Abstract The article discusses the fundamental relationship between migrants’ existential waiting in Athens and the polysemic EUropean border regime after the closure of the so called Balkan Route. A conception of the border as a regime, operating not just at physical borders or within mechanisms of European border externalization but unfolding its existential impact also within cities, allows to outline its practices of classification which deprive migrants of their possibility to act, to live and to move on. To think this regime as embedded in complex relations of a specific territorial assemblage makes it possible to connect these dynamic power relations of the EUropean border regime and the existential waiting of migrants with networks of resistance in Athens, whereas the latter are focusing on collective practices, ranging from a refusal of the long-term wait to concrete exit strategies, enabling migrants to speak and to act together on an equal level. Thus, these networks are an important factor of local changes and collective mutations of the dominance of the border regime.
Keywords research in Athens, border regime, existential waiting, exit strategies, collective migrant struggles
Infolge der Schließung der sogenannten Balkanroute, die in etwa gleichzeitig mit der Implementierung des EU-Türkei-Abkommens erfolgte, konnten Geflüchtete Griechenland ab Mitte März 2016 nicht mehr verlassen, um in andere Länder weiterzureisen. Die Bedeutung des Landes veränderte sich damit entscheidend: Dem zuvor überwiegend als Transitland genutzten Griechenland kam die Rolle eines Aufnahmelands zu und die griechischen Inseln wurden zu einem »De-Facto-Wartesaal umfunktioniert« (Amnesty 2017b). Im Zuge dieser veränderten Lage entstand eine Interferenz von architektonischen, infrastrukturellen, finanziellen und sicherheitstechnischen Strukturen des Provisorischen, einer betont kurzen und tatsächlich langen Dauer, die sich im Warten Geflüchteter in ungewissen Übergangsstadien, dauerhaften Schwellenzuständen, »endless temporary situations« (Digidiki/Bhabha 2017: 25) manifestiert. Migrationsbezogenen Phänomenen des Zeitlichen wurde in wissenschaftlichen Diskursen nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser einseitige Blickwinkel wird besonders in einem blinden Fleck gegenüber dem Warten deutlich.1 Diesem Warten als existenziellem politischem Phänomen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, ist ein Versuch, Situationen Geflüchteter in Athen adäquat zu verhandeln.
Im Juli 2017 habe ich 17 semi-strukturierte Interviews mit unterschiedlichen Akteuren in Athen geführt: mit Geflüchteten und MigrantInnen, Volunteers, VertreterInnen (inter)nationaler NGOs und der Regierung. Es ging mir darum, unterschiedliche Positionen zu den Effekten des langen Wartens von Geflüchteten und MigrantInnen in Athen zu sammeln. Zudem konnte ich durch Gespräche und Begegnungen off the record ein Gefühl für die Situation entwickeln. Im Mai und Juni 2018 kehrte ich nach Athen zurück und unterrichtete Deutsch für Geflüchtete und MigrantInnen in einer lokalen NGO.
Ich möchte im Folgenden (1) Grenzen als Regime denken, die in territorialen Gefügen wirksam werden und in einem relationalen Verhältnis zu Praktiken des Widerständigen stehen. Anschließend werde ich (2) das lange Warten von Geflüchteten und MigrantInnen in Athen als ein existenzielles Warten innerhalb des Gefüges herausarbeiten, um (3) Exit-Strategien von Graswurzelinitiativen nachzuzeichnen, die lokale Mobilitätsfelder entwerfen und damit die Qualität des Wartens transformieren.
Grenz-Regime
Um den Zusammenhang zwischen Migrationsbewegungen und Grenzen herausarbeiten zu können, bedarf es eines Grenzbegriffs, der Grenzen als Regime denkt und notwendig komplex ist. Grenzen variieren in ihren Funktionen, technischen und technologischen Verfasstheiten und sind immer in spezifische historische Settings und geopolitische Kontexte eingebettet (vgl. Balibar 2002a: 77ff.). So rückte der sich insbesondere in den 1990er Jahren vollziehende processual shift »from the concept of border to the notion of bordering practice« (Brambilla 2015: 17) Grenzen als soziale und räumliche Verhältnisse in ihrer Dynamik verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Analysen (vgl. Brambilla 2015: 15; Mezzadra/Neilson 2013: 3). In Abgrenzung zu binären Kategorien und Verhältnissen soll der hier skizzierte Regime-Begriff die Pluralität von Akteuren, Diskursen, Infrastrukturen und Bewegungslinien ins Blickfeld rücken, die mehr oder weniger konstitutive Rollen in der Produktion, Aufrechterhaltung und Veränderung von Grenzen einnehmen (vgl. Karakayali/Tsianos, 2007: 14; De Genova et al. 2015: 69; Fiedler et al. 2017: 11).
Grenzregime sind Ensembles aus unterschiedlichen Praktiken, Wissens- und Machtstrukturen, die ebenso technische und technologische Bedingungen und Vorrichtungen, Architekturen sowie menschliche und nicht-menschliche Akteure umfassen. Sie konstituieren spezifische Örtlichkeiten und Zeitlichkeiten und bedürfen einer stetigen Arbeit des Aufrechterhaltens: des Reagierens, Reparierens und Problemlösens. Grenzregime sind damit nie per se gegeben, sondern immer im Prozess einer stetigen (Wieder-)Herstellung. Durch ihren polysemischen Charakter (vgl. Balibar 1997: 8; 2002a: 79ff.) fungieren sie als »Selektionsmaschinen« (Horn/Kaufmann/Bröckling 2002: 7). Grenzregime sind so immer auch Klassifikationsregime, die Mechanismen des Ausschlusses, Übergangs und Kontakts organisieren und regulieren. Sie bringen relationale rechtliche und existenzielle performative Unterscheidungen zwischen legal/illegal und schutzbedürftig/nicht schutzbedürftig hervor (vgl. u.a. De Genova et al. 2015: 58, 71; Fiedler et al. 2017: 10; Picozza 2017: 85): »several types of aliens and alienness and several different modes of border-crossing« (Balibar 2002a: 80). Sie generieren Abstufungen des Aufenthaltsstatus oder schaffen ein Dazwischen in einem Zustand der Unsicherheit, der entweder von kurzer oder langer Dauer sein kann. Grenzregime agieren nicht nur innerhalb physischer Grenzzonen oder durch Prozesse der Externalisierung im Sinne eines geografisch zu erweiternden Wirkungsbereichs.2 Sie entwickeln ihre Operativität in netzwerkartigen Strukturen der Kontrolle (vgl. Horn/Kaufmann/Bröckling 2002: 21), nicht nur an den Rändern von Gebieten, sondern »haben sich ein wenig überallhin verlagert, dorthin, wo der Verkehr der Informationen, Personen und Sachen stattfindet und kontrolliert wird, zum Beispiel in die kosmopolitischen Städte« (Balibar 2000: 20; vgl. dazu auch Balibar 2002a: 78ff.; Balibar 2002b: 89ff.; Amilhat Szary/Giraut 2015: 11). Grenzübergänge verlieren deshalb jedoch keineswegs an Bedeutung, sondern sind nunmehr nur noch ein Element eines komplexen Überwachungs- und Sicherheitsdispositivs (vgl. Amilhat Szary/Giraut 2015: 5).
Neben den Kontrollmechanismen des Grenzregimes spielen Migrationsbewegungen eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Lockerung, Aufrechterhaltung und Anpassung von Grenzen (vgl. De Genova et al. 2015: 69), indem sie dominante Ordnungs- und Klassifikationsraster des Grenzregimes verschieben. Es sind Praktiken des Subversiven, des Widerständigen, die Grenzen unterlaufen und in einer dynamischen wechselseitigen Beziehung zu Mechanismen der Kontrolle und ihrer Aufrechterhaltung stehen. So beschreiben Sabine Hess et al. den sogenannten langen Sommer der Migration 2015 nicht als ›Flüchtlingskrise‹, sondern vielmehr als »Niederlage des europäischen Grenzregimes« (Hess et al. 2017: 6), das insbesondere auch durch Migrationsbewegungen und Netzwerke aus AktivistInnen und Unterstützenden zustande kam, welche gleichsam wesentlich zu einer Re-Aktualisierung und Professionalisierung von Grenzen beitrugen (vgl. Hess et al.: 6ff.; Santer/Wriedt 2017: 141ff.). Daran zeigen sich temporäre Verschiebungen von Machtverhältnissen, welche die Beschaffenheit und Operativität von Grenzregimen neu bestimmen. Praktiken des Widerständigen, die nicht ausschließlich auf eine nicht autorisierte Überquerung der tatsächlichen physischen Grenzzone zu beschränken sind, stehen zu Praktiken des Grenzziehens in einem nicht genuin binären Verhältnis zueinander. Darauf verweist Natasha King, wenn sie schreibt: »Resistance to the border always seems faced with the dilemma of how to refuse the state while also engaging with it.« (King 2016: 5).
Um Konfigurationen des Widerständigen zu beschreiben, erweist sich der Begriff des Gefüges, wie ihn Gilles Deleuze und Félix Guattari in »Tausend Plateaus« (1992[1980]) skizzieren, als fruchtbar. Er soll als Vorschlag dienen, den Begriff des Grenzregimes zu relativieren, ohne ihn dabei zu entpolitisieren. Impliziert der Begriff des Gefüges eine Heterogenität verschiedener zusammenhängender zunächst hierarchieloser Operatoren, ermöglicht er es, Materielles, Technisches, Infrastrukturelles, Politisches und Performatives in rhizomatischen Konnexionen sichtbar zu machen. Grenzregime operieren immer innerhalb von raum-zeitlich situierten territorialen Gefügen, die den spezifischen Kontext umfassen, in dem das Grenzregime wirksam wird. In der Verbindung der Begriffe Grenzregime und Gefüge können sich konstituierende und lösende wechselseitige Beziehungen von Praktiken des Grenzziehens und Momenten des Widerständigen beschrieben werden, welche in ihrer Bewegung stets auch das Gefüge verändern (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 18). Dieser multi-dimensionale, heterogene, umkämpfte Verhandlungs- und Konfliktraum (vgl. De Genova et al. 2015: 69f.; Hess et al. 2015: 2) wird durch verschiedene Logiken organisiert, wie durch jene, die Organisiertes wieder auflösen, durch ständige Verschiebungen ihre Produktivität entfalten und Subjektivitäten hervorbringen, die in ihrer prozessualen Dimension, ihrem Werden untersucht werden müssen.
Warte-Situationen
Sich der politischen Dimension des Wartens in seinen verschiedenen existenziellen Konkretisierungen zu widmen, kann sich nicht in der Analyse eines situativen Wartens, mehr oder minder alltäglichen Situationen der Inkongruenz von Zeitrechnung und Zeitempfinden, erschöpfen. Vielmehr möchte ich auf Nadine Benz Konzeption eines unbestimmten, übergreifenden, existenziellen Wartens rekurrieren, eines »mehr oder minder freiwilligen ›Modus vivendi‹« (Benz 2013: 49). Dieses Verständnis, situiert zwischen erzwungenem Wartenmüssen und unbestimmtem Wartenlassen, lässt Machtkomponenten nicht nur sichtbar werden, sondern ermöglicht es, den Status der Unsicherheit von Geflüchteten und MigrantInnen in einer »transitären Lebensform« (Pikulik 1997: 14) zu problematisieren: Geflüchtete werden oft ans Ende der Wartehierarchie gedrängt und ihre Position ist zunächst abhängig von Faktoren des Wartenlassens, die ihre Handlungspotenziale maßgeblich bestimmen.
Das Warten, dieser raum-zeitliche Schwellenzustand, dem Flüchtende spätestens dann ausgesetzt sind, wenn sie ihre Reise antreten, endet meist nicht bei der Ankunft und wird in seiner Komplexität durch Mechanismen des Filterns, des Klassifizierens und der damit verbundenen Raum-Zeit-Organisation des EUropäischen Grenzregimes sichtbar:
»The EUropean asylum regime, in fact, not only produces new subjects of power in terms of legal entities – recognised refugees, rejected asylum seekers, Dublin cases, among others, but also produces space, in the form of geographies of transit and asylum, and time, through channelling, disrupting, decelerating, or speeding up circulation.« (Picozza 2017: 72).
An Fiorenza Picozza anschließend lässt sich zeigen, dass nicht nur die Organisation und Kontrolle von Raum in einem wechselseitigen Verhältnis zu Klassifizierungspraktiken stehen, sondern ebenso auch jene zeitliche Dimension, die sich zwischen unfreiwilliger Mobilität und erzwungener Immobilisierung in der Verflechtung von situativem und langem Warten manifestiert. Von Warte-Situationen zu sprechen, lässt also die Berücksichtigung einer doppelten Zeitlichkeit des Gefüges notwendig werden, die insbesondere dann entsteht, wenn das Situative durch eine ständige Wiederholung auf eigene Weise dominant wird und sich in einem doppelten Warten verstärkt. Im Kontext dieser Dominanz des Grenzregimes lässt sich schließlich Schillings Aussage verstehen, wenn er den Alltag Geflüchteter nicht als vom Warten begleitet, sondern als »vom Warten regelrecht dominiert« (Schilling 2002: 13) beschreibt.
Im Fokus dieser Betrachtung von Grenzregimen und Widerständigem in Athen liegt weniger ein globaler, als ein lokaler Kontext – »not only the ›big stories‹ of the nation-state construction, but also the ›small stories‹ that come from experiencing the border in day-to-day life« (Brambilla 2015: 25). Die Camps, in denen die Mehrheit der Geflüchteten in Athen untergebracht ist, befinden sich mit Ausnahme des zentraler gelegenen, 2015 eröffneten Eleonas Camps in den Vororten Athens. Sie sind auf eine unverzügliche Weiterreise Geflüchteter angelegt und damit Transitstationen. Das lange Warten Geflüchteter manifestiert sich so insbesondere in Architekturen des Provisorischen, die auf Übergänge verweisen, deren Dauer jedoch unbestimmt bleibt. Das Elliniko Camp im ehemaligen Athener Flughafen, das im Juni 2017 geschlossen wurde (vgl. Amnesty 2017b), möchte ich als paradigmatisches Beispiel für konkrete Warte-Situationen Geflüchteter in Athen anführen. Ein Ort, an dem Mechanismen des Grenzregimes das ›Wohnen‹ prekarisieren, Teil der von Étienne Balibar als »extraordinarily viscous spatio-temporal zone« beschriebenen Grenze: »almost a home – a home in which to live a life which is a waiting-to-live, a non-life« (Balibar 2002a: 83). »And then the police was coming and took them to the camps«, berichtet mir Amir Mojaddidi3, Geflüchteter aus Afghanistan, von der Situation im Stadtviertel Victoria im Frühjahr 2016, »the police was coming and took them to the camps not in houses, just in the camps«. Statt in homes oder houses ›wohnt‹ ein Großteil der Geflüchteten in Athen in Zelten (vgl. Amnesty 2017a), die als temporärer »Ausnahmeraum« (Marquardt/Folkers 2012: 303) stets den Akt eines schnellen Auf- und Abbauens sowie des Transports enthalten – immer schon Teil eines Klassifikationsrasters zwischen jenen, die wohnen und jenen, die warten. Das Spannungsverhältnis von temporärem Provisorium und langer Dauer zeigt sich schließlich dann, wenn das Zelt als vermeintliche Architektur des Übergangs die prekäre Warte-Wohn-Situation in seiner unbestimmten zeitlichen Ausdehnung sichtbar werden lässt. Nesrin Rahmani, Geflüchtete aus dem Iran, verbrachte seit ihrer Ankunft Ende Februar 2016 über ein Jahr in Elliniko und berichtet mir von ihren Erlebnissen: »The situation was terrible. It was a camp without rooms. All of the people were living in tents. When we came there first, we didn’t have bathrooms for taking a shower. When we wanted to take a shower, we went to the Centre of Athens.« Es ist zunächst das Fehlen ausreichender Sanitäranlagen, die hier das Gefüge bestimmen und situatives und langes Warten in doppelten Warte-Situationen zusammenführen. Darauf verweisen Nesrin und Milad Rahmani, wenn sie darauf eingehen, dass sie jedes Mal etwa eineinhalb Stunden Fahrt für die unsichere Möglichkeit einer Dusche auf sich nehmen müssen:
»And when we wanted to go, we couldn’t be successful every time. We went to a place near Victoria and when we came here, sometimes the bathrooms were full, so we couldn’t take a shower. […] When the bathroom was full, we had to come back again the next day. But usually we came to Victoria early in the morning to have time to take a shower. But with this organization, we could just use once a week, not more.«
Rahmani beschreibt ihren Alltag als dominiert von Architekturen des Wartens, dem Anstehen in Warteschlangen: »We were like a line… […]. We were waiting for the toilet, for the food, for everything, we had to wait… in the day and the night we just did the line, for everything… For the toilet, you should decide one hour before […].« Die Dominanz des Grenzregimes richtet sich direkt an den Körper, bestimmt die Bewegung, formt ihn zu einem Warte-Körper in doppelten Warte-Situationen und entzieht den Wartenden so jegliche Handlungsmacht. Das lange Warten in einem Status der Unsicherheit und andauernden Provisorien »beherrscht das Denken«, um auf Schilling zu rekurrieren, »beeinflußt jegliches Planen und Handeln, ergreift, physiologisch erkennbar, Körper und Psyche von Menschen« (Schilling 2002: 14). Nicht nur der Fluchtkörper in Bewegung wird angegriffen, sondern auch der stillstehende Körper, der Warte-Körper.
Exit-Strategien
Die von Schilling so zögerlich formulierte Frage: »Scheint dem Warten nicht der passive Modus des Erduldens und Hinnehmens eigen, oder hat das Ausharren und Überstehen einer Wartephase auch aktive Komponenten?« (Schilling 2002: 10f.), lässt sich mit Bazon Brock als Notwendigkeit zuspitzen: »Und es kommt darauf an, das Warten nicht passiv erdulden zu müssen, sondern zu einer Form des Handelns zu erheben.« (Brock 1990: 61) Denn, sich ausschließlich hemmenden Effekten des langen Wartens zu widmen, greift nicht nur zu kurz, sondern negiert Geflüchtete als handlungsfähige Subjekte. Dieser einseitigen Betrachtung entgegenwirkend, möchte ich Exit-Strategien als aus dem langen Warten resultierende, produktive Verweigerungen jener hemmenden Effekte in Athen hervorheben. Es sind spezifische Herangehensweisen, Praktiken sowie dynamische Strukturen verschiedener Netzwerke, die handlungsmachtstiftende Transformationen des Gefüges freisetzen und so produktiv auf die Interferenz von Provisorium und langer Dauer einwirken, ohne diese gänzlich aufzulösen. Bernd Kasparek zieht Bilanz aus dem Sommer 2015 und zeigt, wie sich in Zusammenhang mit einer unzureichenden Koordination des Ankommens Geflüchteter »Solidaritätsbewegungen von unten« (Kasparek 2017: 38) formiert haben, die durch ihre kollektive Arbeitsweise maßgeblich zur Bewältigung der entstandenen Situationen beitragen. Sie vermögen es, an lokalen Orten Fluchtvektoren innerhalb des Gefüges zu aktivieren, die (temporäre) Auswege aus hemmenden Effekten des Wartens ermöglichen, indem sie die Dominanz des Grenzregimes unterlaufen, das Gefüge und somit die Qualität des Wartens Geflüchteter verändern. Die Handlungsfähigkeit Geflüchteter beginnt mit einer refusal, um einen Begriff Kings weiterzudenken, der in der hier vorgenommenen Verschiebung als Verweigerung der hemmenden Effekte des Wartens verstanden werden soll und als performative Entscheidung eine spezifische Aktivierung entfaltet, die handlungsbefähigende Momente freisetzt. Refusals werden insbesondere auch durch alltägliche Praktiken hervorgebracht und folgen nicht unbedingt der bewussten Logik politischer Kämpfe (vgl. King 2016: 4). Dennoch sind diese Transformationen immer mit Praktiken verbunden, die mit King gesprochen hinterfragen, »what is understood as politics, or who is understood as a political actor« (King 2016: 21). Als kollektive und alltägliche Praktiken von Flüchtenden sind Exit-Strategien stets auf jene zirkulierende Wissensagglomeration angewiesen, die Dimitris Papadopoulos und Vasilis Tsianos als mobile commons bezeichnen (vgl. Papadopoulos/Tsianos 2013: 191f.) und die aufgrund ihres flüchtigen und situationsbezogenen Charakters einer stetigen Aktualisierung und Erweiterung bedürfen. Bestimmen Papadopoulos und Tsianos Migration als »process which relies on a multitude of other persons and things« (Papadopoulos/Tsianos 2013: 190), verweisen sie auf die Notwendigkeit einer kollektiven Zusammenarbeit von Geflüchteten, Unterstützenden, Infrastrukturen und Technologien. Sie entstehen an unterschiedlichen Orten, in »squats and social centres, land occupations, collective gardens, community kitchens, raves, protest camps and open-source communities« (King 2016: 151). Es sind Transformationen, die das Gefüge und somit die Situation verändern: »Migrants political practices […] create a new situation that allows those who have no part […] to enter and change the conditions of social existence altogether.« (Papadopoulos/Tsianos 2013: 188).
Im Zuge meiner Forschung in Athen habe ich mich mit Exit-Strategien von Graswurzelnetzwerken in den von besetzten Häusern, politischen Initiativen und institutionalisierten Organisationen und einer Nachbarschafts-Solidarität geprägten Stadtteilen Omonia, Exarchia und Victoria befasst, die die Qualität des Wartens Geflüchteter adressieren. Die heterogenen Strategien dieser Netzwerke lassen sich anhand zweier unterschiedlicher, jedoch nicht gänzlich entgegengesetzt verlaufender Trajektorien ordnen: Erstens, einer rechtlich-bürokratischen, die sich an Fragen der (In)formalität der jeweiligen Initiative oder Organisation orientiert. Zweitens, einer politischen, die graduelle Unterscheidungen von humanitärer Hilfe und Solidarität sichtbar macht. Auf diese zweite Trajektorie bezieht sich auch King, wenn sie innerhalb dieser Unterscheidung hierarchische und hierarchielosere Handlungsansätze differenziert: »Whereas charity signals relationships based on a presumed hierarchy (I give aid to you), solidarity signals relationships based on a presumed equality (we help each other).« (King 2016: 52) Beide Trajektorien bestimmen die Modalität der Exit-Strategien maßgeblich und eröffnen unterschiedliche Felder für Handlungspotentiale. Damit sind Exit-Strategien mit Klassifikationsregimen und Versuchen ihrer Auflösung konfrontiert, die anhand von performativen Kategorien (›beneficiary‹, ›client‹, ›participant‹, ›volunteer‹, ›solidarian‹, etc.) zutage treten, welche Fragen nach impliziten Machtverhältnissen und Wirkmächtigkeiten dieser Fremd- und Selbstzuschreibungen aufwerfen.
Humanitäre Hilfsorganisationen, die sich von politisch-aktivistischem Handeln abgrenzen, entwickeln eine eigene politische Dynamik: Wenn Geflüchtete als ›beneficiaries‹ oder ›clients‹ bezeichnet werden, verweisen diese klassifizierenden Ausdrücke auf »intrinsische Beziehungen zwischen dem Sprechen und bestimmten Handlungen« (Deleuze/Guattari 1992: 108). Als Interventionen, die die Subjektivität nicht repräsentieren, sondern antizipieren (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 121f.), festigen sie hierarchische Beziehungen, die in Abhängigkeitsverhältnissen performativ wirksam werden. Nadina Christopoulou, Co-Gründerin des Athener Melissa Networks bezieht sich genau dann auf diese Bezeichnungen, wenn sie mit mir über den partizipativen Charakter dieses von unterschiedlichen migrant women iniziierten Projekts spricht: »[…] people call them beneficiaries or other organisations use the word clients, we don’t use these words, it’s medical and it’s very technical. For us it’s a very different process, the people who participate, we call them participants or members but not clients.« Dieses auf gegenseitiger Unterstützung basierende Solidaritätsprinzip bildet die Grundlage zahlreicher informellerer Netzwerke in Athen, die sich gleichsam aus Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten zusammensetzen. So auch das 2016 von internationalen Volunteers gegründete Khora Community Centre. Durch eine kollektive, nicht-hierarchische Arbeitsweise werden Entscheidungen in Versammlungen gemeinsam getroffen. In fünf Stockwerken einer alten Druckerei in Exarchia befinden sich ein Free Shop für Kleidung, Räumlichkeiten für Kinderbetreuung, Zahnärzte, Rechtsberatung und Sprachkurse, eine große Küche, eine Cafeteria, eine Bibliothek, ein Frauen- und Kreativraum. Diese unterschiedlichen Tätigkeiten eröffnen als »lokale Herde kollektiver Subjektivierung« (Guattari 2014: 14) neue Modalitäten der Subjektivitätsproduktion, die in Anschluss an Guattari als maschinisch gedacht werden müssen, als eine heterogene Produktion, die nicht von konkreten Praktiken zu trennen ist, sondern sich vielmehr transversal zu ihnen errichtet (vgl. Guattari 2014: 10). Das Begriffliche ist hier nicht von einer prozessualen Dimension des alltäglichen Handelns zu trennen, wie sich in der Arbeitsweise Khoras zeigt und in ihrem Grundverständnis zum Ausdruck gebracht wird: »The current EU border system creates the illusion of the ›other‹. […] We stand in opposition to this system and want to create a space in which all people can come together, where everyone is ›other‹ in standing against this mode of oppression and thus equal.« (Khora Athens). Eine Form der equality, die sich den Kategorisierungen des Grenzregimes und damit jener dominanten Produktion von Subjektivität, die durch das Warten bestimmt wird, entzieht und es ermöglicht, temporär die Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten im Begriff ›Volunteer‹ aufzulösen.4 Die lange Tradition der Hausbesetzung bewegt sich in Athen in einem breiten Spektrum von anarchistischen bis zu von Geflüchteten geführten besetzten Gebäuden. Das seit 2016 besetzte ehemalige Hotel City Plaza, unweit des Victoriaplatzes, adressiert zunächst die existenzielle Frage des städtischen Wohnraums für Geflüchtete und experimentiert mit kollektiven Modellen des Zusammenlebens und politischen Agierens, wie mir ein Mitglied des Kollektivs bei meinem Besuch vor Ort berichtet: »Das Hauptziel ist zu zeigen, dass es auch anders geht – anders als der Staat das organisiert. Wir wollen hier das Haus alle zusammen betreiben als ein Projekt kollektiver Solidarität oder solidarischer Kollektivität […]. Die wesentlichen Fragen sollen zusammen mit den Bewohnern entschieden werden.« Durch Kontakte zu migrant communities kann die Wohnraumverteilung nach konkreten Bedürfnissen ausgerichtet werden. Vollversammlungen, Regeln und Hausausweise organisieren das Zusammenleben der dort wohnenden Geflüchteten und GriechInnen. Die Exit-Strategie des City Plaza ist dezidiert politischer Widerstand, der sich am Knotenpunkt »zusammen leben, zusammen arbeiten, zusammen kämpfen« orientiert. Das Ablehnen einer Institutionalisierung geht so mit der Verweigerung, Kooperationen mit NGOs oder staatlichen Organisationen einzugehen, einher und kondensiert in der performativen Unterscheidung der Begriffe ›solidarian‹ und ›volunteer‹. Damit lässt sich die Exit-Strategie des City Plaza auf der politischen Trajektorie in Distanz zu einem humanitären Hilfsdiskurs situieren.5 Ali Khan, Geflüchteter und Volunteer im Khora, betont die Bedeutung des Zugangs zur lokalen Bevölkerung in der Nachbarschaft und die Vernetzung untereinander in unserem Gespräch: »[…] if the neighbourhood is not happy with us, we can’t exist«. Diese Fragen des Zugangs, der solidarischen Bindung, der territorialen Verankerung bestimmen schließlich langfristige Handlungspotenziale der Netzwerke. Das Fehlen dieser lokalen Anknüpfungspunkte erschwert es, sich gegen weitere Formalisierungsprozesse auf einer rechtlich-bürokratischen Achse zu wehren.
Fazit
Sich der Situation Geflüchteter in Athen infolge der Schließung des Balkankorridors und ausgehend von einer Perspektive auf Phänomene des situativen und langen Wartens zu widmen, schärft den Blick nicht nur für raumbezogene Analysen des Grenzregimes, sondern bezieht sich explizit auf unterschiedliche Zeitlichkeiten, die eigene Effekte produzieren. Grenzen können so als raumzeitliche Regime in den Blick genommen werden, die innerhalb von territorialen Gefügen ihre Wirkmächtigkeit entfalten und in einem wechselseitigen Verhältnis zu Praktiken des Widerständigen stehen. Dieser relationale Ansatz ermöglicht es, Solidaritätsbewegungen von unten zu beschreiben, die an lokalen Orten Fluchtvektoren innerhalb des Gefüges aktivieren. Graswurzelinitiativen ermöglichen (temporäre) Auswege aus hemmenden Effekten des Wartens: Exit-Strategien, die lokale Mobilitätsfelder entwerfen, welche die Qualität des Wartens verändern und neue Räume der Subjektivitätsproduktion eröffnen.
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