Abstract The focus of the paper is the mobility of migrant workers who were recruited from the Federal Republic of Germany and Austria as part of the so-called ›guest worker system‹. It shows that transnational mobility within the ›guest worker system‹ increased significantly in the second half of the 1970s. Transnational mobility is understood as cross-border ›commuting‹ between two centers of life, which of course calls into question the often static classification of migration. A closer look at changing mobility practices can therefore be very revealing, as they affect both the self-image of migrants and the principles of the respective migration regimes. Another point discussed here concerns the area of transit between the migrants’ country of origin and destination. Because the aforementioned increase in transnational mobility is closely related to automobilization, which in turn raises questions about transit traffic and road safety.
Keywords guest workers, labor migration, mobility, cross-border traffic, transit
Im September 1961 reisten 68 türkische Arbeitnehmer von Istanbul nach Köln, um dort im Ford-Werk zu arbeiten. Sie fuhren mit der Bahn in einem eigens für sie reservierten Waggon. Die Fahrt dauerte mehr als 50 Stunden und verlief laut den Reisenden weitgehend zufriedenstellend; lediglich über den erhaltenen Proviant wurde geklagt. Dies war die erste von der deutschen Verbindungstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Istanbul organisierte Sammelreise, der viele weitere folgen sollten. Bei guter Auftragslage wurden zwei Sonderzüge pro Woche bereitgestellt oder zusätzlich Waggons an regulär verkehrende Züge angehängt. Der Transfer der Arbeitsmigrant*innen wurde von der deutschen Bundesbahn durchgeführt und kostete die Bundesanstalt für Arbeit rund 100 DM pro Fahrgast. Der Großteil der neu vermittelten Arbeitskräfte reiste mit der Bahn, da Flugreisen zu dieser Zeit zu teuer waren und von der Bundesanstalt für Arbeit nicht bezahlt wurden. Erst Anfang der 1970er-Jahre wurde der Flugtransfer häufiger, da man vor allem den angeworbenen weiblichen Arbeitskräften die anstrengende Bahnfahrt ersparen wollte (vgl. Jamin 1998: 149ff.).
Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, die im deutschsprachigen Raum euphemistisch als Gastarbeiter bezeichnet wurden, begann bereits Mitte der 1950er-Jahre.1 Das sogenannte Gastarbeitersystem basierte dabei auf der temporären Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte, die nach dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses in ihre Herkunftsländer zurückkehren und durch neu ankommende Arbeitsmigrant*innen ersetzt werden sollten. Die angeworbenen Arbeitskräfte kamen überwiegend aus den strukturschwachen Regionen der Anrainerstaaten des Mittelmeers.2 Mit ihrer Hilfe sollte dem Arbeitskräftemangel der nordwesteuropäischen Industriestaaten begegnet werden, der dem anhaltenden Wirtschaftsboom geschuldet war (vgl. Oltmer/Kreienbrink/Díaz 2012).3 Das oben beschriebene Rotationsprinzip – also der ständige Wechsel der Arbeitskräfte – funktionierte bis zum Anwerbestopp 1973 weitgehend friktionsfrei, sodass bis zu diesem Zeitpunkt allein von der Bundesrepublik Deutschland rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden. Für den Großteil von etwa elf Millionen blieb der Aufenthalt auch ein zeitlich befristeter. Die restlichen drei Millionen blieben und verlagerten zusehends ihren Lebensmittelpunkt in die Bundesrepublik, wobei eine spätere Rückkehr nicht ausgeschlossen war (vgl. Bade 2000: 319; Oltmer 2010: 52f.)
Mit dem Anwerbestopp zeigten sich erstmals aber auch die Schwächen des Gastarbeitersystems. Zum einen ließ die Logik des Rotationsprinzips auf staatlicher Seite dauerhafte Integrationsmaßnahmen lange Zeit als obsolet erscheinen und zum anderen führte der Anwerbestopp auf migrantischer Seite zum wiederholten Aufschub der endgültigen Rückkehr, da danach eine erneute Arbeitsmigration kaum mehr möglich war. Dem Gastarbeitersystem – so könnte man zugespitzt formulieren – lag demnach kein homogenes Mobilitätsverständnis zugrunde. Während Wirtschaft und Politik zeitliche Befristung und räumliche Ungebundenheit forderten, suchten viele der angeworbenen Arbeitskräfte oft das genaue Gegenteil. Im vorliegenden Aufsatz steht deshalb auch die Mobilität der Migrant*innen im Fokus. Dabei wird zunächst auf den Bahntransfer der angeworbenen Arbeitskräfte sowie die Rolle des eigenen Autos zur Aufrechterhaltung transnationaler Beziehungen eingegangen, bevor der sogenannten Gastarbeiterroute gefolgt wird, auf der mehrmals jährlich hunderttausende Arbeitsmigrant*innen unterwegs waren. Ein genauer Blick auf ihre Mobilitätspraktiken kann hierbei sehr aufschlussreich sein, verweisen sie doch auf das Selbstverständnis der Migrant*innen als auch auf das der jeweiligen Migrationsregime.
Die Bahn
Die eingangs bereits erwähnten Sammelreisen für Arbeitsmigrant*innen stellen eine besondere Form migrantischer Mobilität dar, da sie in einem hohen Maß behördlich organisiert war und staatliche Akteure direkt an der Auswahl der Arbeitsmigrant*innen und an der Durchführung ihres Transfers beteiligt waren (vgl. Rass 2009). Für die Organisation der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland waren die sogenannten Verbindungsstellen der Bundesanstalt für Arbeit zuständig, die in den Rekrutierungsländern eröffnet wurden. Zu den wichtigsten Aufgaben der Verbindungsstellen zählten die Feststellung der beruflichen und gesundheitlichen Eignung der Bewerber*innen, das Ausstellen der nötigen Arbeits- und Aufenthaltsdokumente sowie die Organisation des Transfers der angeworbenen Arbeitsmigrant*innen. Damit konnte sichergestellt werden, dass die rekrutierten Arbeitskräfte möglichst schnell und sicher ihren zukünftigen Beschäftigungsort erreichten und gleichzeitig die Kontrolle der Einreise und Verteilung der Migrant*Innen gewährleistet blieb (vgl. ebd.: 125f.).
Welche Bedeutung die Abwicklung des Transfers haben konnte, zeigt u.a. das im Jahr 1968 geschlossene Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien. Darin wurde nicht nur bereits festgelegt, wer für den Transfer der Arbeitskräfte zuständig war, sondern auch, wer für die Verpflegung während der Bahnreise aufzukommen hatte (vgl. Goeke 2009: 294). Bei der großen Zahl an Arbeitskräften, die in der frühen Phase der Gastarbeitermigration angeworben wurde, war demnach selbst der Reiseproviant ein wichtiger Verhandlungspunkt, der zu Buche schlug. Für die Migrant*innen brachte dagegen der behördlich organisierte Transfer finanzielle Erleichterung und ebenfalls ein gewisses Maß an Sicherheit, da sie nicht selbst für die Reise aufkommen mussten und davon ausgehen konnten, ihren künftigen Arbeitsplatz rechtzeitig und sicher zu erreichen. Nichts desto trotz war die Reise oft sehr mühsam, wie folgende Ausführungen zum Transfer türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland zeigen.
Viele der Arbeitsmigrant*innen waren schon Tage unterwegs, bevor sie überhaupt erst Istanbul erreichten und den Zug nach Deutschland bestiegen.4 Danach folgten meist zwei weitere Tage und Nächte in den oft bis zum letzten Platz ausgebuchten Wagen der deutschen Bundesbahn. Neben dem Platzmangel waren die schlechte Wasserversorgung und die unzureichende Beheizung immer wieder Gegenstand von Beschwerden. Für die Reisenden besonders unangenehm war der Einsatz von Nahverkehrszügen, da es darin keine Liegemöglichkeiten gab und aufgrund der kurzen Rückenlehnen nicht einmal der Kopf zurückgelehnt werden konnte. Die Mitarbeiter*innen der Bundesanstalt für Arbeit beschwerten sich deshalb zunehmend bei der Bundesbahn über die schlechten Reisebedingungen, die dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland schaden würden. Eine deutliche Verbesserung brachte die Einführung von Liegewagen im Jahr 1971. Obwohl die Sonderzüge meist eine Strecke ohne Fahrgäste unterwegs waren, war der Transfer der Arbeitsmigrant*innen für die Bundesbahn ein gutes Geschäft. So zahlte allein das Landesarbeitsamt Südbayern im Jahr 1969 knapp 30 Mio. DM für den Transfer der angeworbenen Arbeitskräfte (vgl. Jamin 1998: 149ff.).
Alle Arbeitsmigrant*innen aus Italien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei wurden – sofern sie in einem von der Behörde bereitgestellten Zug saßen – am Münchner Hauptbahnhof empfangen und von dort an ihre vorgesehen Beschäftigungsorte weitergeleitet.5 Die Versorgung und Zuteilung der Migrant*innen übernahmen dabei Mitarbeiter*innen der sogenannten Weiterleitungsstelle, einer Organisation des Landesarbeitsamtes Südbayern. Da eine Weiterleitung der von der Reise erschöpften Arbeitskräfte am selben Tag oft nicht mehr möglich war und der Münchner Hauptbahnhof weder über ausreichend Aufenthalts- noch Waschräume verfügte, wurde bereits 1960 ein ehemaliger Luftschutzbunker zur Unterbringung der Ankommenden adaptiert. Auf den rund 500 Quadratmetern des noch aus den Kriegsjahren stammenden Bunkers wurden Wasch-, Schlaf- und Aufenthaltsräume sowie ein Ärztezimmer und Küchen zur Versorgung der Migrant*innen eingerichtet. Ein großer Vorteil dieser Unterkunft war, dass es einen direkten Zugang vom letzten Bahnsteig der Bahnhofshalle (Gleis 11) gab, weshalb von nun an auch alle Züge mit Arbeitsmigrant*innen dort ankamen. Auf keinen Fall wollten die Verantwortlichen der Bundesanstalt für Arbeit die erschöpften Arbeitsmigrant*innen samt Gepäck zur nächstmöglichen Unterkunft durch München leiten (vgl. Jamin 1998: 162ff.). Dazu ein Vertreter der Bundesanstalt: »Müßte man sie in diesem Zustand in Marschkolonnen durch den Straßenverkehr führen, so würde damit dem Ansehen der Bundesrepublik in den Heimatländern und dem Ansehen der Heimatländer der Gastarbeitnehmer schwerer Schaden zugefügt« (Bundesanstalt für Arbeit, zit.n. Jamin 1998: 163). Weiter hieß es auch, dass »es unmöglich sei, Transporte über die Straße zu leiten, weil dadurch der Eindruck eines Kriegszustandes geschaffen würde« (ebd.).
Die Arbeitsmigrant*innen hatten bereits eine anstrengende Reise hinter sich, auf der sie kaum ausreichend Möglichkeit zur Körperhygiene hatten. Die meisten waren übermüdet und so mancher klagte über Kreislaufprobleme und musste medizinisch betreut werden. Der Bundesanstalt für Arbeit war natürlich an einer vernünftigen Versorgung der Arbeitsmigrant*innen gelegen, wofür sich die direkt am Hauptbahnhof gelegene Unterkunft geradezu anbot. Gleichzeitig wollte man aber weder den heimischen noch den ausländischen Gegner*innen der Anwerbeabkommen die Bilder liefern, die diese in ihrer Kritik bestärken würden. Auch dafür war diese Unterbringung bestens geeignet, wie ein weiterer Vertreter der Bundesanstalt nochmals klar zum Ausdruck bringt: »Wir können es nicht wagen, objektiv ein Bild in Erscheinung treten zu lassen, wonach Transporte mit Arbeitern in heruntergekommenem Zustand über die Straßen ziehen« (ebd.: 164). Für die Öffentlichkeit sollten die ankommenden Migrant*innen möglichst unsichtbar bleiben, weshalb eine unauffällige Versorgung und Weiterleitung bevorzugt wurde. »Die Leute müssen möglichst schnell vom Bahnsteig verschwinden, um nicht den Eindruck des ›Sklavenhandels‹ zu schaffen« (ebd.). Die Argumente der Bundesanstalt für Arbeit sprechen eine eindeutige Sprache. Assoziationen mit Bildern von Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern sollten unbedingt vermieden werden. Indem man die angeworbenen Arbeitskräfte direkt vom letzten Bahnsteig des Bahnhofs in die adaptierte Unterkunft weiterleitete, behielt man die Kontrolle über Personen und Bilder. Gleichzeitig wurden die Arbeitsmigrant*innen von den übrigen Reisenden getrennt, sodass der ›Normalbetrieb‹ des Bahnhofs trotz der vielen zusätzlich Ankommenden störungsfrei weiterlaufen konnte. Die oben erwähnte Kontrolle über die Bilder fand ihre Entsprechung auch in der bürokratischen Diktion, die zunehmend achtsamer wurde. Sprach man anfänglich noch von Transporten der angeworbenen Arbeitskräfte, wurde dieser Begriff bald durch die Bezeichnung Sammelreise ersetzt (vgl. ebd.).
Aus den folgenden Zahlen wird der Umfang der Ankünfte am Münchner Hauptbahnhof deutlich. Allein im Jahr 1970 erreichten rund 260.000 Arbeitsmigrant*innen die Münchener Weiterleitungsstelle. Gerechnet auf Werktage waren dies etwa 1.000 Personen pro Tag, die versorgt werden mussten. Insgesamt wurden zwischen 1960 und 1973 rund 1,8 Millionen Menschen von der Weiterleitungsstelle empfangen (vgl. ebd.: 167; Jamin 2004: 150). Wie bereits deutlich wurde, sollten die vielen neuankommenden Arbeitskräfte nicht in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten. Dieser politischen Strategie entsprach aber umgekehrt auch, dass einzelnen Personen zu bestimmten Anlässen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So wurde der millionste Arbeitsmigrant, der von der Weiterleitungsstelle empfangen wurde, feierlich der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ehre wurde dem türkische Staatsbürger Ismail Babader zuteil, der zu diesem Anlass vor versammelter Presse einen Fernsehapparat überreicht bekam (vgl. Jamin 1998: 167).
Der behördlich organisierte kollektive Transfer der Arbeitsmigrant*innen bestimmte die frühe Phase der Gastarbeitermigration, in der die angeworbenen Arbeitskräfte häufig zum ersten Mal in die Beschäftigungsländer kamen. Die Bahn schien dafür das passende Verkehrsmittel zu sein, da damit sehr viele Menschen mit relativ geringem Kostenaufwand befördert werden konnten. Für jene Arbeitsmigrant*innen, die ihre Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis weiter verlängerten und sich mit ihren Ersparnissen ein eigenes Auto kaufen konnten, vollzog sich aber relativ bald der Übergang zur individuellen Mobilität.
Das Auto
Die individuelle Mobilität jugoslawischer und türkischer Arbeitsmigrant*innen nahm bereits gegen Ende der 1960er Jahre deutlich zu, was sich etwa im Anstieg des Transitverkehrs durch Österreich zeigt (vgl. Pfaffenthaler 2012: 156ff). Die Entscheidung für den privaten Pkw erfolgte bei vielen Migrant*innen demnach bereits vor dem Anwerbestopp 1973. Mit dem Anwerbestopp und dem damit verbundenen Familiennachzug kam es zu einer weiteren Zunahme der individuellen Mobilität, was im Wesentlichen zwei Gründe hatte: Zum einen wurden die behördlich organisierten Sammelreisen weitgehend eingestellt und zum anderen reiste man nun vermehrt mit der ganzen Familie, wofür ein eigenes Fahrzeug schlichtweg günstiger und praktischer war. Es kann also festgehalten werden, dass spätesten ab 1973 das Auto für die Mobilität der Migrant*innen immer wichtiger wurde und dass im gleichen Maße die Bahnreise an Bedeutung verlor. Mit der allmählichen Verlagerung des Lebensmittelpunktes in das Beschäftigungsland änderte sich aber auch die Bedeutung des Reisens selbst. Die Rückreise war nicht mehr die Folge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – wie es in der frühen Phase der Arbeitsmigration noch der Fall war –, sondern bekam zunehmend den Charakter einer Urlaubsfahrt. Nach Ende des Urlaubs kehrte man wieder an den Arbeitsplatz im Beschäftigungsland zurück. Erst ab hier kann von transnationaler Mobilität gesprochen werden, da sowohl der Herkunfts- als auch der Beschäftigungsort zu zentralen Bezugspunkten im Leben der Migrant*innen wurden. Laut Heinz Fassmann geht transnationale Mobilität »einher mit einer realen Existenz in zwei Gesellschaften, mit dem Aufbau eines grenzüberschreitenden Aktionsraumes und einer damit verknüpften Hybridität der kulturellen Identifikation« (Fassmann 2003: 435).
Im Kontext der Gastarbeitermigration kommt dem Auto eine doppelte Bedeutung zu. Das Auto war zunächst Prestigeobjekt, dessen Erwerb von vielen – hauptsächlich männlichen – Arbeitsmigrant*innen zu einem der vorrangigen Migrationsziele erklärt wurde. Oft gab die Rückkehr mit dem eigenen Auto auch den Anstoß dafür, dass weitere dem Beispiel der Migrant*innen folgten und sich ebenfalls im Ausland eine Anstellung suchten (vgl. Hunn 2004: 77; Brunnbauer 2007: 124). Als relativ preiswertes Verkehrsmittel war das Auto aber auch wesentliche Voraussetzung für das Aufrechterhalten sozialer Beziehungen über große Entfernung und somit Bedingung transnationalen Mobilität.
Wie sahen nun die Mobilitätspraktiken der Arbeitsmigrant*innen konkret aus? Eine Studie über jugoslawische Migrant*innen, die Anfang der 1980er-Jahre in Wien lebten und arbeiteten, kann darüber Aufschluss geben.6 In dieser Studie wurden die Investitionen in das Wohnumfeld, der Umfang der Rücküberweisungen sowie die Häufigkeit der Rückreisen erhoben. Gefragt wurde auch nach den Familienangehörigen, die teils in Jugoslawien und teils in Wien lebten. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass lediglich 7 % der jugoslawischen Haushaltvorstände keinen oder kaum mehr Kontakt zur alten Heimat hatten. Weder hatten sie engere Familienangehörige im Herkunftsort, noch besuchte sie diesen regelmäßig. Der Großteil ihrer Investitionen wurde in Österreich getätigt. Dagegen wurden 30 % der Arbeitsmigrant*innen als rückkehrbereit eingestuft. Die Ersparnisse dieser Gruppe flossen überwiegend in den Herkunftsort zurück. Dort wurde auch in eine Wohnung oder in den Hausbau investiert, weshalb auch die Wohnverhältnisse in Wien meist bescheiden blieben. Der Großteil der Familienangehörigen – auch Ehefrauen und Kinder – lebte im Herkunftsort. Eine spätere Rückkehr war fest geplant. Die größte Gruppe von 60 % wies dagegen Kennzeichen der Bindung an Herkunfts- sowie Beschäftigungsort auf. Teile der Familie lebten in Wien, doch bestand auch weiterhin enger Kontakt zu den im Herkunftsort verbliebenen Angehörigen. Investiert wurde sowohl in die Wiener Wohnung als auch in den Hausbau in Jugoslawien. All dies deutet darauf hin, dass die Optionen offenblieben und man die Entscheidung zwischen Rückkehr oder Verbleib noch nicht fällen wollte bzw. konnte (vgl. Lichtenberger 1984: 480ff).
Die größte Gruppe der befragten Arbeitsmigrant*innen zeigte also bereits Anfang der 1980er-Jahre alle Kennzeichen transnationaler Mobilität, da sie sich sowohl nach dem Herkunftsort als auch nach dem Beschäftigungsort orientierten. Dies galt dagegen nicht für jene Gruppe, die einen starken Rückkehrwunsch äußerte, doch war gerade ihre ausgeprägte Rückkehrorientierung auch der Grund dafür, dass sie häufig ihren Herkunftsort aufsuchten. Folglich kann festgehalten werden, dass ganze 90 % der interviewten Personen regelmäßig zwischen Jugoslawien und Österreich pendelten. Die Häufigkeit der Reise war dabei von unterschiedlichen Faktoren abhängig, wie etwa von der zurückzulegenden Distanz. Mit größerer Entfernung nahm die Rückreisehäufigkeit deutlich ab, wie ein Vergleich der Herkunftsorte zeigt. Während die Arbeitsmigrant*innen aus Bosnien-Herzegowina sechsmal und öfter ihren Herkunftsort besuchten, fuhren die befragten Personen aus Makedonien lediglich einmal im Jahr zurück (vgl. Lichtenberger 1984: 179ff.).
Die Bahn spielte Anfang der 1980er-Jahre für das Pendeln der jugoslawischen Arbeitsmigrant*innen kaum noch eine Rolle, was u.a. auch auf die gute Fernreisebusverbindung zwischen Österreich und Jugoslawien zurückgeführt werden kann. Mit dem Bus reisten vor allem jene, die alleine unterwegs waren. Dies galt besonders für die in Wien alleinlebenden Arbeitsmigrantinnen, die häufig nach Hause fuhren, um ihre Familien zu besuchen. Unter den befragten männlichen Haushaltsvorständen gab beinahe jeder zweite an, mit dem eigenen Auto nach Jugoslawien zu fahren (vgl. Lichtenberger 1984: 181f.). Für die Frage nach der Transformation migrantischer Mobilität besonders spannend ist, dass in der Studie ein klarer Zusammenhang von Haushaltsgröße und der Bereitschaft zur Anschaffung eines Autos nachgewiesen werden konnte. Bei größeren Hausalten – meist im Umfang von vier bis fünf Personen – war der Anteil an Autobesitzern am größten. Demnach fuhren jene Migrant*innen, die in Wien bereits einen eigenen Haushalt gegründet hatten, meist mit dem eigenen Auto und der gesamten Familie nach Jugoslawien. Für die Autorin der Studie, Elisabeth Lichtenberger, ist das Auto hier von zentraler Bedeutung, da es »zur Aufrechterhaltung der ambivalenten Existenz der Gastarbeiter« wesentlich beitrug (Lichtenberger 1984: 463). Der Befund von Lichtenberger bestätigt die oben angestellten Überlegungen, nämlich, dass die individuelle Mobilität der Arbeitsmigrant*innen durch den Familiennachzug verstärkt wurde und sich in der Folge häufig zur transnationalen Mobilität zwischen zwei Lebensmittelpunkten wandelte.
Die Straße
Wie gezeigt wurde, vollzog sich der Übergang des behördlich organisierten kollektiven Transfers zur individuellen bzw. transnationalen Mobilität der Arbeitsmigrant*innen bereits Anfang der 1970er-Jahre. In Österreich wurde dies besonders auch an den Grenzübergängen deutlich, da die Zahl der Arbeitsmigrant*innen, die mit dem eigenen Pkw ein- bzw. ausreisten, zu dieser Zeit enorm anstieg. Die österreichischen Grenzübergänge wurden dabei aber nicht nur von Arbeitsmigrant*innen passiert, die in Österreich beschäftigt waren, sondern vor allem auch von jenen, die in Deutschland arbeiteten. Da in der Bunderepublik Deutschland wesentlich mehr Migrant*innen beschäftigt waren als in Österreich, war auch ihr Anteil am grenzüberschreitenden Verkehr deutlich höher. Die große Zahl an durchreisenden Arbeitsmigrant*innen hatte auch zur Folge, dass die Transitstrecke zwischen der Grenzstation am Salzburger Walserberg und dem Grenzübergang zu Jugoslawien im steirischen Ort Spielfeld zunehmend als Gastarbeiterroute bezeichnet wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung rief diese Transitstrecke überwiegend negative Konnotationen hervor, die von Stau- und Unfallmeldungen getragen wurden. Bevor auf die politische Dimension des als Gastarbeiterverkehr bezeichneten Transitverkehrs eingegangen wird, sollen folgende Zahlen aus Verkehrserhebungen den massiven Anstieg der migrantischen Mobilität deutlich machen. Solche Erhebungen zeigen aber bereits, dass die Klassifikation der durchreisenden Arbeitsmigrant*innen mitunter schwierig war und nicht eindeutig sein konnte.
Laut Verkehrszählungen nahm der durchschnittliche tägliche Verkehr entlang der Gastarbeiterroute zwischen 1970 und 1975 um ganze 60 % zu. Dabei war der Anteil des Güterverkehrs am Gesamtverkehr mit rund einem Viertel zwar relativ hoch, jedoch dafür zeitlich gleichmäßig verteilt. Im Gegensatz dazu trat der Gastarbeiterverkehr vor allem in den Sommermonaten und zu den übrigen Ferienzeiten, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, verstärkt auf. Zu Verkehrsspitzenzeiten zählte man hier bis zu 30.000 Fahrzeuge am Tag, was für eine zweispurige und weitgehend schlecht ausgebaute Bundesstraße zu jener Zeit eine absolute Rekordbelastung bedeutete (vgl. Theussl/Pritz 1976: 2ff.). Nach einer Verkehrserhebung am Grenzübergang Spielfeld (Erhebungstag 20. Juli 1978) waren mehr als zwei Drittel der gezählten Fahrten dem Urlauberreiseverkehr zuzurechnen. Am stärksten war an diesem Tag der Transitverkehr aus der Bundesrepublik Deutschland, der Richtung Jugoslawien und den übrigen südosteuropäischen Staaten verlief (vgl. Dorfwirth 1978). Es kann angenommen werden, dass die Urlaubsreisenden an jenem Tag hauptsächlich Arbeitsmigrant*innen waren, da laut Erhebung nur wenige Durchreisende zu den Urlaubsdestinationen an der Adria unterwegs waren. Außerdem betrug die mittlere Fahrtweite der Reisenden mehr als 1.250 Kilometer, was für eine Urlaubsreise Ende der 1970er-Jahre eine eher unübliche Distanz war (vgl. Dorfwirth 1978).
Wie sich Urlauber- und Gastarbeiterverkehr genau verteilten, kann aber nur mehr schwer rekonstruiert werden, da auf eine Differenzierung aus erhebungstechnischen Gründen meist verzichtet wurde. Dieser Verzicht hatte aber auch damit zu tun, dass ab dem Anwerbestopp 1973 eine genaue Definition von Gastarbeiter immer schwieriger wurde. Der Leiter der genannten Verkehrserhebung Josef Dorfwirth führt dazu folgendes aus: »Der Gastarbeiterverkehr zwischen Heimat und dem Land des ständigen Arbeitsplatzes nimmt eine Sonderstellung ein, je nach dem Standpunkt der Betrachtung kann er dem Urlaubsreiseverkehr, aber auch dem Arbeitspendlerverkehr (Jahrespendler, Saisonpendler) zugeordnet werden« (Dorfwirth 1983: 19). Die individuelle Mobilität der Arbeitsmigrant*innen stellte für die Verkehrswissenschaftler*innen demnach eine besondere Herausforderung dar, da eine genaue Klassifikation nur schwer möglich war. Der sukzessive Übergang zur transnationalen Mobilität verwischte die definitorischen Grenzen; aus den einstigen Arbeitspendler*innen wurden allmählich Urlaubsreisende. Mit dieser Definitionsfrage griffen die Verkehrswissenschaftler*innen aber lediglich ein Thema auf, das in der Politik lange Zeit ignoriert wurde, nämlich, dass sich die temporäre Arbeitsmigration zur dauerhaften Einwanderung wandelte (vgl. Bade 2000: 315; Parnreiter 1994: 67).
Die Frage, ob Arbeitspendler*innen oder Urlaubsreisende, war für die Bewohner*innen der Anrainergemeinden der Gastarbeiterroute dagegen eher zweitrangig, da sie so oder so mit den Konsequenzen des Transitverkehrs leben mussten. Die Verkehrsbelastung entlang des steirischen Abschnitts der Gastarbeiterroute war enorm. Besonders problematisch war die Situation in den gewachsenen Straßendörfern, wo die Bundestraße oft mitten durch den Ortskern führte und die Dörfer so buchstäblich in zwei Teile getrennt wurden. Von den politisch Verantwortlichen fühlten sich die Anrainer*innen meist im Stich gelassen, weshalb man selbst die Initiative ergriff und mit Protestaktionen und Straßenblockaden auf die Verkehrsprobleme aufmerksam machte (vgl. Pfaffenthaler 2014: 85ff).
Neben der hohen Transitbelastung dominierten vor allem die unzähligen Verkehrsunfälle das Bild der Gastarbeiterroute. Zu Verkehrsspitzenzeiten wurde in den Medien so gut wie täglich über schwere Unfälle und lange Stauzeiten berichtet, wodurch die Straße tragische Bekanntheit erlangte. Anfang der 1970er-Jahre gab es keinen Straßenzug in Österreich, der mehr Unfallschwerpunkte aufwies als die Gastarbeiterroute. Laut einer Erhebung des österreichischen Kuratoriums für Verkehrssicherheit, die zwischen 1970 und 1972 durchgeführt wurde, lag der Anteil der als Gastarbeiterunfälle bezeichneten Verkehrsunfälle durchschnittlich bei 32 %, zu Verkehrsspitzenzeiten sogar bei bis zu 50 %. Eine wesentliche Ursache dieser hohen Unfallhäufigkeit sah man dabei im Fahrverhalten der Arbeitsmigrant*innen. Als häufige Unfallgründe wurden das Überholen an unübersichtlichen Stellen sowie Übermüdung der Fahrzeuglenker*innen angegeben.7 Des Weiteren wurde die mangelnde Fahrpraxis so mancher Verkehrsteilnehmer*innen und der schlechte Zustand der Fahrzeuge kritisiert, die oft über das zulässige Maß hinaus beladen waren (vgl. Bereza-Kudrycki 1973: 16f; Theussl/Pritz 1976: 11).
Die hohen Unfallzahlen und das starke Verkehrsaufkommen dominierten lange Zeit die mediale Berichterstattung rund um die Gastarbeiterroute. Die Mobilität der Arbeitsmigrant*innen wurde in Österreich von einem regen Medieninteresse begleitet. Bereits vor Beginn der Urlaubszeit wurde in den Tageszeitungen auf den bevorstehenden Reiseverkehr hingewiesen und über dessen Ausmaß spekuliert. Dennoch wurde der Gastarbeiterverkehr meist als ein plötzlich auftretendes Ereignis dargestellt, der in seiner Vehemenz die Anrainer*innen buchstäblich überrollte. Der jähe Anstieg des Gastarbeiterverkehrs wurde dabei oft als ein ›Einbruch des Fremden auf heimischen Straßen‹ dargestellt und die darin enthaltene Differenzsetzung nochmal durch die Gegenüberstellung von ›Verkehrschaos‹ und ›landschaftlicher Beschaulichkeit‹ verstärkt (vgl. Pfaffenthaler 2014: 116ff). Um das massive Auftreten des Gastarbeiterverkehrs hervorzuheben, bediente man sich in der Berichterstattung auch einer starken Katastrophenmetaphorik. So wurden z.B. kurz vor Ostern des Jahres 1972 die ersten Autos durchreisender Arbeitsmigrant*innen als »Vorgeschmack auf die österliche Gastarbeiterlawine« bezeichnet (Kleine Zeitung 26.03.1972: 5). Dazu heißt es im entsprechenden Artikel der Kleinen Zeitung weiter:
»Der Hauptansturm wird allerdings erst für die Osterwoche selbst erwartet. Bis zum Gründonnerstag dürfte sich nach Ansicht der Verkehrsexperten die Reisewelle in einem noch erträglichen Rahmen halten, dann aber wird eine Lawine losbrechen, wie sie Österreich und speziell davon die Gastarbeiterroute in der Steiermark noch nie erlebt hat. In der Bundesrepublik haben niemals so viele Gastarbeiter aus den Ländern des Balkans gearbeitet wie heuer. […].« (ebd.)
Indem sie den Gastarbeiterverkehr mit Naturkatastrophen gleichsetzen, trugen solche Sprachbilder wesentlich zum negativen Diskurs der Gastarbeiterroute bei. Einer ähnlichen Darstellungsstrategie folgten Berichte, die die Mobilität der Migrant*innen als scheinbar natürlichen Wandertrieb deklarierten. Die Gastarbeiterroute wurde darin u.a. als »Trampelpfad« bezeichnet, dem die Arbeitsmigrant*innen quasi instinktiv folgen würden (Neue Zeit 05.08.1977: 1). Die hier beschriebene Naturalisierung des Gastarbeiterverkehrs fand ihr Äquivalent in der Ethnisierung des Fahrverhaltens der Migrant*innen. Dabei wurde den Fahrzeuglenker*innen Fatalismus und fahrlässiges Fahrverhalten vorgeworfen, mit denen sie sich selbst und auch alle übrigen Verkehrsteilnehmer*innen gefährden würden (vgl. Pfaffenthaler 2014: 122). Die Berichte über die Gastarbeiterroute nehmen in der österreichischen Medienberichterstattung eine Sonderstellung ein, insofern sie noch vor dem Anwerbestopp für negative Schlagzeilen sorgten, die später im ›Ausländerdiskurs‹ aufgehen sollten (vgl. Fischer 2009).8 Gleichzeitig spiegelt die Berichterstattung weder die öffentliche Meinung noch die politische Diskussion zur Gänze wider, obwohl auch dort die Bilder der Medien präsent waren und immer wieder aufgegriffen wurden.
Um vor allem den Unfallzahlen entgegen zu wirken, wurden von der Politik und den zuständigen Verkehrsbehörden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, wozu auch strengere Verkehrskontrollen und höhere Strafen zählten. Ergänzt wurden diese Maßnahmen durch verschiedene Initiativen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, wie etwa durch das Aufstellen mehrsprachiger Hinweis- und Warnschilder. Auf Türkisch und Serbokroatisch wurde auf solchen Schildern z.B. zum Rastmachen aufgefordert. Ein aus verkehrsplanerischer Sicht besonders ambitioniertes Projekt zur Unfallprävention stellte der sogenannte ›Moslem Rastplatz‹ dar. Im Sommer 1985 wurde in der Gemeinde Mautern, die etwa in der Mitte des steirischen Abschnitts der Gastarbeiterroute liegt, ein Rastplatz speziell für durchreisende Arbeitsmigrant*innen adaptiert. So wurden etwa die im Imbiss angebotenen Speisen ohne Schweinefleisch und Alkohol zubereitet. Neben dem Imbiss gab es einen Spielplatz, eine Station des Roten Kreuzes und ein provisorisch eingerichtetes Gebetshaus. Der ›Moslem Rastplatz‹ war auch in den Sommermonaten der kommenden Jahre geöffnet; eine permanente Unterhaltung konnte aus Kostengründen jedoch nicht realisiert werden (vgl. Lohmayer 1988: 38f).
Trotz solcher Initiativen blieben Begegnungen zwischen den durchreisenden Migrant*innen und den Anrainer*innen der Straße meist ephemer. Neben den Einsatzkräften der Gendarmarie und der Rettungsdienste trafen hauptsächlich die Mitarbeiter*innen der Raststätten und Imbissbuden mit den Reisenden zusammen. Oft wurde gezielt um die vielen vorüberfahrenden Arbeitsmigrant*innen geworben, indem türkische Fähnchen angebracht oder das Speisenangebot auf Türkisch angeschrieben wurden. Vor allem am Grenzübergang Spielfeld, wo es aufgrund der genauen Grenzkontrollen der jugoslawischen Beamten immer wieder zu langen Wartezeiten kam, florierte das Geschäft. Innerhalb weniger Jahre entstand dort ein eigner kleiner Wirtschaftsraum mit Geschäften, Tankstellen, Imbissstuben und Gasthäusern (vgl. Payer 2004: 126ff).
In der politischen Diskussion hatten diese wenigen wirtschaftlichen Erfolge kaum Gewicht, vielmehr war man sich darin einig, dass der Gastarbeiterverkehr mehr Probleme als Nutzen mit sich brachte. Immer wieder wurde hervorgehoben, dass Österreich die Kosten für das erhöhte Verkehrsaufkommen tragen musste, ohne davon in irgendeiner Form zu profitieren. Oft folgte darauf der Hinweis, dass die durchreisenden Arbeitsmigrant*innen unterwegs kaum Geld ausgeben würden. Diese Engführung auf ein Kosten-Nutzen-Argument kann hier nicht losgelöst von der allgemeinen Transitdiskussion in Österreich betrachtet werden. Letztlich geht es dabei um die Frage, wer für die Erhaltung der Straßen aufkommt und sie deshalb auch nutzen darf. Der Transitverkehr stellt für den modernen Straßenbau immer eine Herausforderung dar, da im 20. Jahrhundert Straßen vorwiegend der nationalen Integration dienten und deshalb ein hohes Maß an Identifikation aufwiesen.9 In einer solchen Argumentation fanden sich dann plötzlich auch die durchreisenden Arbeitsmigrant*innen und deutsche Adria-Touristen*innen auf derselben Seite wieder. So wurde z.B. beiden vorgeworfen, dem österreichischen Tourismus zu schaden, da sie die unbeschwerte Anreise der Urlauber*innen behindern würden.
Die in Österreich beschäftigten Arbeitsmigrant*innen blieben dagegen von der Transitdiskussion weitgehend ausgeklammert. Das lag zum einen natürlich daran, dass sie keine Transitreisenden waren und mit den in Deutschland beschäftigten Migrant*innen lediglich an den Grenzübergängen zusammentrafen. Zum anderen gab es aber auf politischer und medialer Ebene auch eine klare Solidarisierung mit den ›heimischen‹ Arbeitsmigrant*innen. In der Logik des Kosten-Nutzen-Argumentes hatten sie am Aufbau des gemeinsamen Wohlstands Anteil, während dies bei den durchreisenden Arbeitsmigrant*innen nicht der Fall war.
Resümee
Den Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen bildeten die veränderten Mobilitätspraktiken der Arbeitsmigrant*innen. Dabei wurde gezeigt, dass sich Anfang der 1970er-Jahre ein Übergang vom behördlich organisierten kollektiven Transfer der angeworbenen Arbeitskräfte hin zur individuellen Mobilität vollzog. Gleichzeitig konnte festgestellt werden, dass dieser Übergang eng mit den sich wandelnden Migrationsregimen des Gastarbeitersystems zusammenhing. Die Anwerbung und der Transfer tausender Arbeitskräfte brachte einen enormen Organisationsaufwand mit sich, der einen entsprechenden politischen Willen voraussetzte. Mit dem Wegfall dieses politischen Willens wurde die individuelle Mobilität der Arbeitsmigrant*innen nicht nur verstärkt, sondern auch zunehmend zur Herausforderung. Dies hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Erstens tendiert individuelle Mobilität immer dazu, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Im Kontext der Gastarbeitermigration wird dies besonders deutlich, stellt man den behördlich durchorganisierten Transfer der Arbeitsmigrant*innen, der oft als ›chaotisch‹ beschriebenen Verkehrssituation entlang der Gastarbeiterroute gegenüber. Zweitens verstärkten die veränderten politischen Rahmenbedingungen nach dem Anwerbestopp die Tendenz zur transnationalen Mobilität, was klare Zuordnungen und eindeutige Zuschreibungen erschwerte. Das grenzüberschreitende ›Pendeln‹ zwischen zwei Lebensmittelpunkten forderte also nicht nur die klassischen Konzepte der Verkehrswissenschaftler*innen, sondern auch die politische Klassifikation der Arbeitsmigrant*innen.
Literatur
Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München.
Bereza-Kudrycki, W. (1973): Gastarbeiterunfälle. In: Kuratorium für Verkehrssicherheit. Verkehrstechnischer Informationsdienst 1. 16–18.
Brunnbauer, Ulf (2007): Jugoslawische Geschichte als Migrationsgeschichte (19. und 20. Jahrhundert). In: Brunnbauer, Ulf / Helmedach, Andreas / Troebst, Stefan (Hg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. München. 111–131.
Dorfwirth, Josef R. (1983): Struktur und räumliche Verteilung des Straßentransitverkehrs in Österreich. In: Halbmayer, Karl / Gürtlich, Gerhard (Hg.): Transitverkehr in Österreich. Dokumentation des internationalen Verkehrssymposiums Feldkirch 1983. Wien. 16–30.
Dorfwirth, Josef R. (1978): Straßenverkehrserhebung. Steiermark Spielfeld, Staatsgrenze (Jugoslawien). Durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums für Bauten und Technik. Bundesstraßenverwaltung, Sekt. III, Abt. 1. Wien.
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