei. Sie erinnern daran, dass Migration ein historisches Kontinuum darstellt, Sesshaftigkeit erst sehr spät in der Geschichte der Menschheit auftrat und ein Projekt der westeuropäischen Moderne darstellt, das manchen Regionen und Menschen bis heute aufgezwungen wird (vgl. Düvell 2006: 92ff.). In Bezug auf die Vormoderne hatte der Historiker Ernst Schubert in den 1990er-Jahren »Mobilität als gesellschaftliche Grunderfahrung« bezeichnet (Schubert 1995: 31). Vor diesem Hintergrund kritisierte auch der ›Arbeitskreis Policey‹ in einer Tagungsankündigung zum Thema Mobilität in der Frühen Neuzeit: »Nach wie vor werden jedoch in Gesamtdarstellungen zur frühneuzeitlichen Geschichte […] die durch Migration ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen nur am Rand behandelt und der Residentialismus als biographischer und gesellschaftlicher Regelfall zumindest implizit apostrophiert.« (Pauser/Wiebel 2007). Die These vom ›Normalfall Migration‹ fand sich im Jahr 2004 auch auf dem Titel einer von der Bundeszentrale für politische Bildung verlegten und von Klaus J. Bade und Jochen Oltmer herausgegebenen Broschüre zur deutschen Migrationsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert wieder (vgl. Bade/Oltmer 2004).

Dennoch sind sowohl die deutsche Öffentlichkeit als auch ein Großteil der wissenschaftlichen Migrationsforschung weit davon entfernt zu glauben, dass Migration »ein ephemerer Bestandteil jeder Gesellschaft, ihr Innen und Außen zugleich« darstellt (Bojadžijev 2011: 144). In der deutschen Geschichtsschreibung wurden lediglich die sogenannten ›Vertriebenen‹ der Nachkriegsgesellschaft in die nationale Erzählung integriert, sie werden jedoch selten als Migrant*innen beschrieben.

Ein positives Beispiel für den Einbezug von Mobilität in die Gesellschaftstheorie ist die Arbeit von Yann Moulier Boutang (1998) über die historische Entwicklung von der Sklaverei zur Lohnarbeit. Darin denkt er die Geschichte des Kapitalismus aus dem Blickwinkel der Mobilität: Er beschreibt, wie die Flucht der Sklavinnen und Sklaven von den Plantagen, die Befreiung der Leibeigenen aus feudalen Fesseln und die unregulierbare Mobilität der ›Vagierenden‹ eine Masse an Arbeitskräften freisetzten, die die Entstehung des Kapitalismus und seines auf freier Lohnarbeit beruhenden Arbeitsmarktsystems erst ermöglichte (vgl. Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008: 204). Dabei wurde Bewegungsfreiheit sowohl zur wichtigsten Quelle kapitalistischer Produktivität als auch zu deren größten Bedrohung: Mit dem Arbeitsvertrag entstand zugleich die Möglichkeit, Angestellte zu entlassen wie von diesen verlassen zu werden. Die Kontrolle und Lenkbarkeit von Mobilität wurde daher zu einem der wichtigsten Ziele des Kapitalismus.

In Moulier Boutangs Arbeit wird der Migration ein Potential für gesellschaftliche Veränderungen und soziale Kämpfe zugestanden, statt sie, wie neoklassische Migrationstheorien, als Folge der Ökonomie anzusehen. Dieser Ansatz wurde zur These der ›Autonomie der Migration‹ weiterentwickelt (vgl. Moulier Boutang 2007; Mezzadra 2010). Das Konzept der Autonomie streift Fragen nach der Regulierbarkeit von Migration, nach (staats-)bürgerschaftlichen Rechten und staatlicher Souveränität, aber auch Fragen nach Arbeitsmarktpolitik, den Kämpfen der Migration, migrantischer Subjektivität und Rassismus.

Isabell Loreys Konzept der Un-Ordnung

Eine große Nähe zum Autonomie-Ansatz weist Isabell Loreys Konzept der Un-Ordnung auf (vgl. Lorey 2010; 2011). Dieses verweigert aber noch expliziter die staatlicherseits gesetzten Hierarchisierungen wie etwa die Gegenüberstellung von Migration und Sesshaftigkeit. Vielmehr beanstandet Lorey das Verhaftetsein in binären Ordnungssystemen: Wissenschaftliche Forschung solle kategoriales Normierungsdenken grundlegend unterwandern, indem sie sich mit solchen sozialen Kämpfen verbindet, die die Ordnung verweigern, das heißt Un-Ordnung schaffen. Betrachtet werden sollten ganz bewusst diejenigen Handlungen, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen oder es explizit bekämpfen und dadurch eine neue Perspektive ermöglichen: »Das Entgehen, der Widerstand ist primär, er existiert als Möglichkeit in Permanenz, nicht (derart) vereinnahmt, nicht (dermaßen) geführt zu werden. Das Entgehen, die Flucht ist keineswegs als die eine große Bewegung aus der Macht zu verstehen, vielmehr existieren viele kleine Fluchten, die sich verketten können.« (Lorey 2010: 53f.) Für die empirische Forschung bedeutet dies, »das, was als unzuordenbar, als unzurechenbar gilt, in seiner Potenz wahrzunehmen, das heißt für Praxen offen zu sein, die keine Vorbilder haben und gleichsam durch das Raster fallen, für Praxen, die den Mut haben, sich zu verweigern und Neues zu erfinden«. (Lorey 2011: 104) Auf diese Weise kann beispielsweise das Spektrum an alltäglichen Bewegungen jenseits von Migration und Sesshaftigkeit beschrieben werden. Diese Beschreibung schließt eine Machtanalyse mit ein und soll zugleich die anderen, verschwiegenen Seiten von Dichotomien und Kategorien aufzeigen. Deren Kenntlichmachung führt zur Irritation und somit zur Ent-Normalisierung etablierter Vorstellungen, im hier diskutierten Fall zur Hinterfragung der unmarkierten Position der Sesshaftigkeit.

Die Sichtbarmachung widerständiger Positionen lässt sich in der historischen Forschung leicht umsetzen: Aktenkundig und somit archivwürdig wurden in erster Linie solche Handlungen, die zu Konflikten mit staatlichen Organen führten. Häufig ist jedoch auch ein Zwischen-den-Zeilen-lesen notwendig, um unmarkierte Positionen wahrzunehmen. Zudem muss dafür ein breites Forschungsdesign gewählt werden: Um für Überraschungen offen zu sein, muss ein größerer Teil der Bevölkerung in die Untersuchung einbezogen werden. Auch sollte die Perspektive der Un-Ordnung nicht dazu führen, gesamtgesellschaftliche Politiken aus dem Blick zu verlieren. Vielmehr können ›viele kleine Fluchten‹ (Lorey) erst deutlich machen, dass sich die Anstrengungen staatlicher Kontrolle auf die gesamte Bevölkerung richte(te)n. Dimitris Papadopoulos et al. fassen die Arbeit von Moulier Boutang folgendermaßen zusammen: »The control of mobility is a social issue for capitalism, not just an issue pertaining to some atypical mobile workers.« (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008: 206) In ähnlicher Weise beschrieb Michel Foucault in seiner ›Geschichte der Gouvernementalität‹ verschiedene Formen modernen Regierens – wie Disziplinartechniken, Sicherheitstechnologien und Biopolitik –, mit deren Hilfe die Bevölkerung seit der Frühen Neuzeit ans Territorium gebunden, kontrolliert und verwaltet wurde (vgl. Foucault 2006a; 2006b).

Die Beschreibung der Herausbildung von Migrations- und Grenzregimen seit der Frühen Neuzeit, die mit der Entstehung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt fand, muss demnach die gesamte Bevölkerung berücksichtigen und die staatlichen Versuche der Kontrolle ihrer Arbeits- und Lebensumstände miteinschließen. Im Folgenden werden alltägliche Praktiken der Menschen im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet des 19. Jahrhunderts und die staatlichen Versuche ihrer Kategorisierung, Lenkung und Kontrolle anhand zwei empirischer Fälle untersucht: einmal am Beispiel mobiler Tagelöhner*innen, einmal am Beispiel des Wanderhandels. Dadurch sollen die wenig bekannten Auseinandersetzungen zwischen den alltäglichen Praktiken der Bevölkerung und staatlichen Organen des 19. Jahrhunderts beleuchtet werden.

Un-Ordnung durch Tagelohn und ›Vagabondage‹

In die sächsische Einwanderungsstatistik des 19. Jahrhunderts gingen nur solche Wanderungen ein, die von Erfolg gekrönt waren: Gezählt wurden nur Eingewanderte, die »sich in demselben entweder mit Grundbesitz ansässig gemacht oder das Bürgerrecht daselbst erlangt, oder sich in der Absicht eines dauernden Aufenthalts im Orte niedergelassen haben«.2 Demgegenüber galt: »Die in das Land hereinströmenden Handwerksgesellen und Arbeiter […] und ähnliche Elemente flottierender Bevölkerung werden unter die Zuzüge nicht aufgenommen […].«3 Da diese ›flottierende Bevölkerung‹ in erster Linie aus Hilfsarbeiter*innen, Tagelöhner*innen und Fabrikarbeiter*innen bestand, die sich meist kein Haus oder Grundstück leisten konnten und sich daher auch nicht ansässig machten, gingen nur solche Wanderungen in die Statistik und somit in die Forschung ein, die mit sozialer Aufwärtsmobilität verbunden waren. Dies bestärkte den Irrglauben, Männer seien grundsätzlich mobiler gewesen als Frauen und letztere lediglich mit ihren Ehemännern und Familien mitgewandert – eine Position, die sich auch in aktuellen Studien immer wieder finden lässt.4 Tatsächlich waren jedoch die Wanderungen landwirtschaftlicher und industrieller Arbeiter*innen, darunter von zahlreichen Frauen und Kindern, sehr viel umfangreicher als die Einwanderungsstatistik vermuten lässt (vgl. Lehnert 2017: 268ff.). Diese Tatsache wiederholt sich in der sächsischen Binnenwanderung (ebd.).

Die größtenteils undokumentierte Mobilität ländlicher Unterschichten stellte eine Herausforderung für den auf Erfassung und Kontrolle der Bevölkerung fixierten Staat des 19. Jahrhunderts dar. Die Existenz ›flottierender Bevölkerung‹ und die Tatsache, dass sich eine Vielzahl an Personen nicht ausweisen konnte, führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu immer neuen Diskussionen über Aufsicht und Kontrolle von Dienstpersonal und Tagelöhner*innen. Dabei wurden staatliche Behörden wiederholt mit der bürokratischen Anforderung konfrontiert, Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen. Die Unterscheidung zwischen ›festem‹ Gesinde und Tagelöhner*innen war zentral für die Überwachung landwirtschaftlicher Arbeiter*innen, da sie unterschiedliche Rechtspersonen darstellten und verschiedene soziale Rollen einnahmen: Häusliche und landwirtschaftliche Bedienstete waren seit der sächsischen Gesindeordnung von 1835 an feste Arbeitsverträge, gesetzliche Bestimmungen zum Arbeitsplatzwechsel und der Führung eines Gesindezeugnisbuchs gebunden.5 Ihr Arbeitsvertrag galt in der Regel ein Jahr mit der Option auf Verlängerung. Im Gegensatz dazu waren Wochen- und Tagelöhner*innen ausdrücklich von der Gesindeordnung ausgenommen6, was für alle Seiten Vor- und Nachteile mit sich brachte: Von den Dienstherren wurde die Tagelöhnerei häufig als Deckmantel dazu gebraucht, die höhere Personalsteuerpflicht des festen Gesindes zu umgehen, zudem zogen sie es in einigen Fällen vor, Wochenlohn zu zahlen statt sich ein ganzes Jahr an eine ihnen unbekannte Person zu binden. Das Dienstpersonal wiederum profitierte von der Möglichkeit, sich trotz schlechten Einträgen ins Gesindezeugnisbuch als Wochen- und Tagelöhner*innen zu verdingen, wofür kein Nachweis über Diensttreue benötigt wurde.7

Ob die Arbeiter*innen die größere Freiheit der nicht an die Gesindeordnung gebundenen Arbeitsverhältnisse oder die größere Sicherheit fester Dienstverträge bevorzugten, blieb Gegenstand der Debatte.8 Dennoch war das Vorurteil weit verbreitet, dass Tagelöhner*innen »oft Leute sind, welche zu der Hefe des Volkes gehören und zum Theil aus dem Grunde das Gewerbe der Tagelöhnerei ergreifen dürften, um sich der strengen Controle des Gesindes namentlich in Bezug auf etwaige anhängig gewesene Untersuchungen zu entziehen«.9 Entsprechend waren Tagelöhner*innen einem generellen Misstrauen in Bezug auf ihre persönliche und moralische Integrität ausgesetzt, nicht selten wurden sie als »faul, verdrossen und widerspenstig« beschrieben.10

Das Interesse staatlicher Institutionen an der Thematik konzentrierte sich auf die Erörterung der Frage, ob eine Aufsicht und Kontrolle ländlicher Tagelöhner*innen möglich sei, etwa durch die Einführung von den Gesindezeugnisbüchern ähnlichen Arbeitsausweisen. Diese sollten den fehlenden Leumund mit Hilfe schriftlicher Informationen ersetzen und seine Eigentümer*innen vertrauenswürdig machen. Vereinzelte Gegenstimmen fürchteten zu viel Bürokratie oder die Erleichterung legaler Wanderungen.11

Die Diskussion um Arbeitsbücher für Tagelöhner*innen wurde im 19. Jahrhundert wiederholt geführt und versuchte das Kunststück, eine Grenze zwischen erwünschter und unerwünschter Mobilität zu ziehen. Die Kreisdirektion Dresden bemühte sich Ende des Jahres 1838 um eine Abgrenzung zwischen zwei verschiedenen Gruppen von Tagelöhner*innen. In der ersten Gruppe sah sie den größten Teil der Handarbeiter*innen12, die einen festen Wohnsitz hatten und in der Regel nach getaner Arbeit nach Hause zurückkehrten. In der zweiten Gruppe verortete sie hingegen Personen, die keinen festen Wohnsitz hatten oder nur selten dahin zurückkehrten, öfter ihren Arbeitsherrn wechselten und meist nur Gesindedienst verrichteten. Lediglich letztere Gruppe sei ebenso wie das Gesinde besonderer polizeilicher Kontrolle zu unterwerfen.13 Damit folgte die Kreisdirektion Dresden der Tradition, die ärmsten Untertanen unter die repressivste Kontrolle zu stellen: Erfolgreichere Tagelöhner*innen kauften, pachteten oder mieteten ein kleines Häuschen und gegebenenfalls ein Stück Land, was ihnen einen Zuverdienst durch eine kleine Landwirtschaft sicherte (vgl. Kocka 1990: 201). Diese sollten nun passpolizeilich privilegiert werden gegenüber den weniger erfolgreichen, freien Tagelöhner*innen, die noch hofften, nach einer gewissen Phase zur Häuslerin oder zum Häusler aufzusteigen. Der Zittauer Amtshauptmann von Ingenhäff bemerkte in Bezug auf wohnsitzlose Tagelöhner*innen, dass „solches herumziehendes Gesindel und Vagabonden in moralischer Hinsicht höchst nachtheilig auf das eigentliche Stammgesinde einwirken, und desto nachtheiliger und gefährlicher für die Moralität werden« könne.14 Wandernde Tagelöhner*innen dürften überhaupt nicht zu dulden sein und für den Fall, dass eine Person dennoch Arbeit in einem anderen Orte suche, solle sie einen Reisepass mit sich führen, in dem die Marschroute genau vorgeschrieben sei. Jeder andere Ausweis, der Arbeit in einem anderen Ort als der Heimatgemeinde legitimiert, erschien ihm bedenklich, »weil in diesem Falle das Land von vagabondirenden Tagearbeitern noch mehr überflutet würde, als es jetzt vorzukommen scheint«.15 Dem wollte er vorbeugen, indem Mobilität gesetzlich begrenzt und auf die nächste Umgebung beschränkt werden sollte.

Die Ablehnung mobiler Lebensweisen im Allgemeinen und der Tagelöhnerei mit kurzen Arbeitsverträgen und häufigen Arbeitsplatzwechseln im Besonderen offenbart eine rückwärtsgewandte und romantische Verklärung fester Gesindeverhältnisse, die für mehr standen als für arbeitsrechtliche Normen: Das Bild der sesshaften, ›einheimischen‹ und in die Bauernfamilie integrierten Mägde und Knechte verkörperte die ›gute alte Zeit‹, die durch verunsichernde Modernisierungsprozesse bedroht war (vgl. Friedreich 2005; 2008). Als Ursprung des Problems galt den Landwirten die Erosion feudaler Abhängigkeiten. Die Neuerungen des Kapitalismus wurden mehrheitlich kritisiert, insbesondere die Vorstellung eines Arbeitsvertrags zwischen freien und gleichen Vertragspartner*innen mit den damit einhergehenden Arbeitsplatzwechseln (vgl. für die Zeit um 1900: Deutscher Landwirtschaftsrat 1894: 56). Dass auch das Gesinde der Frühen Neuzeit nicht so immobil gewesen war, wie seine Verklärung suggerierte, zeigt das Beispiel ›vagierender‹ Mägde, die bereits damals Verdächtigungen ausgesetzt waren (vgl. Dürr 2001: 119). Doch während in den Jahrhunderten zuvor Wohnsitzlosigkeit und ›Vagabondage‹ als Ordnungsproblem gegolten hatten, wurde räumliche Mobilität im 19. Jahrhundert zur allumfassenden Metapher für die gesellschaftlichen Umbrüche und Probleme der Zeit. Entsprechend wurden die Herkunft der Arbeitskräfte und die Dauer ihrer Anstellungsverhältnisse wichtige Merkmale für die Beurteilung einzelner Personen: Je näher sie dem Ideal vormoderner Gesindeverhältnisse kamen, desto verlässlicher erschienen sie. Zugleich wurden im Misstrauen gegen Tagelöhner*innen tiefgreifende Veränderungsprozesse antizipiert, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Massenproletarisierung ländlicher Unterschichten führten und sich in der weiträumigen Ausbreitung des Tagelohns manifestierten. Die geschilderten Diskussionen über Arbeitsnachweise aus den 1830er Jahren waren in erster Linie dem hilflosen Versuch geschuldet, »der Entstehung einer hier noch unbekannten Classe von Tagelöhnern, welche keinen festen Wohnsitz haben, sondern umherziehend Arbeit suchen möglichst vorzubeugen«.16

Un-Ordnung durch Wanderhandel

Auch der Wanderhandel zeigt, wie Arbeitsmobilität in Kämpfe um Modernisierungsvorgänge verstrickt war und dabei sowohl widerständig als auch systemstabilisierend wirkte.

Die Einordnung mobilen Handels ist allein aufgrund seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen schwierig: Er wurde im Neben- oder Haupterwerb, von Selbständigen und Lohnhausierer*innen, alleine oder in Gruppen, mit selbst hergestellten oder gekauften Waren betrieben; zu ihm zählen Fernwanderungen und regional eingrenzbare Mobilität. Die Definition des Wanderhandels ist daher in vielerlei Hinsicht offen, ebenso wie in Bezug auf ihn eine Unterscheidung zwischen sesshaften und mobilen Lebensweisen erschwert wird.

Die Beurteilung des Wanderhandels durch verschiedene Bevölkerungsgruppen war höchst unterschiedlich. Seine erbittertsten Gegner waren seit dem späten Mittelalter Handwerker- und Kramerzünfte. Ihre Politik richtete sich traditionell gegen jegliche Art der Konkurrenz durch sogenannte ›fremde‹ Händler, sei es im Umherziehen oder auf Messen und Märkten. Neben althergebrachten und antisemitischen Stereotypen verbarg sich dahinter nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der stehende Handel mit selbstgefertigten Waren angesichts von Industrialisierung und Globalisierung den mobilen Handelsweisen mehr und mehr unterlegen war. Die städtischen Betriebe befanden sich daher im Kampf gegen die Modernisierung und forderten ein generelles Hausierverbot. 17 In ihrer Argumentation konnten sich die Zünfte auch hier auf die gesellschaftlichen Diskurse um Bettler-, Vaganten- und Zigeunertum stützen. Auf diese Weise wurde mobilen Händler*innen unterstellt, regelmäßige und ordentliche Arbeit zu scheuen. Neben der sozialen Diffamierung des Wanderhandels wurden moralische Argumente gegen übermäßigen Konsum und damit verbundenen Werteverfall geltend gemacht (vgl. Möser 1943[1767]: 183ff.). Tatsächlich kann der Wanderhandel als Motor der Modernisierung in ländlichen Gegenden bezeichnet werden. Denn das Industriekapital erkannte im mobilen Handel die Möglichkeit, neuartige Produkte wie beispielsweise Uhren und Spielzeug bis ins letzte Dorf bekannt zu machen und somit ländliche Absatzmärkte zu erschließen. Werner Sombart hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung des Wanderhandels für die Herausbildung des Kapitalismus beschrieben. Er schreibt ihm eine marktbildende Kraft durch das Bedürfnis nach Luxusgegenständen zu und gleichzeitig eine geistesbildende Kraft durch die Revolutionierung der Wirtschaftsgesinnung des vorkapitalistischen Menschen (vgl. Sombart 1924: 448). Manfred Seifert hat folgerichtig darauf hingewiesen, dass die Figur des Wanderhändlers als Vorläufer des neoliberalen ›Unternehmer seiner selbst‹ angesehen werden kann: Arbeitswelt und Lebenswelt fielen größtenteils zusammen, das Arbeitsverhältnis war zeitlich und räumlich flexibel, unsicher und eigenverantwortlich organisiert. Der Wanderhändler verkörperte somit den neuen Leistungsträger des 19. Jahrhunderts, der sich an kapitalistischem Konsum und der freien Fluktuation von Waren und Arbeitskräften orientierte (vgl. Seifert 2004: 73ff.).

Ähnlich den postfordistischen Selbstentwürfen greift es jedoch zu kurz, Wanderhändler*innen lediglich als dem Verwertungszwang unterworfene Subjekte zu begreifen. Ihre Bewegung befriedigte nicht nur kapitalistische Bedürfnisse, sondern beinhaltete zugleich Momente sozialen Widerstands, persönlicher Befreiung und ökonomischer Selbstermächtigung. Ein Beispiel dafür sind Heimweber*innen, die den selbstorganisierten Vertrieb ihrer Waren dazu nutzten, sich dem ausbreitenden Verlagswesen zu entziehen.18 Denn mit der Durchsetzung des Verlagswesens wurde die Handweberei im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen Leinenregionen Deutschlands in Lohnarbeit organisiert. Das heißt, dass die Weber*innen zwar weiterhin Zuhause arbeiteten, das Rohmaterial aber von einem Verleger bezogen und die fertige Ware gegen einen geringen Lohn an ihn zurücklieferten. Diese Entwicklung führte seit Anfang des 19. Jahrhundert zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und zu den bekannten Weberaufständen. Der Wanderhandel war somit für Heimweber*innen eine Strategie des sozialen Kampfes. Sie ermöglichte ihnen, sich vom Verlagswesen unabhängig zu machen und ihre Waren ohne Zwischenhändler zu verkaufen. Um ihre Verkaufsreisen lohnender zu machen, boten sie häufig gleichzeitig industriell gefertigte Waren an.19 Somit waren sie sowohl Agenten des Kapitalismus, indem sie die kapitalistische Warenkonsumtion unterstützten, als auch Gegner der kapitalistischen Produktionsweise, indem sie sich gegen Lohnarbeit auflehnten.

Interessant ist nun die Haltung des Staates zum Wanderhandel. Auf der einen Seite sah er sich den städtischen Handwerkszünften verbunden und somit der traditionellen Stigmatisierung des Wanderhandels als Symbol für Arbeitsscheu, nicht-sesshafte Lebensweisen und Bettelei. Diese Haltung wurde unterstützt durch das nationale Ideal der sesshaften Gesellschaft und der antisemitischen Verbindung von Mobilität mit Nervosität und Verfall. Zudem konnte nur die sesshafte Gesellschaft staatlich kontrolliert, von der Statistik erfasst und besteuert werden. Auf der anderen Seite erstarkte das Ideal des freien Individuums, gewannen wirtschaftsliberale Stimmen an Einfluss und begann der Staat, ökonomisch nützliche Mobilität für nationale Standortpolitik zu instrumentalisieren (vgl. Lehnert 2012: 154ff.). Tatsache ist, dass eine Fülle an immer wieder neu erlassenen Gesetzen und Verordnungen von einem absoluten Verbot des Wanderhandels schrittweise zu seiner detaillierten Regelung führte. Dies zeugt einerseits von der Autonomie der mobilen Akteure, die sich durch Verbote nicht einschränken ließen. Andererseits zeigt sich darin der wachsende Einfluss ökonomischer Eliten auf staatliche Entscheidungen.

Einfluss auf die politische Praxis hatte außerdem die wissenschaftliche Forschung. Der ›Verein für Socialpolitik‹ betrieb empirische Sozialforschung als staatliche Auftragsforschung. Zusammenfassend kam er in seinen »Untersuchungen über die Lage des Hausiergewerbes« (1898/1899) zu folgendem Bild: In kleinerem Umkreis tätigen, sesshaften ›Selbsthausierern‹ wie den Heimweber*innen bescheinigte der Verein Arbeitsfleiß und eine positive Wirkung auf die Bevölkerung. Demgegenüber erachtete er nicht-sesshafte, weite Strecken zurücklegende sowie jüdische Händler*innen als nicht wünschenswert. Die Untersuchungen zum Wanderhandel sind somit ein anschauliches Beispiel dafür, wie die sozialpolitischen Diskurse der Zeit in wissenschaftlichen Schriften objektiviert wurden. Dem Wanderhandel kam dabei eine Rolle zu, die noch heute in der Migrationsforschung implizit zu finden ist: Er diente der Kategorisierung in produktive und potenziell gefährliche Mobilität nach volkswirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten.

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Spannbreite des Wanderhandels reicht vom sesshaften Heimweber, der gemeinsam mit anderen Ortsbewohnern regelmäßig eigene Produkte in den benachbarten Dörfern feilbietet, bis zur individuell tätigen, wohnsitzlosen Händlerin, die die kapitalistischen Massenprodukte bis in die letzten Ecken des Landes trägt. Dies sind nur wahllos herausgegriffene Idealfiguren, da die soziale Realität alle denkbaren Mischformen bereithielt. So entflieht die heimgewerbetreibende, aber zusätzlich industrielle Produkte vertreibende Wanderhändlerin gleich mehreren Kategorien: Sie ist sowohl sesshaft als auch wandernd, arbeitet sowohl selbständig als auch abhängig, und kratzt nebenbei nicht nur am Bild des immobilen Landbewohners, sondern auch an der Definition von Wanderschaft als Sache der Männer. Mit anderen Worten: Sie bringt Un-Ordnung in das schematische Klassifizierungsdenken der Migrations- und Mobilitätsforschung. Zugleich zeigt das Beispiel des Wanderhandels noch etwas anderes: Es regt dazu an, das Verhältnis von Mobilität und Modernisierung im 19. Jahrhundert als grundsätzlich ambivalent zu denken. Denn einerseits half der Wanderhandel dabei, durch die Zerstörung überlieferter ständischer Strukturen und einer mobilen Warendistribution dem Kapitalismus zum Durchbruch zu verhelfen. Andererseits wendete er sich gegen das Verlagswesen als Vorform der modernen Industrie und verweigerte sich damit kapitalistisch organisierter Lohnarbeit – allerdings nur, um wiederum der marktliberalen Figur des selbstorganisierten Unternehmers zu entsprechen. Opportunität und Widerstand, Mobilität und Modernisierung waren somit vielfach miteinander verstrickt.

Fazit

Die Diskussionen über mobile Tagelöhner*innen und den Wanderhandel zeigen beispielhaft, dass Mobilität und Sesshaftigkeit im 19. Jahrhundert ein stark umkämpftes Feld waren. Die Frage nach der Kontrollier- und Lenkbarkeit der Bevölkerung spitzte sich gegen Ende des Jahrhunderts immer mehr zu und fand sich in einem hierarchisch abgestuften Migrationsregime wider, das bestimmte Formen von Im/Mobilität förderte, während es andere illegitimierte (vgl. Lehnert 2017: 380ff.).

Die systematische Unterschätzung mobiler Arbeitskräfte in der Forschung entspricht dem Bild einer räumlich immobilen Landbevölkerung, das seinerseits nicht zuletzt ein Ergebnis ideologisch aufgeladener historischer Debatten ist. Die Migrationsforschung hat diese Vereinfachung unterstützt, indem sie innerstaatliche Bewegungen in den Bereich der ›Binnenmigration‹ verschob, ländliche Lebensweisen als stabil deutete und den Fokus auf Verstädterungstendenzen, Land-Stadt-Migrationen und Fernwanderungen verengte. Kleinräumige, temporäre und ländliche Mobilitäten gerieten dabei größtenteils aus dem Blick. So konnte sich rückblickend das Bild einer homogenen und stabilen ›Ursprungsgesellschaft‹ etablieren – auch und gerade in Gegenden, die eine hochmobile Vergangenheit haben, wie das heutige Bundesland Sachsen.

Ein Einbezug der historischen Komponenten von Migration und Mobilität in die Gesellschaftstheorie ist dringend notwendig, um westeuropäische Staaten als das zu beschreiben, was sie sind: Staaten in Bewegung, deren Bevölkerungen selbst eine lange Mobilitäts- und Migrationsgeschichte haben. Diese begann weit vor dem 19. Jahrhundert; im Zuge des nation building und dem Durchbruch des Kapitalismus wurde Mobilität schließlich in den Staat integriert und unter Regeln gebracht. Der Zusammenhang zwischen Mobilität und Migration einerseits und dem Ausschluss von sozialen Rechten andererseits ist kein persönliches Versagen, sondern seit dem 19. Jahrhundert bis heute ein inhärenter Bestandteil der Funktionsweise moderner Gesellschaften. Als solcher sollte er einen Platz in der allgemeinen Geschichts- und Gesellschaftstheorie erhalten. Wenn das Narrativ der europäischen Moderne um die Perspektive der Migration erweitert wird, werden unmarkierte, aber umkämpfte Positionen wie die des Residentialismus sichtbar gemacht. Gleichzeitig schreiben sich die mobile Un-Ordnung und die mit ihr verbundenen Subjektpositionen in die nationalen Erzählungen ein. Sie verdeutlichen das Geworden-Sein einer Vorstellung von Heimat als homogene stabile Dorfgemeinschaft – einer Vorstellung, die noch heute stark umkämpft ist.

Literatur

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  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Katrin Lehnert ist Kulturanthropologin, Romanistin und Bibliothekswissenschaftlerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Digitalen Deutschen Frauenarchiv. Ihre Promotion wurde veröffentlicht unter dem Titel »Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert« (Leipzig 2017). Weitere Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen: https://www.clio-online.de/researcher/id/researcher-19434.