Abstract In this article, the authors present results of research on labor relations in the tourism sector on the Greek island of Crete and in the German capital Berlin. In both places, EU mobility regimes and labor migration intertwine within a constellation of crisis, and specific practices and strategies of migration and migrant labor are observable. Building on the theoretical examination of differential inclusion, perspectives on tourism and approaches to citizenship, the authors state a “Europeanization from below”. This develops past elitist community-building processes or invoking, form-giving structures and policies. It occurs as a self-empowering practice, in which, however, new forms of exploitation in the course of a (self-)precarization are also recognizable. These lead to an increasing blurring of the boundaries between the categories of mobility/stay and work/tourism.
Keywords Migration, europeanization, tourism, mobile labor, differential inclusion, fieldwork
Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 markiert auch eine Zäsur im EU-europäischen Raum. Neben den globalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen waren die Folgen der Krise innerhalb der Europäischen Union vor allem im sogenannten ›krisenhaften Süden und Osten‹ zu spüren (vgl. Gardó/Reiner 2010; Verney 2009). Die von der EU eingeforderte Austeritätspolitik und daraus folgende Sparmaßnahmen hatten einschneidende Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Sozialsysteme und damit auf den Alltag der Bevölkerungen (vgl. Papagiannopoulos/Agridopoulos 2016). Dadurch vertieften sich die Wohlstandsasymmetrien innerhalb der Europäischen Union (vgl. Verney 2009: 1). Im Zuge dieser Entwicklungen ist eine Konjunktur von innereuropäischen Binnenmigrationen aus den südlichen und östlichen EU-Krisenländern – insbesondere Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Spanien – nach Deutschland zu verzeichnen (vgl. Labusch 2015; Liebig 2018).
Parallel zu diesem Prozess verdichtete sich das Infrastrukturnetz sogenannter Billigfluglinien, die zwischen 2008 und 2018 die Zahl ihrer jährlichen Passagiere von 225 Millionen auf 502 Millionen verdoppelten (vgl. ANNA 2018). Dabei kristallisieren sich insbesondere zwei sich überlappende Netzwerke heraus: zum einen die Verbindung zwischen nördlichen Großstädten und touristischen Zentren, zum anderen werden Knotenpunkte entlang der Route der Arbeitsmigrationen zwischen Ost und West miteinander verbunden. Es sind vor allem osteuropäische Staaten wie die Slowakei, Ungarn, die baltischen Staaten und Polen, in denen diese Fluglinien durch ihre Anbindungen an den europäischen Westen ganz neue Formen der Arbeitsmigrationen ermöglichen (vgl. Jankiewicz/Huderek-Glapska 2016: 56). So hat sich zunehmend ein EU-europäischer Raum herausgebildet, in dem die verschiedenen EU-internen Mobilitäten und Migrationen differenziell geschichtet und hierarchisiert sind, was einer Multiplikation von Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen Vorschub leistet. Somit entstanden neue Grenzen und Differenzen, die es zu analysieren gilt.
EU-Binnenmigration als prekäres Privileg
Ausgehend von den Auswirkungen der Finanz- und Schuldenkrise 2008 nimmt der vorliegende Text die Konjunktur der EU-Binnenmigration von Griechenland nach Berlin in den Blick.1 Mitten in den fortlaufenden Aushandlungen um eine makropolitische Konsolidierung untersuchten wir 2014/15 alltägliche Praktiken der innereuropäischen Krisenbewältigung an der Schwelle zwischen Tourismus, Migration und Gastro-Ökonomie sowie die Verflechtungsgeschichten in einer Kontinuität von Arbeitsmigrationen zwischen Griechenland und Berlin.
Fokussiert werden die Trajekte, Motivationen und Strategien vor allem junger, gut ausgebildeter Griech_innen. Uns interessierten ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse vor dem Hintergrund der häufigen diskursiven Verweise auf die Bedeutung der Finanzkrise und die damit verbundene Abwanderung junger akademischer Arbeitskräfte aus dem Süden Europas Richtung Norden (vgl. Drossou/Brilling/Paschali: 2012; Gkolfinopoulos 2016). Unsere Untersuchung konzentrierte sich auf in der Regel als privilegiert betrachtete Migrant_innen, die in Berlin versuchten, den krisenbedingt schwierigen und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen in Griechenland zu entkommen. Privilegiert sind sie in einem doppelten Sinne: zum einen konnten sie sich als EU-Bürger_innen innerhalb der EU frei bewegen, zum anderen waren sie aufgrund ihrer zumeist hohen beruflichen und akademischen Qualifikationen in der sozio-kulturellen Mittel- und Oberschicht verortet. Während unserer Forschung stellten wir jedoch fest, dass innerhalb dieser Gruppe starke Unterschiede existierten. Während lediglich ein kleiner Teil der jungen, gut ausgebildeten Griech_innen in Berlin eine ihrer Ausbildung entsprechende Arbeit gefunden hatte, begegneten wir vielen, die ihr Auskommen nur durch informelle Arbeit in der Gastronomie sichern konnten. Auch wenn die zumeist sehr prekären Arbeits- und Wohnbedingungen nur als Übergang in geregelte Verhältnisse hingenommen wurden, beschrieben unsere Interviewpartner_innen ihre Migration oft als frei- und selbstgewählte Projekte der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung.
Theoretischer und methodischer Zugang
In der kritischen Migrationsforschung spielen binneneuropäische Mobilitäten eine untergeordnete Rolle, da sich der größte Teil der Untersuchungen mit dem EU-Grenzregime und der Illegalisierung von Migrant_innen auseinandersetzt (vgl. Hess et al. 2016).2 Für die Binnenmigration stellt Adrian Favell bereits 2008 in seinem Buch »Eurostars and Eurocities« (Favell 2008) fest, dass die Zahl mobiler innereuropäischer Arbeitnehmer_innen trotz rechtlicher Freiheiten überraschend gering sei. Er untersucht die strukturellen Schwierigkeiten solcher Migrationsprojekte. Entgegen der vermeintlich rechtlich gleichberechtigten Stellung der EU-Staatsbürger_innen – im Gegensatz zu Drittstaatler_innen – lässt sich ein stratifizierter Zugang zu Lebens- und Arbeitsbedingungen feststellen (vgl. Mohr 2005). Lisa Riedner hat in ihrer Forschung gezeigt, dass sich in diesen Fällen die Grenzkontrolle in die Behörden des staatlichen Sozialsystems verlagert (vgl. Riedner 2017: 105). Mit den durch die Krise verstärkten innereuropäischen Bewegungsdynamiken hat sich diese Situation weiter zugespitzt (vgl. Benton/Petrovic 2013).
Ausgehend von der Perspektive der ›Autonomie der Migration‹3 (vgl. Mezzadra 2010) nimmt sich dieser Text vor, Aspekte der Konzepte der ›differentiellen Inklusion‹ (vgl. Mezzadra/Neilson 2008) und der ›acts of citizenship‹ (vgl. Isin/Nielson 2008) auf die EU-Binnenmigration anzuwenden. Wir plädieren für eine Erweiterung dieser Ansätze und blicken auf alltägliche Lebensrealitäten von EU-Migrant_innen, die ein differenziertes Bild zeichnen. Damit orientieren wir uns am Desiderat einer kritischen Wissensproduktion »zur Lebenssituation, zu Netzwerken, Motivationen, Barrieren und Diskriminierungen von EU-Migrant_innen« (Schoenes/Schultes 2014: 37), um Einschlüsse, Ausschlüsse und aktuelle Veränderungen im Migrationsregime herauszuarbeiten sowie auf die Praktiken dieser Migrant_innen zu blicken.
Das Konzept der differentiellen Inklusion fasst einen Perspektivwechsel in der Betrachtung gesellschaftlicher Zusammenhänge und dem Wirken der inhärenten Mobilitäts- und Grenzregime. So lässt sich konstatieren, dass Migration nicht gänzlich geblockt und aufgehalten, sondern selektiv und hierarchisiert einbezogen wird. Heimeshoff et al. stellen mit Bezug auf die europäische Außengrenze fest: »Die Grenze ist also eine selektierende und kategorisierende Hierarchisierungsinstitution. Damit wird auch ihre Porosität nicht als Krise und Versagen, sondern als kalkulierte Norm verstehbar« (Heimeshoff et al. 2014: 17). Dies beruht auf zwei koexistenten Ursachen: zum einen auf der den Migrationsbewegungen innewohnenden Autonomie, die sich in ihrer Beharrlichkeit den vorherrschenden Kontrollmechanismen und Abschottungsversuchen entziehen, diese unterlaufen oder ins Leere greifen lassen kann. Migration ist demnach kein beliebig steuerbares Objekt, sondern aktiv handelnder Akteur. Sie ruft mit ihrer stetigen, dynamischen Präsenz Reaktionen hervor und führt zu einer fortlaufenden Auseinandersetzung der Gesellschaft mit ihrem Selbstverständnis. Zum anderen handelt es sich hier um den aus einer kapitalistischen Verwertungslogik entspringenden Bedarf an ›Humankapital‹, der mittels mobiler illegalisierter Subjekte und rechtlich anerkannter Migrant_innen bedient wird. Die Ware Arbeitskraft haftet an den lebendigen Körpern, sie bleibt auch in einer postfordistischen Moderne unersetzbarer Bestandteil des Wirtschaftssystems. Mezzadra fasst deshalb unter der differentiellen Inklusion Prozesse »selektive[r] Eingliederung von MigrantInnen in den Raum europäischer Bürgerschaft und von Migrationsarbeit in die europäischen Arbeitsmärkte« (Mezzadra 2013: 391; Herv. i.O.). Es handelt sich dabei um ein »System der Filterung und Schichtung, das als Maßnahme zur Hierarchisierung und Kontrolle fungiert« (Mezzadra/Neilson 2008).
Wir möchten den Ansatz der »differentiellen Inklusion«, der für eine Analyse von Arbeitsmigrationen und deren gesellschaftliche Einordnung herangezogen wurde, fruchtbar machen für eine Analyse der skizzierten binneneuropäischen und legalisierten Migrationen. Denn diese sind auch von einer enormen Ausdifferenzierung an Status und Bürgerschaftsstellungen betroffen, die den Subjekten abgestuft zu- und aberkannt werden. Jeder Mensch bekommt so einen gesellschaftlichen Platz zugewiesen, indem er in Beziehung zu Anderen gesetzt wird (vgl. Römhild 2014: 260). Katrin Mohr diskutierte dies in Bezug auf wohlfahrtsstaatliche Dimensionen. Sie kommt zu dem Schluss, dass »stratifizierte Rechte« und Exklusionsmechanismen für Migrant_innen trotz formaler Gleichstellungen weiterhin wirkmächtig sind (Mohr 2005). Vor allem die Perspektive auf Arbeit erscheint uns hierbei produktiv, »da Migrationspolitiken (und die Bedingungen von MigrantInnen) nach wie vor hauptsächlich durch die Bestrebungen bestimmt sind, Arbeitsmigration zu regulieren – mit der Konsequenz, dass die Arbeitssituation von MigrantInnen die Basis für ihren Zugang zu Rechten ist« (Mezzadra 2010). Mit dem Blick auf die flexiblen Praktiken der Migration können alltägliche Auseinandersetzungen um diesen Zugang zu Rechten und mögliche Lücken in den Fokus gerückt werden. Dabei löst sich oftmals die Binarität ›legalisierter‹ und illegalisierter Migrant_innen auf, ihre Kämpfe verbinden sich (vgl. Papadopoulos/Tsianos 2013: 186): zum Beispiel in Fragen um Zugang zu Wohnraum, zu Sozialleistungen und Versicherungen sowie zum Arbeitsmarkt.
Der vorliegende Text zeigt dies anhand des Zuschnitts auf Gastro-Ökonomien. Hier überschneiden sich differentiell unterschiedlich inkludierte Migrationen: Kooperationen entstehen, Netzwerke werden gebildet und Informationen ausgetauscht. Dort herrscht eine Diversität an Status von Subjekten vor, die mit der Entwertung von Kompetenzen qualifizierter Arbeiter_innen einhergehen kann, während umgekehrt neue Möglichkeiten und Potentiale für als unqualifiziert gehandelte Arbeitskräfte entstehen können (vgl. Mezzadra/Neilson 2014: 245). Unter dem Begriff Gastro-Ökonomie verstehen wir das gesamte ökonomische Feld städtischer und touristischer Gastronomien wie Bars, Restaurants, Cafés, Clubs und Imbisse und deren Infrastrukturen, wie Reinigungsdienste und Zuliefer_innen. Sie ermöglichen zum einen sowohl unqualifizierten als auch überqualifizierten Personen einen relativ unkomplizierten und wenig reglementierten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum anderen fungieren sie als halb-öffentliche soziale Vernetzungspunkte. Wir betrachten die Gastro-Ökonomie als einen »kosmopolitisierten Verdichtungs- und Möglichkeitsraum« (Römhild 2014: 259), in dem Aushandlungen um Mobilitäten und Grenzen nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft stattfinden. Nach Ulrich Beck und Edgar Grande kann Kosmopolitisierung »auch Ergebnis passiver und ungeplanter Prozesse sein, die eine Verinnerlichung der Andersheit erzwingen. Daher ist Kosmopolitisierung definitionsgemäß kein symmetrischer und autonomer Prozess; sie kann durchaus das Produkt von Asymmetrien, Abhängigkeiten, Macht und Gewalt sein, und sie kann auch neue Asymmetrien und Abhängigkeiten in und zwischen Gesellschaften erzeugen« (Beck/Grande 2010: 195). Die kosmopolitisierten Räume der Gastro-Ökonomie wirken zugleich als Seismographen gesellschaftlicher und ökonomischer Krisenerscheinungen, an denen sich Kriseneffekte und Migrationsregime besonders klar artikulieren und sich insbesondere in den Arbeitsverhältnissen erweitern und multiplizieren.
Wir suchten unseren Feldzugang zunächst über Gespräche mit Angestellten und Betreiber_innen der als griechisch gekennzeichneten gastronomischen Restaurants, Bars, Imbisse und Lebensmittelgeschäfte. Dort führten wir semistrukturierte Interviews, hielten uns teilnehmend beobachtend in den Lokalitäten auf und ergänzten unser dadurch gewonnenes Material durch die Auswertung von analogen und digitalen Medien wie Flyern, Homepages und Facebookseiten. Den Fokus auf die griechische Gastronomie verstehen wir nicht im Sinne eines ›methodologischen Nationalismus‹ (vgl. Beck/Grande 2010), der beim Zuschnitt des Untersuchungsfeldes klassifizierende Konzepte wie eine griechische Ethnizität oder Nationalität voraussetzt und naturalisiert und somit Gesellschaft und Kultur als homogene Einheit wahrnimmt. Vielmehr betrachten wir die griechische Gastronomie als einen exemplarischen Zuschnitt auf eine kontinuierliche und transnationale (Arbeits-)Migration.
Gastro-Ökonomie und Tourismus in Berlin
Für Berlin ist die Gastro-Ökonomie und der Tourismus von zentraler ökonomischer Bedeutung (vgl. dwif 2017): das Berliner Bar-, Club- und Nachtleben ist ein wichtiger Anziehungspunkt für viele junge Tourist_innen. Darüber hinaus gilt Berlin als »unfertige Stadt« mit »Charme«, »die nicht nur flächenmäßig Freiräume bietet, sondern auch Platz, um sich persönlich zu verwirklichen« (Aulich 2015). Das stadtpolitische Marketing der seit 2008 laufenden Imagekampagne ›beBerlin‹ rückt dabei Berlin als eine ›kosmopolitische Metropole‹ in den Mittelpunkt, der »eine Vorstellung von Diversität zugrunde [liegt], die kulturelle, soziale und ethnische Vielfalt der Stadtbewohner_innen als gesellschaftlich bereichernd und ökonomisch nützlich versteht« (Lanz 2012). Berlin bietet somit als touristischer Raum und für Migrationsprojekte mehrere attraktive Anknüpfungspunkte, um sich Möglichkeits- und Verwirklichungsräume zu erschließen (vgl. Kaschuba 2013: 20ff.).
Laut der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft ist seit dem Krisenjahr 2008 bis 2017 die Zahl der jährlichen Besucher_innen von 7,9 auf 12,9 Millionen gestiegen – das bedeutet einen Zuwachs von über 50% (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2018). In diesen Zahlen versteckt sich auch eine wachsende Migration aus den südlichen Krisenländern (SVR 2013). So stieg zwischen 2009 und 2017 allein die Zahl der in Berlin gemeldeten Menschen mit griechischer Staatsangehörigkeit von etwa 9.000 auf 21.000 (Statistisches Bundesamt 2019). Dabei berücksichtigen diese Zahlen lediglich die offiziellen Anmeldungen und dokumentieren somit nur einen Teil der in Berlin lebenden griechischen Staatsbürger_innen. Diejenigen, die nicht angemeldet sind und sich nicht innerhalb fest definierter Kategorien bewegen, haben ihren temporären, zirkulären oder auch permanenten Lebensmittelpunkt in Berlin, ohne dass ihre Existenz statistisch erfasst werden kann, weil sie die Grenzen zwischen Tourismus, Freizeit und verschiedenen Formen von Arbeit verwischen. Dieses Phänomen wird oft als ›neue Migration‹ (vgl. Schoenes/Schultes 2014) bezeichnet. Der Begriff wird im wissenschaftlichen Kontext im Zusammenhang mit dem Phänomen der ›Krisenmigration‹ verwendet. Er wird als Ausdruck einer Mobilität verstanden, die in dieser Anzahl im Zuge der Krise aufkommt und erst durch das für EU-Bürger_innen geltende Freizügigkeitsrecht ermöglicht wird. Wir sind dieser Bezeichnung oft auch in unserem Feld begegnet. Hier wurde er von den Akteur_innen selbst verwendet, um sich von der ›Gastarbeiter_innen‹-Migration abzugrenzen. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass beide Migrationen eng miteinander verflochten sind und deshalb nicht als Gegensatz, sondern vielmehr in ihrer Kontinuität verstanden werden sollten.
Griechische Gastro-Ökonomien und Gastarbeiter_innen in Berlin
Im Laufe der Forschung stellten wir fest, dass es keine scharfe Trennlinie zwischen einer ›neuen‹ und den älteren Arbeitsmigrationen der sogenannten Gastarbeiter_innen gibt. Die heutige Migration ist nicht nur in die ökonomischen Strukturen eingebunden, sondern auch oft in den lebensgeschichtlichen Wegen mit der staatlich organisierten Arbeitsmigration verflochten. Zwar schafft die ›neue Migration‹ neue Netzwerke und Orte, die an ihre Bedürfnisse angepasst sind, nutzt allerdings auch die bereits bestehenden Strukturen und Netzwerke der Generation der ›Gastarbeiter_innen‹. Die Mobilitäten und Migrationsprojekte unserer Gesprächspartner_innen sind Teil einer kontinuierlichen Geschichte vielfältiger (Arbeits-)Migrationen zwischen Griechenland und Deutschland bzw. Berlin (vgl. Siouti 2013). In den Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland ergänzen sich schon seit den 1960er Jahren einerseits der einsetzende deutsche Massentourismus und das Interesse an griechischer Küche und andererseits die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland (vgl. Lenz 2010: 144ff; Perinelli 2019). Nicht zuletzt »implizieren beide Mobilitätsformen doch einen oftmals transnationalen und reziproken Transfer von Menschen, Produkten und Bildern wie Narrationen« (Möhring 2012: 24). So konnte die Kundschaft im Berliner Restaurant in der darauffolgenden Tourismussaison die Kundschaft einer Pension an der griechischen Küste sein.
Die griechischen Gastronomien, die sich bis zu den 1990er Jahren als feste Größe auf dem deutschen Markt etablierten, entstanden zuerst an Orten mit vielen griechischen ›Gastarbeiter_innen‹ aus der Überlegung heraus, deren »Bedürfnis nach heimatlicher Atmosphäre« (Stavrinoudi 1991: 8) nachzukommen. Die griechische Küche lockte schon bald auch andere Gäste. Maren Möhring rückt hierbei die »migrantischen Gastronomen, aber auch die Konsumenten als Akteure einer Internationalisierung der Ernährung in den Vordergrund« (Möhring 2012: 22). Hierin zeigt sich ihr kosmopolitisierendes Potential, indem über alimentäre Funktionen hinaus Räume gesellschaftlichen Austauschs entstehen. Darüber hinaus waren griechische Gastronomien in Deutschland auch politische Treffpunkte.4 In der Forschungsliteratur werden sie zur Zeit der griechischen Militärdiktatur als Orte des Widerstandes und des politischen Meinungsaustausches beschrieben; sie bildeten somit abseits ökonomischer Funktionen einen Raum zivilgesellschaftlicher Organisation (ebd.: 370). Im Zuge der Militärdiktatur verließen zahlreiche Student_innen und Intellektuelle als politische Flüchtlinge das Land, von denen viele ihren Lebensunterhalt weder als Arbeitende in der Industrie, noch im erlernten Beruf, sondern durch die Arbeit in einem gastronomischen Betrieb verdienten (Möhring 2012: 370f.): ein Ausweg, den wir heute unter anderen Umständen bei vielen jungen, gut ausgebildeten Griech_innen ebenfalls feststellen.
Im Unterschied zu den früheren Arbeitsmigrationen ist die hier untersuchte sogenannte ›neue Migration‹ selbst organisiert, nicht aber ohne an die historisch gewachsenen Netzwerke und Institutionen wie die Kulturvereine und Gastro-Ökonomien der sogenannten Gastarbeiter_innen anzuknüpfen und diese zu transformieren und weiterzuentwickeln. Die existierenden Strukturen griechischer Gastro-Ökonomien kanalisieren die im Zuge der Finanzkrise stattfindenden neuen Migrationsbewegungen. Vielfach können bereits vor der Ankunft die ersten Kontakte für Arbeitsuche und Wohnungsvermittlung geknüpft werden (Restauranteigentümer, 26.11.14). Allerdings arbeiten die Migrant_innen dann oft in informellen Arbeitsverhältnissen ohne Versicherung, Vertrag und Absicherungen unter prekären Bedingungen (Anwältin, 9.11.14; Regisseur, 22.1.15). Um die Verflechtung der unterschiedlichen Arbeitsmigrationen aufzuzeigen, skizzieren wir im Folgenden die Herausbildung griechischer Gastronomien im Zuge der Geschichte der ›Gastarbeit‹.
Exkurs: Kurze Geschichte griechischer ›Gastarbeit‹
Das Jahr 1960 markiert zwar nicht den Anfang einer griechischen Migration nach Deutschland, stellt aber mit dem Beginn der zwischenstaatlich organisierten Anwerbeabkommen eine wichtige historische Zäsur dar. Diese Entwicklung war eingebettet in eine größere griechische Arbeitsmigration nach (Nord-)Westeuropa: »Von den insgesamt 760 000 Griechen, die zwischen 1955 und 1977 in andere europäische Staaten migrierten, gingen die meisten, nämlich 84 Prozent nach Westdeutschland« (Möhring 2012: 355). Zwischen 1968 und 1973 verließen in Folge der Militärdiktatur in Griechenland nicht nur Arbeiter_innen, sondern vor allem auch politisch aktive Griech_innen das Land. Kurz vor der Ölkrise 1973 und dem danach folgenden Anwerbestopp erreichte die Zahl der in der BRD lebenden Griech_innen mit 408.000 den Höchststand (ebd.); in Berlin (West) waren es zu diesem Zeitpunkt 10.028 (vgl. Stavrinoudi 1991: 28).
Die Arbeitsmigration nach Deutschland folgte nicht nur dem »Ruf der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften« (Bojadžijev 2012: 98), sondern flexible Mobilitätsströme ergänzten sich. Somit weisen die Anwerbeabkommen Momente eines reaktiven Versuchs der Migrationskontrolle auf. Auch frühere Forschungen zur griechischen Gastro-Ökonomie in Berlin betonen demgemäß: »Viele Griechen, die als Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik Deutschland kamen, verbanden dies mit dem Ziel, sich hier selbstständig zu machen. Insbesondere in der Gastronomie sahen viele eine Chance, sich aus einem abhängigen Arbeitsverhältnis zu lösen und nicht nur das notwendige Geld für die Existenzsicherung zu verdienen, sondern einiges mehr« (Stavrinoudi 1991: 55). Es zeigte sich, dass das staatlich anvisierte Vorhaben und die gleichzeitige Kontrolle einer temporär klar begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften nicht umsetzbar waren. Die begehrte Ware Arbeitskraft lässt sich nicht von den Menschen trennen, die sie zur Verfügung stellen (vgl. Mezzadra/Nelson 2008): Viele, die als ›Gastarbeiter_innen‹ kamen, nutzten dies als Ausgangspunkt für andere Projekte und blieben dauerhaft. Sie verschoben somit Grenzen, die das herrschende System in der politisch-rechtlichen Konstitution des Arbeitsmarktes gezogen hatte und emanzipierten sich von ihrem zugeschriebenen Status.
Das Modell der sogenannten ›Gastarbeiter_in‹ wurde seit den 1980er Jahren durch eine Anzahl von Programmen abgelöst, die eine saisonal begrenzte Arbeitsmigration, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Baugewerbe und Gastronomie, und dies insbesondere aus den östlichen Nachbarländern, legalisierte (vgl. Schierup/Hansen/Castles 2006: 151). Auch in den ehemaligen EU-Entsendestaaten von ›Gastarbeiter_innen‹ haben sich die Bedingungen mittlerweile geändert: Südliche EU-Mitgliedstaaten, die wie Griechenland eine EU-Außengrenze haben, sind heute selbst verstärkt das Ziel von Migration (vgl. Lenz 2010: 113) – nicht zuletzt, da sie auf den Fluchtrouten liegen (vgl. Hess et al. 2016).
Der Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft (EG) 1981 stellt einen weiteren wichtigen historischen Moment für Griech_innen in Deutschland dar. Bis dahin bestehende Restriktionen für ausländische Gewerbetreibende wurden abgebaut und ein unbeschränkter Zugang zur Gewerbeerlaubnis und die Einreise zwecks Unternehmensgründung ermöglicht (vgl. Möhring 2012: 357). Dies hatte einen Aufschwung der griechischen Gastronomie zur Folge. So vermerkt Stavrinoudi in ihrer Studie zu griechischen Gastronom_innen in Berlin, der EG-Beitritt Griechenlands »beseitigte ihre Ängste gegenüber dem deutschen Rechtsstaat und das Gefühl, ›Bürger zweiter Klasse‹ zu sein. Durch das Inkrafttreten des EG-Rechts erhielten sie die gleichen Arbeits- und Tarifrechte wie die Einheimischen (Antidiskriminierungsgebot) und konnten sich problemlos selbstständig machen« (Stavrinoudi 1991: 15f.). Diese Entwicklungen bilden die Grundlage für Netzwerke, auf die die ›neue Migration‹ aufbauen kann.
Vernetzungen und Verflechtungen der ›neuen Migration‹
In einem Interview mit einer Frau Mitte vierzig, die ein Kafeníon in Berlin-Wedding eröffnet hat, verdeutlichen sich die komplexen Verflechtungen älterer und jüngerer griechischer Migration nach Berlin. Ihre Eltern kamen in den 1960er Jahren aus Griechenland nach Deutschland und sind erst vor Kurzem mit Rentenbeginn in das nordgriechische Dorf zurückgekehrt, in dem sie aufgewachsen sind. Sie selbst ist in Deutschland geboren und zum Studieren nach Griechenland gegangen, wo sie 20 Jahre lebte, bis sie 2013 krisenbedingt nach Berlin zog. Nach ihrer Ankunft in Berlin hat sie zunächst in einem spanischen Lokal gearbeitet, bevor sie ihre eigene Bar eröffnete. Diese passt sich sowohl hinsichtlich der Einrichtungsgestaltung als auch mit der Auswahl des Kultur- und Kunstprogramms nahtlos in die hippe Szene des Stadtteils ein und ist zu einem Treffpunkt der jungen griechischen Migration geworden.
Eine weitere Version migrationsgeschichtlicher Verflechtung erzählte uns ein älteres Ehepaar, das einen Gyros-Imbiss in Schöneberg betreibt. Sie kamen in den 1960er Jahren zum Arbeiten nach Berlin, haben später ein Restaurant geführt und betreiben seit den 1990er Jahren gemeinsam den Imbiss. Ihr in Deutschland geborener Sohn ist zum Medizinstudium nach Griechenland gegangen und lebt jetzt als Arzt mit seiner Familie in Athen, ist aber wegen der erheblichen austeritätspolitischen Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Diese Beispiele geben einen Einblick in die Verflechtungsgeschichte der Migrationsprojekte und ihren aktuellen Zusammenhang in der Krise. Darüber hinaus sucht sich die ›neue Migration‹ weitere Anlaufstellen: Zwei Plattformen wurden von unseren Gesprächspartner_innen immer wieder als wichtige Kontaktstellen erwähnt, sind aber in ihrer Geschichte und Organisierung äußerst unterschiedlich. Zum einen handelt es sich um die 1975 von ›Gastarbeiter_innen‹ gegründete Hellenische Gemeinde zu Berlin e.V. in Berlin-Steglitz und zum anderen um die Facebook-Gruppe Greek Berliners, die 2010 von einem im Prenzlauer Berg lebenden griechischen Filmregisseur gegründet wurde. Beide Plattformen sind wichtige Informationsbörsen für die Arbeits- und Wohnungssuche der ›neuen‹ Migrant_innen und werden oft bereits schon vor Ankunft in Berlin kontaktiert.
Die Hellenische Gemeinde zu Berlin
Die Hellenische Gemeinde zu Berlin e.V. ist ein Ort der Verflechtung älterer und neuerer Migration und zugleich ein wichtiger sozialer Knotenpunkt. Der klassisch organisierte Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und wird vom Berliner Senat finanziell unterstützt. Unter der Dachorganisation des griechischen Kulturzentrums sammeln sich eine Reihe vor allem regionaler Sektionen, von denen einige mittlerweile inaktiv geworden sind. Ursprünglich als sozialer Treffpunkt von griechischen Arbeitsmigrant_innen gegründet, waren die meisten Aktivitäten des Vereins 2014 vor allem an die zweite und dritte Generation der ehemaligen ›Gastarbeiter_innen‹ gerichtet. Der Verein versteht sich aber auch weiterhin als sozialer Treffpunkt der vielen, mittlerweile pensionierten ehemaligen Arbeitsmigrant_innen (Koordinatorin, 24.11.14). Von den ca. 4000 Mitgliedern kommen etwa 600 regelmäßig zu Veranstaltungen. Zehn Mitglieder, von denen die meisten erst in den letzten Jahren von Griechenland nach Berlin gezogen sind, arbeiten ehrenamtlich in der Gemeinde und organisieren das kulturelle Programm. »Überhaupt«, erzählt uns die Koordinatorin, »sind die jungen ›neuen‹ Migrant_innen auch in der Gemeinde sehr engagiert. Viele kümmern sich, sobald sie etwas deutsch sprechen, auch um die erste Generation der Arbeitsmigrant_innen; sie helfen ihnen beim Umgang mit den Behörden, Ämtern und Ärzten« (ebd.).
Seit 2011, dem Zeitpunkt, ab dem die Koordinatorin den Anfang der »neu-Migration« (ebd.) ansetzt, veränderte sich die über Jahrzehnte gewachsene Mitgliederstruktur des Vereins recht schnell. Anfangs gab es durchaus Konflikte zwischen den meist gut ausgebildeten jungen Griech_innen und der älteren Generation der Arbeitsmigrant_innen. Hatte die Gemeinde über Jahrzehnte vor allem innergriechische parteipolitische Konflikte im Kleinen widergespiegelt, stieß das soziale Engagement der jungen Griech_innen auf den Widerstand der alteingesessenen Generationen. Heute versteht sich das griechische Kulturzentrum »als Anlaufstelle und multikulturelles Sozialzentrum für MigrantInnen«.5 War noch 2014 das Kulturprogramm hauptsächlich durch griechische Sprachkurse, regionale Volkstänze und verschiedene Chor- und Gesangsgruppen bestimmt, gibt es 2019 neben diesen Veranstaltungen auch einen Sprach- und Integrationskurs. Die älteren Generationen der ›Gastarbeiter_innen‹ haben sich in diesem Zuge zunehmend aus der aktiven Vereinsarbeit zurückgezogen, während jüngere Griech_innen, die zum Studieren oder Promovieren nach Berlin gekommen waren, Aufgaben übernahmen und die Gemeinde neu belebten. »Die jüngeren Leute haben die Realität verstanden, aber es ist schwierig, Geld für Projekte vom Senat zu bekommen« (Koordinatorin, 24.11.14).
Die junge Koordinatorin und Beraterin kam selbst erst im Sommer 2011 für einen Sprachkurs nach Deutschland. In Griechenland hatte sie Geistes- und Sozialwissenschaften studiert, konnte dort aber keine Arbeit finden. 2014 arbeitete sie schon seit zweieinhalb Jahren für das griechische Kulturzentrum in Berlin. Im Monat führte sie ca. 100 Beratungsgespräche, davon viele mit jungen Menschen in Griechenland, die nach Berlin kommen wollten. Als wir sie trafen, arbeitete sie an einer Broschüre für Migrant_innen, die ihnen bei der Wohnungs- und Jobsuche helfen sollte. Diese Broschüre ist mittlerweile auch ins Englische übersetzt worden. Angesprochen auf Möglichkeiten für die »neu-Migration« meint sie: »Gastronomie spielt leider eine große Rolle für die neue Migration. Auch die Vorstandsvorsitzende arbeitet als Kellnerin und promoviert gleichzeitig« (ebd.). Bereits 1991 gelangt Stavrinoudi zu dem Schluss, den wir auch immer wieder aus dem Forschungsfeld bekommen haben: »Die griechischen Restaurants dienen auch als Informationszentren, besonders für Neuankömmlinge, die etwas über das institutionelle griechische Leben in Berlin erfahren oder aber einfach eine Arbeit finden wollen. Sie fungieren auch als Arbeitgeber, vor allem für griechische Studenten« (1991: 23). Für die junge Koordinatorin ist dies kein vorstellbares Arbeitsfeld: »Ich bin neu-Migrantin geworden, weil ich etwas Besseres für mein Leben wollte. Wenn du studiert hast, und dann in der Gastronomie arbeitest, weiß ich nicht ob das ein Erfolg ist« (Koordinatorin, 24.11.2014).
Facebook-Gruppe Greek Berliners
Die Facebook-Gruppe Greek Berliners ist ein moderiertes Forum, dessen Mitgliederzahl zwischen August und Dezember 2014 von 6000 auf 8000 angewachsen war. Heute verzeichnet die Facebook-Gruppe bereits über 22.000 Mitglieder. Ein griechischer Filmregisseur, der seit 2004 in Berlin lebt, seine Filme aber ausschließlich in Griechenland dreht und produziert, gründete die Facebook-Gruppe 2010. Die Finanzierung seiner letzten Produktion verlor er mit der sofortigen Schließung des produzierenden Senders, die 2011 im Zuge der EU-Austeritätspolitik von der damaligen griechischen Regierung verordnet wurde. Daraufhin musste er sich in Berlin zum ersten Mal arbeitslos melden.
Die Gruppe ist als soziales Netzwerk zum neuen Forum unter den jungen Migrant_innen aus Griechenland geworden. Die internetbasierte Kommunikationsplattform ermöglicht eine dezentrale, flexible und mobile Kommunikation und Vernetzung und ergänzt damit lokale Strukturen wie die der Hellenischen Gemeinde. Der Regisseur moderiert die Gruppe, um politischen Diskussionen zuvor zu kommen, rassistische Kommentare auszuschließen und den Berlinbezug beizubehalten. „It’s not really political. It’s just a group for Greeks in Berlin to communicate anything that has to do with Greeks in Berlin. So, if there is a political activity going on among ourselves, it can be posted and organized through Greek Berliners« (Regisseur, 22.1.2015). Im Mittelpunkt stehen vor allem die Themen Wohnen, Bildung, medizinische Versorgung und Arbeit. Darüber hinaus besteht ein reger Austausch von praktischem Wissen über Berlin sowie Informationen zu kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen.
Über die Facebook-Gruppe hat sich eine griechische Rechtsanwältin als Beraterin für soziale und migrantische Themen selbständig gemacht. Sie konnte sich ein Netz aus Klient_innen aufbauen und arbeitet jetzt auch mit Menschen in mehreren deutschen Städten, die meisten davon in Berlin. Sie ist vor der Krise 2008 zum Studieren nach Berlin gekommen. Unter den wirtschaftlichen Verhältnissen in Griechenland 2014 konnte sie sich nicht vorstellen zurückzukehren, obwohl das für sie bedeutete, dass sie ihren Beruf als Anwältin nicht weiter ausüben konnte. Bevor sie sich über die Facebook-Gruppe selbständig gemacht hatte, wollte sie an der Hellenischen Gemeinde ein Netzwerk von Berater_innen für die ›neu-Migrant_innen‹ etablieren. Das scheiterte damals aber noch am Widerstand der Gemeindemitglieder: »Es war damals keine besonders aktive Gemeinde« (Anwältin, 9.11.2014). Neben der Beratungstätigkeit unterstützte sie vor allem EU-Migrant_innen bei der Gründung und Finanzierung von Unternehmen; in der Regel waren es gastronomische Projekte. Dreiviertel ihrer Klient_innen kamen aus Griechenland, die anderen vor allem aus Spanien. Sie erzählte, dass vor allem die Griech_innen im Ausland die Gastronomie für eine »heilige Bestie« (ebd.) halten. Viele ihrer Klient_innen gehen davon aus, dass man sich mit einem eigenen Restaurant umgehend etablieren könnte. Diese positive Erwartung verwandelt sich aber recht schnell in ein alltägliches Ringen, da die ständigen Ausgaben und die langen Arbeitszeiten häufig nur für einen minimalen Lebensstandard reichen. Ungefähr ein Drittel der neuen Restaurants melden nach den ersten zwei Jahren Insolvenz an, sagt die Anwältin, und die Menschen kehren meist wieder zurück nach Griechenland, allerdings ärmer als sie nach Deutschland gekommen waren (ebd.).
Die meisten Griech_innen betrachten die Arbeit in der Gastronomie nur als eine zeitlich begrenzte Übergangsphase, bis sie Deutsch gelernt und eine ihrer Qualifikation entsprechende Arbeit gefunden haben. Die oft prekären und informellen Arbeitsverhältnisse führen daher oft zu Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitenden und den Eigentümer_innen. Vor allem Migrant_innen, die noch keine Sprachkenntnisse besitzen, sind besonders abhängig von griechischen Gastronom_innen. So erzählten sowohl die Anwältin als auch die Koordinatorin der Gemeinde, dass es leider gerade in der griechischen Gastronomie immer wieder zu Situationen von Ausbeutung zwischen den ›neuen‹ und den älteren Generationen der Arbeitsmigrant_innen kommt.
Gastronomie als Ort der Vernetzung
Neben der Hellenischen Gemeinde und den Greek Berliners gibt es noch andere, informelle Wege der Vernetzung: so spielen einige Cafés und Bars in den Vierteln Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg eine wichtige Rolle, wie auch die Volkshochschule und die Wohngemeinschaften zentrale Vernetzungspunkte für den Austausch von Erfahrungen der ›neuen‹ Migrant_innen darstellen. Manche dieser gastronomischen Betriebe, die sich zu inoffiziellen Treffpunkten entwickelt haben, wurden von ›neuen‹ Migrant_innen gegründet. So tragen diese selbst zur Infrastruktur einer »neuen Migration« bei. Das trifft auch auf ein Café im Norden Neuköllns zu, das von vielen Gesprächspartner_innen erwähnt wurde.
Der Betreiber des Cafés studierte in Griechenland Ingenieurwissenschaften und kam 2008 für ein Praktikum zum ersten Mal nach Berlin. 2010 erhielt er eine feste Stelle an einem Berliner Forschungsinstitut und zog nach Berlin. Neben seiner Forschungsarbeit hat er 2012 zusammen mit einem Freund aus Griechenland, der als Grafikdesigner in Berlin lebte, das Café in Neukölln eröffnet: »Wir wollten keine griechische Kneipe aufmachen, im Gegenteil. Wir wollten eine Berliner Kneipe aufmachen, eine Neuköllner Kneipe sogar« (Cafébetreiber, 30.1.2015). Drei Monate nach der Eröffnung war das Café bereits sehr gut besucht. Er erzählt, dass das Café auf der Facebook-Gruppe Greek Berliners als Treffpunkt weiterempfohlen wird. So organisierte das Café eine Live-Übertragung der griechischen Parlamentswahlen am 25. Januar 2015, um gemeinsam die Ergebnisse der Wahl zu verfolgen. Noel Nicolaus stellt dazu fest, dass »gerade die von EU-Migrant_innen neu gegründeten Kultur- und Gastronomieeinrichtungen eine zentrale Rolle in der Organisation lokaler wie transnationaler sozialer und politischer Netzwerke [spielen] – sei es als Informationsorte für Neuankömmlinge, als offene Veranstaltungsorte oder gar als Wahllokale für politische Abstimmungen« (2014: 120).
Prekarisierte Binnenmigration als »Europäisierung von unten«
In diesem Café in Neukölln treffen wir eine junge Industriedesignerin aus Griechenland. Sie ist erst seit vier Monaten in Berlin und bereits vier Mal umgezogen. In Griechenland hat sie nach ihrem Studium 2010 als Grafikdesignerin gearbeitet und sich dann selbständig gemacht: »But this was a very bad decision because in Greece everybody tries to avoid paying money now. Here, I want to start something new and get paid« (Designerin, 30.1.2015). Die meisten ihrer Kommiliton_innen arbeiteten in anderen europäischen Staaten. Sie ist mit der Vorstellung nach Berlin gekommen, einen Job in ihrem Bereich zu finden, und besucht einen Deutschkurs an der Volkshochschule »to have another language in my CV« (ebd.). Sie arbeitet in zwei Restaurants in Kreuzberg, abends in der Küche und nachts als Reinigungskraft, tagsüber schreibt sie Bewerbungen. Aus Griechenland hatte sie bereits Kontakte in die Gastronomie hergestellt, in der sie nun in einem internationalen Team arbeitet. Daneben bewirbt sie sich auf eine Stelle als Freelance Designerin bei einem Unternehmen in München. Außerdem entwickelt sie das Design für eine Webseite eines IT-Start-ups, das von einem Griechen in Berlin gegründet wurde. Den Sommer aber will sie auf einer griechischen Insel bei Freund_innen in der Gastronomie arbeiten, weil sie dort in kurzer Zeit gut verdient. Ihre Situation beschreibt sie als selbst gewählt und bereichernd, obwohl sie weder eine Arbeit in ihrer Branche hat noch sich ein eigenes Zimmer leisten kann, sondern sich in Neukölln ein Zimmer mit einer jungen Frau aus Italien teilt. Ihre Zukunft stellt sie sich anders vor: sie will als Produkt- und Grafikdesignerin arbeiten. Trotz allem findet sie ihre Situation in Berlin besser als in Griechenland: »I am more open now, more relaxed […] and I don’t have the misery that I had in Athens. […] I don’t have a good job, but I am trying to do something« (ebd.).
Migrant_innen akzeptieren prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen, um Verwirklichungsmöglichkeiten in Berlin zu suchen und fordern auf Grundlage ihrer Mobilität in ihrer alltäglichen Praxis die Kompensation krisenbedingter Verluste von »citizenship-Rechten« ein (vgl. Nicolaus 2014). »Citizenship« bezieht sich nicht auf ein rein staatsbürgerliches Rechtsverständnis, sondern meint »Fragen von Gleichheit und Differenz, von Anerkennung, Mitbestimmung und Teilhabe, Zugehörigkeit und Ausschluss, sowie grundlegende Forderungen nach dem ›Recht, Rechte zu haben‹« (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 178). »Citizenship« wird somit als eine politische Praxis und sozialer Prozess denkbar, »through which individuals and social groups engage in claiming, expanding and losing rights« (Isin/Turner 2002: 4), über die Gleichberechtigung eingefordert und gelebt wird. Diese »acts of citizenship« (Isin/Nielson 2012), die aus einer alltäglichen Lebenspraxis heraus nicht intentional entstehen, beinhalten eine Agency, die das Potential hat, die konstituierte Macht herrschender politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse zu transformieren (vgl. Hardt/Negri 2003): »Die Acts lenken den Blick auf die kreative Kraft menschlicher Handlungszusammenhänge und den Überschuss der subjektiven Begehrensformen gegenüber den Machtparadigmen« (Köster-Eiserfunke/Reichhold/Schwiertz 2014: 193). Doch gleichzeitig tragen sie zur stetigen Konstruktion und Reproduktion der bestehenden Machtverhältnisse bei (ebd.: 189).
Die von uns angetroffenen Akteur_innen verwischen mit ihren Praktiken gesellschaftliche und rechtliche Kategorisierungen und Hierarchien. In ihren Migrationsprojekten, ihrem Alltagsleben in Berlin und in den kosmopolitisierten Räumen der Gastro-Ökonomie verschränken sich neoliberale und deviante Praktiken, Strukturen der Ausbeutung und Momente der Ermächtigung. Durch die praktizierte EU-Freizügigkeit sind sie an der (Re)Produktion einer kaum reglementierten, transnationalen Lebenswelt beteiligt und dadurch aktiver Teil des politisch und kulturell unabgeschlossenen Projekts Europa. Diese Praktiken des Alltags begreifen wir als eine »Europäisierung von unten«, vorbei an elitären Gemeinschaftsbildungsprozessen oder anrufenden, formgebenden Strukturen und Politiken. Hierbei argumentieren wir parallel zum Ansatz einer »Kosmopolitisierung ›von unten‹«, bei dem migrantische Praktiken als »Motor der Transnationalisierung« (Römhild 2007: 213) gedacht werden. Migration entwirft und praktiziert dabei ihr eigenes Europa, das unabhängig von nationalen Grenzen Mobilsein als Norm setzt (vgl. Favell 2008: 20; Römhild 2009: 226f.).
Zwischen Ermächtigung und Prekarisierung
Wir verstehen »Europäisierung von unten« als das nicht intendierte Resultat verschiedener Praktiken der migrantischen Alltagsbewältigung, als Folge alltäglicher Handlungen: im Zuge ihrer scheinbar grenzenlosen Mobilität erfolgt meist der Abstieg in eine (Selbst-)Prekarisierung, die einerseits erzwungen, aus Mangel an Alternativen und im Zuge der Krise hingenommen, andererseits als temporärer, und dadurch akzeptierter Zustand mit Aussicht auf Verwirklichungsmöglichkeiten wahrgenommen wird. Diese Ambivalenz der (Selbst-)Prekarisierung ist mit Isabell Lorey als ein Normalisierungsprozess in einer neoliberalen Gesellschaftsordnung zu verstehen, in der Prekarisierung kein Ausnahmephänomen mehr darstellt. Ökonomische Ausbeutungsverhältnisse gehen dabei in komplexen Wechselwirkungen mit Momenten der Ermächtigung einher (vgl. Lorey 2011). Im Ringen um das politisch und kulturell unabgeschlossene Projekt Europa erschließen sich Migrant_innen ein Feld, das trotz einer prekarisierten Lebensführung eine Basis für eigene Lebensentwürfe und Möglichkeitsräume bereitstellt. Dies weist über national verfasste Gesellschaften hinaus, wie es auch Adrian Favell zu innereuropäischen Arbeitsmigrant_innen formuliert: »Their Europe is one beyond such frontiers, a post-national space, in which individuals are building lives using their rights against the nation« (Favell 2008: 20; Herv. i.O.). Der Blick auf die differentielle Inklusion von mobilen Arbeitskräften in Kombination mit einer kritischen Europäisierungsforschung erscheint dafür produktiv zu sein (vgl. Bojadžijev/Römhild 2014: 13). Dies eröffnet Möglichkeiten, künftige gesellschaftliche EU-europäische Verhältnisse zu denken, ohne die Parallelität von Verwertung und Ermächtigung zu verdecken.
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