Mobil-Sein in der EU?!

Zwangsmobilisierende Strategien des Migrationsregimes

Marika Pierdicca

Abstract The article addresses forms of forced spatial mobility facilitated by border policies that aim at restricting the freedom of movement for migrants, while simultaneously »mobilizing them out of the way«. The concept of »Wegmobilisieren« (»mobilizing out of the way«) is introduced as an analytical framework for describing a series of ›state of emergency‹-procedures implemented by the Italian state. In the context of the humanitarian program »Emergency North Africa« (Ital. Emergenza Nordafrica) in 2011–2013, for example, exceptional procedures became common practice that generated mobility(-ies) within the EU and across EU countries rather than involving direct deportation orders. The article concludes with an outlook: current practices (2018) in the realm of Italian migration management indicate a shift in the aforedescribed forms of mobility control. To contextualize these changes, the outlook takes prevailing anti-migration policies in Italy as well as extremist right wing alliances across the EU into account.


Keywords Governing Mobility, Migration Regime, Italy, Sovereignty


Die EU-Migrationspolitik zielt nicht allein auf Abschiebungspraxen ab, also auf Maßnahmen, die zum Zweck haben, den EU-Raum vor unerwünschten Migrant_innen zu ›schützen‹. Zum einen ist ein Kalkül mit illegalisierter Arbeit zu verzeichnen, das eine differenzielle Inklusion in den Arbeitsmarkt beabsichtigt (vgl. Mezzadra 2008; vgl. Mezzadra/Nielson 2013). Das Management der Mobilität generiert hier eine selektive Eingliederung sowie eine Vielzahl von Statusformen für Migrant_innen. Migrant_innen werden nicht von vornherein exkludiert, sondern selektiv und prekär in den neoliberalen Arbeitsmarkt inkludiert. In diesem Sinne erweist sich die Kontrolle der Mobilität als ein strategisches Tool, Migrant_innen für den Arbeitsmarkt zu nutzen, ohne ihnen eigenständige Arbeits- und Aufenthaltsrechte zu gewähren (vgl. Mezzadra 2008: 86-87). Zum anderen können Migrationspolitiken als Reaktion auf die nicht kontrollierbaren Wege verstanden werden, die die Migration sich selbst verschafft, wie der Ansatz der Autonomie der Migration verdeutlicht (vgl. Karakayali/Bojadžijev 2007; Römhild 2009). Das EU-Migrationsmanagement versucht dabei, Migrant_innen durch bestimmte Maßnahmen zu kontrollieren bzw. ihre Mobilität nicht nur einzuschränken, sondern diese vielfach auch innerhalb der EU wahlweise zu deaktivieren oder zu aktivieren. Ersteres führt zu Immobilität, letzteres verheißt hingegen eine Hypermobilisierung der Bewegungspraktiken. Der von Federica Benigni und mir in diesem Kontext verwendete Begriff des Wegmobilisierens positioniert sich im Zusammenhang mit staatlichen Praktiken, die eine (Hyper-)Mobilisierung von Migrant_innen verursachen.

Im Rahmen unserer Analyse wird das mobilisierende Migrationsmanagement nicht als monolithischer staatlicher Apparat betrachtet, der etwa Migration von vornherein programmatisch steuert. Die Praxis des Wegmobilisierens zeigt vielmehr, wie das Regime der Migration immer wieder flexible, zeitlich begrenzte Ad-hoc-Antworten auf migrantische Bewegungen gibt. Die kritische Migrationsforschung hat in diesem Kontext gezeigt, dass das Migrationsregime nicht als ›System‹ zu begreifen ist, sondern als »eine Einrichtung, die die permanente Transformation von Mobilität in Politik erzeugt. Es stellt keine unabhängige Variable im glatten Kontinuum von Mobilität und ihrer Kontrolle dar. Man könnte argumentieren, dass Migration selbst das dynamische Moment in einem Regime der Migration ist« (Karakayali 2005; vgl. auch Tsianos 2010).

Die Praxis des Wegmobilisierens lässt sich nur in der Interdependenz zwischen supranationalen EU-Verordnungen, nationalen Interessen und migrantischen Bewegungen begreifen. In diesem Sinne positioniert sich die Analyse des Wegmobilisierens innerhalb eines politischen Verständnisses des EU-Raums, der als »politisches Laboratorium« sowie »als mehrfach gestaffelter Möglichkeits- und Konfliktraum zu betrachten ist« (Hess 2014: 244).

Im Folgenden wird das Konzept des Wegmobilisierens erläutert, wie wir es anhand des Beispiels ›Notstand Nordafrika eingeführt haben (vgl. Benigni/Pierdicca 2016). Anschließend wird eine Reflektion anhand neuerer Entwicklungen der Migrationspolitik in Italien entworfen.

Das Migrationsmanagement mobilisiert

Das Asylmanagement in Italien veranschaulicht am Beispiel des von der Regierung proklamierten humanitären Ausnahmezustands ›Notstand Nordafrika (Ministero dell’Interno 2012), dass die italienische Migrationspolitik eine Strategie der governing movements less than a space verfolgt (vgl. Tazzioli 2015). Es handelt sich hier um ein kontextabhängiges, ad-hoc improvisiertes Management von Menschenbewegungen. Der von 2011 bis 2012 verhängte Interventionsplan Emergenza Nordafrica konstatierte eine Notstandslage der Migration in Italien, die sicherheitsbedingte sowie humanitäre Maßnahmen seitens der Politik erfordere. Dieses migrationspolitische Programm kündigte Italien aufgrund der erhöhten Zuwanderungsbewegungen infolge des Arabischen Frühlings an.1 Wegmobilisieren weist hier auf die mit der europäischen Migrationspolitik einhergehende gängige (Zwangs-)Praxis hin, die Mobilität von Geflüchteten innerhalb der EU aktiv zu bestimmen bzw. zu gestalten. Die von der EU vorgesehene Zuständigkeit für Asylprüfungen wurde in diesen Fällen verschoben oder nur temporär wahrgenommen. Dies mag eine Reaktion auf den durch Dublin-III eingeführten geografischen Vorrang darstellen, demzufolge einzig das Erstbeitrittsland als zuständig für eingetroffene Asylantragsteller_innen erklärt wird.

Besonders sichtbar ist im Fall des ›Notstand-Nordafrika‹-Plans eine unkonventionelle Praxis des Wegmobilisierens, mit der sich Italien der Verantwortung zur Prüfung von Asylanträgen als Erstbeitrittsland entledigt. Dieser Prozess wurde durch quasi-legale Maßnahmen in die Praxis umgesetzt. Als Paradebeispiel dafür gilt die Ausstellung temporärer Reisepässe, die mit humanitären Beweggründen gerechtfertigt wurden. Nachdem 2013 in Italien mehrere Aufnahmezentren aufgrund miserabler Zustände (teilweise durch Intervention der EU) geschlossen wurden, haben Geflüchtete das Land verlassen und sich in andere EU-Staaten – überwiegend nach Deutschland – begeben. Mithilfe italienischer Behörden wurden Geflüchtete im Mai 2013 durch ein touristisches Visum und eine Zuwendung von 500 Euro räumlich mobil gemacht. Das Visum erlaubte es ihnen, wenn auch temporär, sich frei durch das EU-Territorium zu bewegen. Dieses Sondermanagement der Migrationsbewegungen stellt sich europäischen Abkommen entgegen und stützt sich bewusst auf Formen auferlegter Mobilisierung, die das praktische Ziel verfolgen, die Aufnahme von Asylsuchenden an ein anderes EU-Land abzugeben. Diese Abgabe kann als Ad-hoc-Maßnahme angesehen werden, die zwangsfreien und relativ aufwandslosen Abschiebungen in einen anderen Staat Europas zu rationalisieren. Wie Glenda Garelli betont, handelt es sich hier um eine ausdrückliche Aufforderung, sich innerhalb des Schengen-Regimes weiterzubewegen, das heißt um eine »injunction of mobility – as a ›move away from‹ territoriality or as the order to ›keep moving!‹« (Garelli 2013: 79). Dies wurde bereits 2011 ersichtlich, als auf der Migrationsroute zwischen Italien und Frankreich etwa 20.000 Flüchtlinge ebenfalls mit oben erwähntem Pass und Geld aus dem eigenen nationalen Raum in andere Länder wegmobilisiert wurden, auch in diesem Fall als Antwort auf humanitäre Missstände.

Im Fall der Erteilung temporärer Reisepässe, um Italien gen Deutschland verlassen zu können, lies sich jedoch die Trennungslinie zwischen einer von EU-Staaten gesteuerten Immobilität und der freien Mobilität von Migrant_innen nicht mehr klar erkennen. In Folge der Wegmobilisierung von Geflüchteten von Italien nach Deutschland war bereits 2013 die politische Gruppe Lampedusa in Hamburg entstanden, die von zahlreichen Organisationen und Bürger_innen unterstützt wurde. Die politische Mobilisierung, die im Fall der aktivistischen Gruppe Lampedusa in Hamburg im Kontext einer vom Staat verursachten Wegmobilisierung entstanden ist, positioniert sich gegen das Gebot, dass sich nur bestimmte Menschen von einem Ort zu einem anderen frei bewegen und an einem selbst gewählten Ort bleiben dürfen. Sie fordert Demokratisierungsprozesse und ein nicht staatliches / nicht traditionelles Verständnis von Citizenship als ein aktives Making of Citizenship, als »Act of Citizenship« (Isin/Nielsen 2008).

Die politischen und sozialen Bewegungen der Migration öffnen also den Blick über das passive Wegmobilisiert-werden von Migrant_innen und deren Rechte hinaus auf das aktive Sich-mobilisieren. Diese Ambivalenz transponiert sich auf territorial-räumlicher Ebene in Bewegungen und Gegenbewegungen, transnationalen sowie lokalen Grenzüberschreitungen. In Anlehnung an die kritische Migrationsforschung kann das (im-)mobilisierende Migrationsmanagement also als ein Effekt begriffen werden, der sich aus dem Kampf der Migration mit bestehenden (Im-)Mobilitätsregimen und -kontrollen generiert, weil diese ständig von fluiden, multidirektionalen und kontextabhängigen Mobilitätsformen herausgefordert werden (vgl. Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008: 163).

Im Zuge der Bewegung der Migrant_innen nach Hamburg im Jahr 2013 wird die Stadt zur ›city of refuge‹ (vgl. Derrida 2001: 4), die auf eine raum-zeitliche Interdependenz mit dem vorherigen Zufluchtsort, der Insel Lampedusa, hinweist. Die Re-Lokalisierung der Migrant_innen nach Hamburg zeigte, dass Lampedusa sich als ›Ort der Ankunft‹ bis zur hanseatischen Stadt erstreckt und umgekehrt: Die deutsche Nordseeküste war inzwischen zu Lampedusa geworden (Benigni/Pierdicca 2014:36). Die Gruppe Lampedusa in Hamburg berief sich auf das Recht, an einem frei ausgewählten Ort ansässig werden zu können. Die politische Mobilisierung der migrantischen Gruppe ist in dieser Hinsicht eine explizite Aufforderung auf ein ›Bleiberecht‹ an einem frei gewählten Ort vis-à-vis einer erzwungenen Bewegung seitens migrationspolitischer Maßnahmen.

Die italienische Migrationspolitik erwies sich in diesem Kontext als eine unstete, geradezu mobile – auch im Sinne einer durchlässigen – Staatsräson. Als Konsequenz von diesem, je nach Bedarf variierenden Umgang der italienischen Politik mit Migration wird eine willkürliche Ein- und Ausschaltung der Schengen-Grenzen praktiziert (vgl. Garelli 2013) und gleichzeitig die ›Notwendigkeit‹ der Grenzen im Rahmen eines scheinbar freien Verkehrs untermauert.

Der humanitäre Charakter italienischer Interventionen im Rahmen von Emergenza Nordafrica wurde damit begründet, dass ein außergewöhnliches Management zur Bewahrung der Menschenrechte von Migrant_innen notwendigerweise erforderlich sei. Hier setzt sich einerseits die Staatssouveränität durch (vgl. Nyers 2006), andererseits zog sich Italien aus seiner souveränen Verantwortung zurück, indem es Menschen implizit abschob, da durch diese Maßnahme keine Abschiebung von Asylsuchenden in die Herkunftsländer erfolgte, sondern eine Wegmobilisierung aus dem eigenen Territorium hin zu einem anderen EU-Staat, die eine temporäre Souveränitätsabgabe in puncto Asyl bedeutete. Im Kontext der von der Regel abweichenden Passausstellung für die über Italien bereits in Deutschland angekommenen ›Lampedusa-Flüchtlinge‹ äußerte sich die italienische Botschaft im Mai 2013 wie folgt:

»Sofern der Ausländer im Besitz einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung ist und die im Art. 5 des Übereinkommens von Schengen vorgesehenen Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen erfüllt, kann er selbstverständlich reisen und drei Monate lang in der Bundesrepublik ebenso wie in einem anderen Mitgliedsstaat bleiben. Nach Ablauf dieser Zeit müssen die deutschen Behörden ihn nach Italien zurückschicken« (Ministero dell’Interno 2013).2

Hier rechtfertigt sich die italienische Regierung durch die Erklärung, Italien befände sich in einer »schwierigen Notsituation im Bereich der Zuwanderung« (ebd.), in der es erlaubt sei, die eigene Souveränität über das Asyl- und Migrationsmanagement abzugeben. Der Trend, Migrant_innen aus humanitären Gründen mit Papieren auszustatten (hier im Kontext einer proklamierten Notstandslage), ihnen legalisierten formellen Schutz anzuerkennen, der aber kein gesichertes Leben oder Aufnahmekonditionen garantiert, galt als übliche Praxis der italienischen Migrationspolitik. Schutzpapiere bedeuteten in diesem Kontext nicht immer automatisch die tatsächliche soziale und politische Anerkennung migrantischer Präsenz und migrantischer Rechte. Gleichzeitig ist die Wegmobilisierung ein Mittel für Migrant_innen, sich weiter zu bewegen und zu organisieren. Picozza verdeutlicht, dass die Hypermobilisierung von Asylsuchenden eine inhärente Kondition von Asyl in Europa sei, die sowohl das migrantische Leben durch das ständige In-Bewegung-Bleiben prekär hält, als auch einen Raum für die eigenständige Mobilisierung und Neulokalisierung migrantischer Präsenz in der EU eröffnet (vgl. Picozza 2017), was eine räumliche Umorientierung nationalstaatlicher Strukturen und den Aufbau solidarischer Gemeinschaften in Zufluchtsstädten hervorruft. Bezüglich der Neulokalisierung von migrantischem Aktivismus spricht die kanadische Wissenschaftlerin Jenny Burman von einem politischen Prozess des »emplacement« (Burman 2006: 282), der ein (diasporisches) Zusammentreffen mit lokalen Bürger_innen hervorbringt. Infolgedessen formiert sich eine kollektiv-aktivistische Form des ›Wir‹ (wie z. B. in der Verwendung des Statements ›donnez-nous nos papiers‹) (Benigni/Pierdicca 2014:36).

Dieses Wir

»changes the usual channels of nation-state-based community building and thus challenges the preexisting conduits of circulation. This version of ›us‹ displaces the hegemonic articulation of global to local spaces […] and makes visible the city as a node of differential temporalities and asymmetric orientations to the nation« (ibid.: 288).

Herrschaftsdynamiken generieren Selbstakte der Citizenship und Solidarität und somit neue territoriale Interdependenzen, die Praktiken und Normen einer neoliberalen, als institutionalisierte Währungsrelation konzipierten Mobilität entgegenstehen (vgl. Aradau et al. 2010).

Innerhalb dieser hypermobilisierenden Asyl-Dynamik scheint es, dass – während sich südeuropäische Staaten an den EU-Grenzen als Transitländer verstehen, d.h. als Orte, an denen Migrant_innen nur temporär verweilen sollen – nordeuropäische EU-Länder wie Deutschland und Frankreich versuchen, Migrant_innen so lang wie möglich an den südlichen Grenzen zu ›immobilisieren‹. Mobilisierungsmaßnahmen des Migrationsmanagements lassen sich jedoch nicht nur im Fall des italienischen Staates erkennen. Die Kontingenz der Regulierung der Migration durch EU-Staaten zeigte sich auch im Laufe weiterer Maßnahmen der EU-Asylpolitik. Hier ist der Sommer der Migration im Jahr 2015 besonders wichtig, um das EU-Management der Migration als umstrittenen politischen Raum zu begreifen, in dem staatliche und supranationale Interessen und Konflikte zusammenkommen (vgl. Picozza 2017). Die temporäre Aussetzung von Dublin-Verfahren in Deutschland für Geflüchtete aus Syrien im Sommer 2015 hat verstärkt gezeigt, inwieweit sich eine Mobilitätskontrolle weniger auf eine dauerhafte Verfestigung staatlicher bzw. EU-Grenzen, sondern eher auf ein gezieltes kontextabhängiges Management menschlicher Bewegungen konzentriert. Es handelt sich um ein poröses Mobilitätssystem (vgl. Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008), das durch ein temporäres ›Auf- und Zumachen‹ der Grenzen bzw. ein Ein- und Aussetzen des Dublin-Verfahrens charakterisiert ist. Diese flexible Mobilisierung erschafft vorübergehend freie Korridore unter bestimmten Bedingungen: Es werden Routen geschaffen, die nur für bestimmte Migrant_innenkategorien überhaupt existieren – beispielsweise für die Lampedusa-Geflüchteten aus Libyen im Rahmen des ›Notstand Nordafrika‹ im Jahr 2013, aber auch für syrische Kriegsflüchtlinge im Fall der vorübergehenden Aufhebung von Dublin-III im Jahr 2015 – und/oder nur innerhalb bestimmter Zeitfenster Gestalt annehmen (vgl. Tazzioli 2015).

Mit dem Ansatz eines mobilisierenden Migrationsmanagements könnte demnach auch der Fall der temporären Aufhebung von Dublin-III im Kontext des Syrien-Krieges analysiert werden, wie sie vom deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Sommer 2015 erlassen wurde. Die Dublin-Verordnung sieht die Möglichkeit vor, dass ein Mitgliedsstaat die sogenannte ›sovereignty clause‹ benutzen darf, um die Verantwortung für Asylanträge zu übernehmen, für die dieser Staat in der Regel unter den Kriterien der Regulierung nicht verantwortlich wäre (vgl. AIDA 2015). In Folge dessen wurden Geflüchtete aus syrischen Kriegsgebieten vorübergehend innerhalb einiger, von der Dublin-Regelung befreiter Routen kanalisiert, also beweglich gemacht. So wurden temporär zwischenstaatliche Grenzen geöffnet, ›freie‹ Korridore quer durch nationale, europäische und außereuropäische Räume geschaffen und das räumliche Mobil-Sein für bestimmte Gruppen von Geflüchteten für begrenzte Zeit ad-hoc gesteuert.

Während der Phase der offenen Grenzen vom Balkan-Korridor bis nach Skandinavien haben sich ebenfalls verantwortungsentziehende Praxen verzeichnen lassen, so Picozza:

»most efforts to ›control‹ were directed towards filtering rather than excluding. Moreover, during that period, practices such as fingerprinting and photo-identification were more performative than actual policing practices. This means that, in that period, Germany was enacting the same ›tacit alliance‹ with undocumented migrants which Bernd Kasparek (2015: 75) has described in the case of Italy, Greece and Hungary – that is to say, an actual practice of laissez-passer of asylum seekers without fingerprinting them« (Picozza 2017; Herv. i.O.).

Um die Praxis der Erweiterung des Schengen-Raums in Länder, die nicht Teil der Europäischen Union sind, zu beschreiben, spricht Enrica Rigo von einer deterritorialisierten staatlichen Souveranität (vgl. Rigo 2005). Rigo verdeutlicht:

»the European multilevel approach to migration appears also to include an informal level which is not at odds, but is indeed consistent, with the massive illegalization of human mobility within and beyond the perimeter of the European Union« (ibid.: 206).

In Anlehnung an die Thesen Rigos über die Erweiterung und Vermehrung der Grenzen ist im Kontext ihrer temporären Öffnung und der temporären Suspendierung der üblichen EU-Asylverordnungen im Sommer 2015 eine mobilisierende Strategie zu erkennen, die in der Praxis versucht, die räumliche Mobilität der Migrant_innen zu steuern. Durch diese Strategie wird die deutsche Souveränität – wenn auch in anderer Art und Weise – deterritorialisiert.

Auch wenn es sich hier nicht um eine implizite Verantwortungsabgabe wie im Fall der italienischen Wegmobilisierung handelte, wurde die Aufhebung der Dublin-III-Regelung in dem Bestreben unternommen, die freie Mobilität von Migrant_innen zu kontrollieren, sie innerhalb vorgegebener Routen zu kanalisieren, sowie sie nur bestimmten Gruppen vorübergehend zu gewähren. Auch in diesem Fall lässt sich die Migrationspolitik der Europäischen Union als ein Management von Ausnahmen erkennen, ein mobiles Regime von improvisierten Maßnahmen sowie flexibler Souveränität, das quer durch den EU-Raum (und über ihn hinaus) verläuft. Es handelt sich um eine adaptierende Form der Souveränität, die auf die Bewegungen von Menschen reagiert und nicht primär auf das EU-Territorium oder auf das staatliche Territorium ausgerichtet ist. Der EU-Raum scheint somit von nicht-territorialen (B)Ordering-Prozessen formiert, wodurch Mobilitätspraktiken segmentiert, kanalisiert, verfolgt oder aufgehalten werden (vgl. Tazzioli 2015).

Die räumliche Mobilität des Konzeptes Wegmobilisieren bedeutet nicht, dass Menschen frei mobil werden. Vielmehr zeigen sich durch diese wegmobilisierenden Beispiele unterschiedliche Positionierungen und Bedeutungen des ›Mobil-Seins‹ innerhalb der EU: Wenn es sich um wohlhabende Schichten handelt, die sich aufgrund höherer oder gewünschter Arbeitschancen, Selbstverwirklichung und besserer Lebensqualität zu einem Wunschort bewegen, gilt territoriale Mobilität als eine freie, selbstbewusste Entscheidung des Individuums und geht mit der Wahrnehmung einer globalen, flexiblen und mobilen Gesellschaft einher. Wenn es sich um die räumliche Mobilität von Migrant_innen handelt, die nicht unter die Kategorie hochqualifizierter Arbeitskräfte fallen oder nicht als europäisch (genug) kategorisiert werden (vgl. Hall 1996), wird diese nicht mehr als individuell charakterisiert. Die Bewegungsfreiheit wohlhabender Gesellschaftsschichten lässt sich in dieser Hinsicht nicht unabhängig von einem europäischen Regime kontrollierter Mobilität nachvollziehen. Migrant_innen werden einem permanent prekären ›Bewegungszustand‹ ausgesetzt, der politisch-ökonomisch den Effekt hat, sie zwischen nationalstaatlichen Grenzen zirkulieren zu lassen, ohne ihnen dabei jedoch ein eigenständiges Bewegungsrecht zuzugestehen.

In der EU-Flüchtlingsdebatte im Laufe des Jahres 2015 wurde die (Il-)Legitimität von Mobilitätsgründen politisch und medial bewertet und kategorisiert. Während Werbung für Deutschland als begehrtes Einwanderungsland für Hochqualifizierte als eine der Aufgaben der Regierung verstanden wird (vgl. Haerder 2015), gilt die Migration von als ›arm‹ wahrgenommenen Menschen als nicht legitim. Beispielsweise haben sich in eine Unterscheidung von Flüchtlingen, die aufgrund von Krieg und Verfolgung fliehen, und jenen, die sich aus anderen Gründen für Migration entscheiden, abwertende Begriffe wie ›Wirtschaftsflüchtling‹ in der Öffentlichkeit durchgesetzt, die anhand pejorativer Markierungen einen Missbrauch des Rechts auf Asyl unterstellen und explizit machen, dass nur jene Menschen bleiben dürfen, die nicht aufgrund der Suche nach Arbeit oder nach einem besseren Leben migriert sind (vgl. Bollmann 2015). Die mediale Betonung einer ›Flüchtlingskrise‹ oder ›Völkerwanderung‹ (vgl. Veser 2015) hat ab dem Frühjahr 2015 die politische und soziale Wahrnehmung verstärkt, dass angesichts einer großen Zahl migrierender Menschen Aufnahmekapazitäten fehlen würden und dass in Krisenzeiten Aufenthalt nur für diejenigen gewährt werden solle, die ›wirklich‹ Asyl brauchen. Im Fall bereits ansässiger, legalisierter Migrant_innen verlangt ein schon etablierter Integrationsimperativ (vgl. Bojadžijev 2008) zunächst ebenfalls Immobilität, hier in Form eines dauerhaften Wohnsitzes innerhalb eines Nationalstaats, um sich an mehrheitsgesellschaftliche Werte – wie u.a. Sesshaftigkeit und mononationale Staatsbürgerschaft – anzupassen. Hier scheint es, als stünde das räumliche Mobil-Sein des neoliberalen Subjekts am Ende einer erfolgreichen Migrationsgeschichte.

Europa mobilisieren

Wie oben erwähnt, zeigen grenzpolitische Strategien im Kontext der 2013 von Italien proklamierten Emergenza Nordafrica eine Praxis des Wegmobilisierens auf, d. h. eine staatliche Praxis der impliziten, ›zwangslosen Abschiebung‹ von Geflüchteten aus dem italienischen Territorium in andere EU-Räume. Wegmobilisieren lässt sich als ein situatives, ad-hoc improvisiertes Management von Migrationsbewegungen auffassen, in dessen Zuge Dublin-Regelungen temporär ausgesetzt und Migrant_innen dazu aufgefordert werden, sich weiter (weg aus dem italienischen Territorium) zu bewegen. Schließlich plädiert die Analyse dafür, den Begriff des Migrationsregimes kritisch und auf mehrere Perspektiven und Dimensionen der Migration hin anzuwenden, und in Anlehnung an ein mobilisierendes EU-Migrationsmanagement staatliche Praktiken nicht als von vornerein gegeben zu begreifen, sondern als situative (ebenfalls ›mobile‹) Antworten der Migrationsregime auf die dynamischen Elemente und Prozesse, die von der Präsenz der Migration in EU-Räumen verursacht werden, zu verstehen. Eine Politik des ›Governing Exceptions‹, nach der die staatliche Souveränität sich eher als Managing von Bewegungen denn als territoriale Verantwortung zeigt (vgl. Tazzioli 2015).

Insbesondere der Aspekt der Ausübung staatlicher Souveränität scheint ein zentraler Ausgangspunkt für weitere Reflexionen angesichts der aktuellen Entwicklungen des italienischen Migrationsregimes zu sein. Das Thema staatlicher Souveränitätsausübung richtet sich hier neu aus und wirkt polarisierend in Bezug auf das EU-Migrationsmanagement. Die Praxis einer impliziten Abschiebung, die sich im Kontext der Emergenza Nordafrica als Wegmobilisierung beschreiben ließ, wandelt sich in jüngsten Fällen, wie der Weigerung seitens des italienischen Innenministers Matteo Salvinis, Migrant_innen des Rettungsschiffes Diciotti am Hafen von Catania von Bord gehen zu lassen, in eine zeitliche und räumliche Immobilität zu politisch-polarisierenden Zwecken. Der Zwangscharakter der temporären Maßnahme wurde 2013 im Fall vom Emergenza Nordafrica von staatlicher Seite als humanitäre Notmaßnahme proklamiert. Im Fall der Weigerung im Sommer 2018, Migrant_innen aus dem Rettungsschiff Diciotti an Land zu lassen, verschwindet das humanitäre Begründungselement. Die Weigerung wird zu einem arbiträren menschenrechtsverletzenden Akt von Machtausübung, der Migrant_innen aus dem italienischen Territorium weg halten will, ohne Rücksicht auf deren Menschenrecht auf Asylgesuch.

Die vorangegangene Analyse zur Webmobilisierung deutet auf unterschiedliche Positionen bezüglich der Souveränität Italiens und Deutschlands hin, im Rahmen derer Zuständigkeiten für die Asylanträge von Geflüchteten zwischen den EU-Grenzen hin und her geschoben werden. Mit den hier beschriebenen neueren Entwicklungen verschiebt sich die Praxis einer staatlich verursachten Hypermobilisierung allerdings erneut. Die nationale Souveränität, die mit der das An-Land-Gehen verhindernden Maßnahme vom italienischen Staat proklamiert wird, findet politische Unterstützung quer durch die EU-Staaten und verwandelt sich in eine Zwangsmobilisierung. Die jüngsten Migrationspolitiken in Ungarn, Österreich und Italien polarisieren die europäische Migrationspolitik, indem sie sich auf EU-Ebene verbinden und als Verfechter_innen einer rechtsextremen und anti-migrantischen EU auftreten. In dieser Hinsicht werden nicht nur die eigenen staatlich-nationalen Grenzen zugemacht, sondern gleichzeitig eine supranationale Souveränität in Form eines Grenzregimes des Rechtextremismus neu konzertiert.

Wissenschaftlich-aktivistische Ansätze aus der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung haben gezeigt, wie das EU-Management der Migration in dem Bestreben, Migration zu steuern, eine exterritorialisierte Souveränität vorantreibt, d.h. eine progressive Externalisierung der Grenzen außerhalb des EU-Raumes (vgl. Rigo 2005; Schulze Wessel 2016; Cuttitta 2018). Die zwischenstaatlichen Abkommen zwischen Italien und Libyen (2008, 2012 und 2017), aber auch das Abkommen Deutschland-Türkei im Jahr 2016, weisen auf eine Ausdehnung der europäischen Grenzen außerhalb des eigenen geographischen Territoriums auf. Die politische Topographie des Grenzregimes ›bewegt‹ sich, variiert zeitlich und räumlich. In Anlehnung an Martina Tazzioli: »a patchy Europe emerges from the spatial effects of the array of policies for governing mobility (politics of externalization, Neighbourhood Policies, new detention zones and mechanisms of remote control) in an attempt to counterbalance the erratic presence of migrants« (Tazzioli 2015; Herv. i.O.). Die Einführung von Hotspots schafft EU-Grenzorte innerhalb der Nationalstaaten, Orte, an denen Migrant_innen nach dem Ankommen in erster Linie identifiziert werden sollen. Gleichzeitig bewirkt die Anwesenheit von EU-Offizieren von Frontex, Europol oder EASO, dass Hotspots als Raum des EU-Monitorings in südeuropäischen Staaten wie Italien und Griechenland fungieren, um deren Verfahren zu überwachen (zum Beispiel, um sicher zu stellen, dass Fingerabdrücke registriert werden), mit der Intention, Migrant_innen nach EU-Verordnungen zu verteilen. Als EU-Grenzräume brechen Hotspots in die staatliche Souveränität ein:

»The hotspots constitute the inverse image of the offshore processing centres at the pre-frontiers of Europe, being, in fact, EU zones of control internal to member states. More than the Europeanisation of migration controls, the Hotspot System has marked a substantial irruption of the European Union, via EU agencies, into Greece and Italy’s sovereignty in the field of identification procedures« (Tazzioli 2017: 12).

Der Hotspot als EU-proklamierte Maßnahme, Grenzstaaten zu helfen, deren ›humanitäre Last zu mindern‹ (vgl. ebd.) mündet de facto in einer Souveränitätsausübung seitens der EU, die darauf abzielt, Migrant_innen, aber auch südeuropäische Grenzstaaten zu kontrollieren, und abzusichern, dass EU-Verordnungen wie Registrierung und Containment implementiert werden.

In diesem Kontext generiert sich ein erneuter Souveränitätskonflikt zwischen der EU als supranationaler Kontrollinstitution und Italien als EU-Staat an der südlichen Schengen-Grenze. Die menschenrechtsverletzende Weigerung seitens Italiens, Migrant_innen von Bord des Rettungsschiffes Diciotti am Hafen von Catania auf dem Festland aussteigen zu lassen, deutet auf einen Missbrauch eigener politischer (Souveränitäts-)Macht hin, die über die Wegmobilisierung hinaus geht und tout court auf eine Zwangsmobilisierung von Migrant_innen aus dem italienischen Territorium zielt. Bevor er die Menschen auf das Festland lasse, wolle der Innenminister Salvini genau wissen, in welchen Maßen die Migrant_innen innerhalb der EU verteilt werden. Die informelle Praxis des Wegmobilisierens, wie sie 2013 üblich war, wird hier mit der expliziten Forderung nach Absicherung ersetzt, dass die Angekommenen nicht in Italien bleiben, sondern unverzüglich wegmobilisiert, letztendlich zwangsmobilisiert werden.

Gleichzeitig hat Italien den Beitritt ins EU-Festland der Migrant_innen von vornherein verweigert, entgegen nationaler sowie supranationaler gesetzlicher Vorgaben und menschenrechtlicher Grundprinzipien, mit dem Ziel, nationalstaatlicher Souveränität auf italienischem Territorium Vorrang zu geben. Differierende Positionierungen innerhalb der EU in Bezug auf das Management der Migration geben Anlass, über eine postnationale, nicht-territoriale Souveränität nachzudenken, die sich verstärkt mit einem improvisierten Regieren oder temporärer Verweigerung der Migration verbinden lässt. Die Politik der Migration seitens der italienischen Regierung hat Züge einer propagandistischen Verweigerung angenommen, die darauf abzielt, totalitäre Grenzpolitiken auf EU-Ebene zu verstärken und das Recht auf Flucht sowie Fluchthilfe und Seenotrettung zu kriminalisieren (vgl. Euronomade 2018).

Spätestens seit 2017 ist in diesem Zuge der (von ›Souveränität‹ zu unterscheidende) Neologismus Sovranismo (Souveränismus) durch die Verwendung italienischer Medien gängig geworden. Sovranismo bedeutet eine Politik der Verteidigung oder Reklamierung bzw. Zurückforderung von nationaler Souveränität seitens eines Staates, im Gegensatz zu globalisierenden sowie supranationalen Politiken (vgl. Treccani 2017). Souveränismus deutet auf zunehmend rechtsextreme und antimigrantische Tendenzen hin und findet seine politischen Vertreter_innen beim italienischen Innenminister Matteo Salvini, aber auch in dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán oder dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, die sich ähnlicher Argumentationslinien bedienen. Souveränismus geht mit einer explizit proklamierten Verweigerung der Aufnahme von Migrant_innen und einer scharfen Kritik an EU-Politik einher. Durch das Anstreben, nationale Souveränität zu affirmieren, konnotieren souveränistische Politiken einen neuen supranationalen EU-Raum der Rechten, eine polarisierende Front rechtsextremistischer Strömungen, die sich internationalisiert und quer durch die EU (sowie außerhalb des EU-Raums) vereint. Die Politiken fokussieren nicht das Ziel, aus der EU auszutreten, um nationalstaatliche Souveränität zu etablieren, sondern Europa rechtspopulistisch zu radikalisieren und grundlegend abzuschotten.3

In diesem Zuge lässt sich eine Topographie der Zwangsmobilisierung erkennen. Im Rahmen des Diciotti-Falls wurden Migrant_innen ›immobilisiert‹ bevor sie aufs EU-Festland kommen konnten. Die von Salvini vertretene Politik verzeichnet eine Verschiebung von Wegmobilisierungs-Strategien hin zu einem offen proklamierten Ziel der Zwangsmobilisierung in andere (innere) EU-Räume. Dies vermag eine Reaktion einer nationalen rechtspopulistischen Regierung auf EU-Asylverordnungen sein, ist aber nicht nur als auf eine rechtextremistische nationalistische Entwicklung Italiens beschränkt zu verstehen. Salvinis Propaganda, die sich auf Zwangsmobilisierung stützt, sollte auch im Spannungsfeld des EU-Asylregimes kontextualisiert werden. Die jüngsten Entwicklungen des EU-Migrationsregimes – insbesondere seit dem Bootsunglück vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 – zeigen eine progressive Verschiebung auf »from an age of humanitarian reason to an age of securitarian order« (Fassin 2018). Dies geht mit der Kriminalisierung humanitärer Praktiken der Seenotrettung seitens NGOs, dem Nicht-Respektieren von Menschenrechten und der Externalisierung der Grenzen z.B. nach Libyen einher. Die politische Entscheidung darüber, welche Bewegungen innerhalb des EU-Territoriums als legitim – und frei – gelten und welche Bewegungen als ›illegal‹ und sogar bedrohlich für die Freiheit anderer einzustufen sind, ist genau das, was Souveränität ausmacht (vgl. Mbembe 2018) und was die rechtsextreme Politik des heutigen EU-Souveränismus als nationalistisch-rassistischer Diskurs verwendet. Die zwei Bewegungen sind interdependent und Teil der gleichen Dynamik der selektiven Inklusion/Exklusion: Die freie Bewegung von EU-Citizens als Bestandteil einer konstitutiven Freiheit und die illegalisierte Bewegung von nicht EU-Citizens, die zu filtern und zu regulieren ist, sodass das staatliche Territorium ›sicher‹ bleibt:

»Within this framework of managed mobility, certain categories of the population are constantly seen as posing a threat, not only to themselves and to their own security, but also to others‘ security. Such a threat, it is thought, can be diminished if their movements are confined and if they are domesticated and subject to some type of reform« (Mbembe 2018).

Am Beispiel des Kameruner Personalausweises, der bis Anfang der 1980er Bewegungsfreiheit zwischen Kamerun und Frankreich erlaubte, erwähnt Mbembe, wie die offene Grenze zwischen den beiden Ländern zirkulare Bewegung aktivierte: Menschen aus Kamerun gingen nach Frankreich und kehrten zurück: »most people want to live where they ›belong‹. But they want to be able to come and go. And they are more likely to come and go when the border is not hermetically closed« (ebd.). Während freie Bewegung und zirkuläre Migration konstitutiv für soziale und wirtschaftliche Beziehungen zwischen zwei Nationalstaaten sind, verursacht das Regime der Grenzen hingegen ein asymmetrisches Machtverhältnis, das eine Prekarisierung der Lebensumstände, Diskriminierung und Hypermobilisierung für diejenigen, denen es nicht erlaubt ist, diese zu durchqueren, nach sich zieht. Eine Politik der offenen Grenzen würde in diesem Sinn bedeuten, so Mbembe, dass Sicherheit und Freiheit nicht mehr durch das Recht auf Exklusion und Diskriminierung definiert und dass Bewegungsfreiheit sich radikal auf alle Menschen erstrecken würde (vgl. ebd.). Der hypermobile Zustand der Geflüchteten, der aus zwangsmobilisierenden Maßnahmen resultiert, kann in Anlehnung an Fassin, Wilhelm-Solomon und Segatti als Lebensform des Migrations- und Asylregimes angesehen werden:

»This form of life is shaped, as Giorgio Agamben suggests, by rules that situate people on one side or the other of the law, thus obliging them to display complex reactions of adaptation, resistance, and resilience, whereas, in the end, these rules are themselves partly unpredictable in their application and indeterminate in their effects« (Fassin/Wilhelm-Solomon/Segatti 2017: 176).

Im Kontext der Wegmobilisierung seitens der Politiken im Rahmen des Notstand Nordafrika 2013 ist es umso bedeutender, dass sich die Gruppe Lampedusa in Hamburg in ihrer politischen Mobilisierung oft auf ein ›Recht zu bleiben‹ berufen hat (Lampedusa in Hamburg 2013), was als ein Appell gelesen werden könnte, an einem gewählten Ort bleiben zu können, der sich gegen einen hypermobilisierten Zustand wendet. Diese politics of movement entsprechen dem Bedürfnis nach Bewegungsfreiheiten, nach einem ›Recht zur Flucht‹, aber auch nach einem ›Recht zu bleiben‹.4 Auch gegenwärtig, im Fall von Sanctuary Cities in den USA oder im Fall von solidarischen Städten und Kommunen in Europa zeigen sich politisch-aktivistische Mobilisierungsstrategien, die sich gegen Zwangsmobilisierungen und Immobilisierungen wenden. Politische Mobilisierungen positionieren sich gegen und bewegen sich quer durch das Mobilitätsmanagement. Der supranationalisierten, anti-migrantischen EU stehen politische und solidarische Bewegungen ›von unten‹ in lokalen Räumen, Städten und Grenzorten gegenüber. Es generiert sich eine vermehrte Logistik des Widerstands, die sich aus den lokalen Kämpfen der Organisationen, Vereine und Netzwerke gegen rechtextremistische und rassistische Migrationspolitiken entwickeln (vgl. Euronomade 2018). Diese Kämpfe und Erfahrungen definieren einen autonomen und heterogenen Raum, der sich von Stadt zu Stadt, von Grenzort zu Grenzort verbindet, sich quer durch Europa erstreckt, und politische Solidarität vorantreibt. Das Recht, zwischen Staaten zu zirkulieren, sowie das Recht zu bleiben stehen den hier beschrieben Praktiken des Wegmobilisierens bzw. Zwangsmobilisierens als entschiedene Gegenbewegungen entgegen.

Der vorliegende Beitrag basiert auf dem zusammen mit Federica Benigni verfassten Artikel »Keep moving! Strategien der Wegmobilisierung als Teil des italienischen Migrationsmanagements« (Benigni/Pierdicca 2016). Teile des Artikels wurden mit Erlaubnis des TRANSIT Journals hier wiederverwendet.

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  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Marika Pierdicca ist politische Anthropologin und promovierte 2021 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin über Integrationsregime in der Arbeitswelt. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören Migration, differentielle Inklusion und Rassifizierung in neoliberalen Arbeitsverhältnissen sowie Subjektivierungsprozesse.