Abstract Contemporary research on migration and border regimes highlights that migration produces effects beyond border control, as migrants act autonomously (at least partially) as individual or collective agents. On the discursive level, many representations tend to foster imaginaries of refugees as autonomous political fighters which overlooks their frequently peaceful aims and thereby ignores non-violent (micro)politics. Providing an example from Laura Otto’s fieldwork with young migrants on Malta, we claim first, that it is important for critical migration theory not to subsume diverse forms of agency and concrete actions of migrants too easily under the umbrella of the autonomy of migration, as autonomy is to be regarded as a highly ambivalent concept and not as an aim in itself. Second, we propose to clearly distinguish between belligerent and peaceful forms of political agency. Beyond an understanding of autonomy as combative by principle, a post-autonomous viewpoint takes interdependencies into consideration.
Keywords agency, border regime, autonomy of migration, critical migration research, refugees
Der Ansatz der Autonomie der Migration (Moulier-Boutang 1993) prägt die Debatten der kritischen Migrationsforschung (Bojadzijev/Karakayali 2007; Scheel 2015; De Genova 2017) und zielt auf theoretischer Ebene primär darauf ab, Migration als Gesamtzusammenhang in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel zu konzeptualisieren. Auf analytisch-theoretischer Ebene erscheint die Feststellung, dass Migration autonome Effekte innerhalb von Migrationsregimen erzielt, zunächst trivial, wenn Migration empirisch innerhalb relationaler Machtbeziehungen gedacht wird. Mit Foucault (2005) beruhen Machtbeziehungen generell auf einem Mindestmaß an Handlungsautonomie. Vielmehr noch definiert hier eine mehr oder weniger un/gleiche Verteilung von Entscheidungs- und Handlungsfreiheit aller beteiligten Akteur*innen Machtbeziehungen grundlegend: Wo Handlungsautonomien überhaupt nicht mehr vorhanden sind, herrschen nach Foucault allein Gewaltbeziehungen, die produktiv-selbstständiges Handeln ausschließen (vgl. Foucault 2005: 285ff., 291ff.). Im Kern der Analysen steht allerdings die politisch nach wie vor hochrelevante Erkenntnis, dass Migration, trotz zunehmender Versicherheitlichung, Grenzen auf vielfältige Weise unterläuft und deshalb niemals vollständig beherrschbar sein wird.
Durch die Präzisierung des Autonomiebegriffs als »Initiierung einer Konfliktbeziehung« (Scheel 2015: 2), in dem zwischen individuellen und kollektiven, tendenziell abhängigen und tendenziell unabhängigen Handlungen in Migrationskontexten unterschieden wird, wird der prinzipiell konflikthafte Charakter autonomer Handlungsweisen fokussiert. Migrant*innen handeln nicht nur auch produktiv-eigenständig, sondern viele ihrer Handlungen stellen sowohl im Einzelnen als auch insgesamt die vom Grenzregime formulierten Handlungserwartungen nicht nur in Frage, sondern bringen sie vielmehr erst hervor: Migrationen im Sinne von menschlichen Mobilitäten – als räumlich-zeitliche Bewegungen, aufgeladen mit spezifischen (politischen) Bedeutungen (vgl. Cresswell 2006: 2ff.) – werden historisch betrachtet erst durch die reaktive Errichtung von Grenzregimen als ›Migrationen‹ aufgefasst. Diese Vorgängigkeit und damit diese eigentliche Autonomie menschlicher Mobilität und der gesellschaftstransformierenden Effekte, die mit ihr zunächst jenseits jeder Regulierung einhergehen, stehen regelmäßig im Zentrum der Debatte (vgl. De Genova 2017: 5f.). Konkrete Migrant*innen werden folglich jenseits des dominanten Opferdiskurses als (teil)autonom handelnde Akteur*innen verstanden – wie andere Menschen auch, allerdings unter grenzbedingt verschärften Bedingungen.
Diese selbstverständlich vorhandene »relative Autonomie« (Mezzadra zit. n. Friese 2017: 82) gerade auch konkreter Subjekte in Machtbeziehungen unterstreicht damit im Diskurs um die Autonomie der Migration die Überlegung, dass Autonomieeffekte nicht erst oder nur in kollektiven Mobilitätsdynamiken erzielt werden, sondern dass sie letztlich auf der mehr oder weniger großen Handlungsfreiheit der Einzelnen beruhen, deren Analyse die Basis empirisch fundierter Arbeiten der kritischen Migrationsforschung sind. Es geht uns an diesem Punkt zunächst darum, zwischen diesen verschiedenen Ebenen des Autonomiebegriffs als mehr oder weniger abstrakte Theoretisierung gesellschaftlichen Wandels einerseits und der Handlungsfähigkeit Einzelner andererseits, zu differenzieren. Kurzum: Die Thematisierung des Widerspruchs einer Theorie der Autonomie der Migration und ihrer Anwendung in empirischen Forschungen ist unser Fokus. Wir plädieren dafür, konkrete Einzelne und ihre Handlungen stärker zu fokussieren und damit nach Konkretisierungen zu fragen, wie der Begriff der Autonomie gedacht und gefüllt werden sollte, wenn es darum geht, die realen Situationen, in denen sich Migrierende befinden, nicht allein unter einseitigem und vereinheitlichendem Kampf-Vokabular zu veruntreuen, was oft mit dem Autonomiebegriff einhergeht.
Anhand von Laura Ottos Forschung mit jungen Geflüchteten, die als unaccompanied minors (UAMs) in Malta kategorisiert wurden (Otto 2020), möchten wir zunächst die Ambivalenz ihres Handelns zwischen tendenziell kämpferischen und tendenziell friedlichen Formen (mikro)politischer Agency veranschaulichen, um in diesem Kontext die Relevanz konkreter Einzelfallbetrachtungen hervorzuheben.
Nach ihrer Ankunft 2015 wurden alle Geflüchteten in Malta zunächst inhaftiert. In Haft warteten sie auf ihre ›Altersfeststellung‹. Absimil wollte als siebzehnjährig eingestuft werden. Er hatte gehört, dass ›UAMs‹ bis zu ihrer Volljährigkeit in einem Heim leben müssen, nicht reisen dürfen und erst ab sechzehn eine Arbeitserlaubnis erhalten können.
»In detention they told me that I am only thirteen years old. I told them seventeen. […]. They said that if I don’t accept, I have to stay longer in detention. They threatened me. I accepted and after three weeks I left detention. But in [Heim] I started to make many problems, I broke things […]. Because I cannot be thirteen. That is too bad. Then I told them my real age of fifteen. Then they gave me that age.«
Vor dem Hintergrund der Drohungen der Haftanstaltsmitarbeiter*innen entschloss sich Absimil zu einem Strategiewechsel. Um entlassen zu werden, vollzog er zunächst einen taktischen Rückzug, strategisch darauf setzend, dass er erneut die Chance bekommen würde, sein Begehren durchzusetzen, was ihm gelang.1 Solche alltäglichen Kämpfe auf der Mikroebene werden in der kritischen Migrationsforschung immer wieder herangezogen, um Autonomieeffekte herauszuarbeiten. Es sind diese alltäglichen Auseinandersetzungen, ebenso wie politische Auseinandersetzungen im größeren Stil, die den Gewaltlogiken des Grenzregimes geschuldet sind und die damit notwendigerweise Widerstand im Foucault’schen (2005) Sinne produzieren.
Solche Widerstände im Kleinen, ebenso wie die Zelebrierung von Widerständigkeit im Großen, werden immer wieder gegen Geflüchtete verwendet. So wurde den jungen Geflüchteten im Mai 2013 untersagt, im Heim das Champions League Finale zu schauen. Die Leitung weigerte sich, den Fernsehschrank aufzuschließen. Die Begründung dafür lautete, »[t]hey would break it anyway« (informelles Gespräch mit der Heimleitung, Mai 2013). Dem Widerstand der Vorgänger*innen, die den Fernseher demoliert hatten, um ihre Unzufriedenheit mit der Unterbringung auszudrücken, folgten verschärfte Sanktionen für die Nachfolgenden.
Außerdem betonten die jungen Geflüchteten immer wieder, dass sie, um ihr strategisches Ziel des gesicherten Aufenthaltes zu erreichen, auf taktischer Ebene ihr Asylnarrativ zu formulieren hatten, solche (der Notwendigkeit geschuldeten) manipulativen Handlungsweisen jedoch eigentlich ablehnten. Sabiye erzählte: »They make me lie, I don’t like it, I never lied, but I have to now«, und verdeutlicht damit, dass Menschen in Flucht_Migrationskontexten kämpfen müssen und nicht unbedingt wollen – wiederum: wie andere Menschen auch. Kampf ist Mittel zum Zweck und nicht politischer Selbstzweck.
Die Interaktionen zwischen Laura und den jungen Geflüchteten können demgegenüber als weit friedlichere Mikropolitiken verstanden werden, die ein Gegennarrativ zu Migrant*innen als Kämpfer*innen per se bereitstellen. Die geflüchteten Gesprächspartner*innen suchten wiederholt den Dialog, den unmittelbaren Kontakt und das gegenseitige Wohlwollen. Als Forscherin hatte Laura von der Leitung den Schlüssel für den Computerraum erhalten, der nur zur Verfügung stand, wenn die Bewohner*innen während der PC-Benutzung betreut wurden. Die Heimleitung hatte eine Struktur geschaffen, in der ›gutes Benehmen‹ zur Währung für Computernutzung wurde. Diese einseitig gewaltvolle Struktur wurde im Dialog zwischen Laura und den Bewohner*innen weitgehend aufgelöst. Gemeinsam entwickelten sie ein neues System, welches die Benutzungszeit nach praxisorientierten Fairnesslogiken regelte. Kontrolle und Sanktionen führten notwendig immer wieder zu kämpferischen Formen von Agency, während diese post-autonome2 Politik in Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse untereinander und gegenüber der Heimleitung friedliche Formen mikropolitischer Agency ermöglichte. Solche Formen lassen schließlich ganz andere, prinzipiell konstruktivere, entgrenzende und damit langfristig weit effizientere Effekte zu, wenn es letztlich um ein friedliches Miteinander gehen soll und werden dennoch immer wieder von den Gewaltlogiken des Grenzregimes durchbrochen. Laura hätte den Dialog ebenso wie die Heimleitung schlichtweg verweigern können, wodurch nicht zuletzt strukturelle Machtverhältnisse ins Spiel kommen, die gänzlich ›gewaltfreie‹ Konfliktbewältigungsformen weitestgehend ausschließen, da es wiederum im Foucault’schen Sinne keinen machtfreien Raum geben kann.
Wir denken, dass es dieses empirisch immer wieder zu beobachtende Ineinanderfließen von notwendigen Kämpfen und friedlichen Möglichkeiten ist, welches es zu fokussieren gilt: Denn gerade auch aufgrund dieses Ineinanderfließens scheinen im Diskurs um die Autonomie der Migration ›Kampf‹ und Agency immer wieder gleichgesetzt zu werden, wenn etwa oftmals verallgemeinernd von ›Migrantischen Kämpfen‹ statt erst einmal – Differenzierungen ermöglichend – von migrantischen Praktiken zu sprechen. Die praktischen Eigenlogiken von Kampf als (längst nicht nur physische) Gewaltlogik, die sich grundlegend dadurch definiert, dass sie einseitig und damit unabhängig von und gegen den Willen anderer ausgeübt werden kann3, wird oftmals kaum noch von anderen Formen von Handlungsmacht unterschieden. Autonomie, als unabhängiges Handeln, wird genau damit in erster Linie zum Kampfbegriff. Dies ist, wie auch in Politiken der autonomen Linken, zunächst einmal sicherlich vor allem den omnipräsenten Gewaltlogiken in Migrations- und anderen Regimen geschuldet. Doch oftmals bleibt dieser Umstand unreflektiert universalisiert. Formen des Sprechens über Migrant*innen gleiten dann schnell in einen vereinnahmenden Held*innendiskurs ab (Scheel 2013; Hoffmann 2017: 29ff., 53ff. 281; Friese 2017: 65ff.), der in seiner Ambivalenz genauso auch als Bestätigung des Bedrohungsdiskurses von rechts verstanden werden kann. Aufwändig inszenierte »border spectacles« (De Genova 2013) können und werden ebenso als ›Angriff auf Europa‹ wie auch als legitimer politischer Widerstand gegen das Grenzregime interpretiert. Gerade in politischen Konflikten (nicht notwendig Kämpfen) gilt das Konzept der Relationalität in besonderem Maße. Die möglichen Interpretations- und Reaktionsweisen der politischen Gegner*innenschaft, gerade aber auch die derjenigen, die es von den eigenen Standpunkten zu überzeugen gilt und damit die Frage, wie migrantische Praktiken medial »in den Blick genommen werden« (vgl. Friese 2017: 104), muss in Betracht gezogen werden. Kurz: Die Feststellung einer (teil)autonomen Macht der Migration ist politisch hochgradig ambivalent. Sie ist empirisch stichhaltig und politisch notwendig, um die Vorgängigkeit von Freiheit vor Kontrolle hervorzuheben, doch sie wird spätestens dann problematisch, wenn bisweilen auch noch der Begriff »force« immer wieder bemüht wird (vgl. Papadopoulos et al. 2008), um das autonom-exzessive der Migration als Abstraktion von den konkreten Handlungen Einzelner zu beschreiben. Hier fällt es mit Hannah Arendts Konzeption des Begriffs force (Arendt 1972: 143f.) schwer, dies anders als eine Reproduktion des Naturgewaltigen der Migration als soziale Bewegung – als entindividualisierendes und gleichzeitig verkollektivierendes Abstraktum oftmals politisch nicht intendierter Effekte zu lesen. Gerade weil Autonomieeffekte der Migration insgesamt letztlich unkontrollierbare, exzessive (vgl. Papadopoulos et al. 2008) Wirkungen entfalten können, die nebenbei bemerkt nicht notwendig emanzipativ wirken, ist in Bezug auf mediale Repräsentationen und Rezeptionen Vorsicht geboten. Ein zentraler Grund, warum es uns wichtig ist, die Autonomie der Migration immer wieder an das Individuelle und Konkrete rückgebunden zu wissen; auch, um migrierende Subjekte jenseits der binären Konstruktion repressed/resistant (Rass/Wolff 2018) zu verstehen. Im Umkehrschluss kann durch entsprechend verallgemeinernde Abstraktionsgrade ›migrantischer Kämpfe‹ schnell eine politische Einheit suggeriert werden, ein ›Wir‹ der Migrant*innen evoziert werden, das empirisch wohl kaum vorhanden ist und nicht nur aus einer intersektionalen Betrachtung heraus politisch überaus fragwürdig erscheint.
Die Frage lautet an diesem Punkt, was auf politischer Ebene eigentlich genau mit tendenziell einseitigen Kämpfer*innenrepräsentation und verkollektivierenden Abstraktionen ›Migrantischer Kämpfe‹ erreicht werden soll, und tatsächliche migrantische Kämpfe oftmals lediglich zu Ausdifferenzierungen des Grenzregimes im größeren Maßstab führen? Entsprechende diskursive Formationen laufen letztlich Gefahr, sich in hegemoniale Diskurse des Politischen einzureihen: Diskurse, in denen das Politische nicht als Konfliktfeld begriffen wird, in dem mehr oder weniger friedlich-entgrenzend agiert werden kann und/oder mehr oder weniger gewaltvoll-abgrenzend agiert werden muss, sondern in dem das Politische von vorneherein allein in schmerzhaften Abgrenzungen, Kämpfen und Konkurrenzen gedacht wird – ganz im Sinne der immer noch dominanten und nebenbei eminent eurozentrischen Traditionslinie Carl Schmitts4. Selbst Grenzen überschreitende Solidarisierungen erscheinen so schnell allein als Mittel zum Zweck des Kampfes statt auch einfach Selbstzweck sein zu dürfen.5 Die alltäglichen Erfolge friedlicher Solidarisierungen im Kleinen werden dann kaum noch fokussiert, da sie dem Pauschalurteil der Kollaboration ausgesetzt sind, wo das Politische nur Widerspruch, Distanzierung und Maximalforderung sein darf. Sie gelten dann im schlimmsten Fall als unpolitisch und damit empirisch wie theoretisch irrelevant.
Ist es nicht gerade das zumindest zeitweilige Nicht-kämpfen-Müssen an relativ geschützten Orten und in Momenten – in «safer spaces» (Mader 2018: 81), die meist erst notwendig erkämpft werden müssen – in denen es nicht um Durchbrechung, Überwindung oder Entfliehen gehen muss, sondern um Entgrenzung im Sinne der Schaffung von etwas Neuem, gemeinsamen Dritten gehen kann (vgl. Mecheril 2009), das gerade in Zeiten wieder zunehmender Normalisierung von Gewaltlogiken von entscheidender Bedeutung ist? Wie für etwas allein kämpfen, für das zwar einzelne Bedingungen erkämpft werden können und müssen, das letztlich jedoch prinzipiell nicht erzwungen werden kann, da entsprechende Ziele gerade auf möglichst weitgehender Gewaltfreiheit und damit auf möglichst weitgehender Freiwilligkeit beruhen?6 Insbesondere Naivitätsvorwürfe entgegen der Möglichkeit friedlicher Politikformen offenbaren hier eine ganz eigene Naivität: Zu glauben, dass Migrationsregime überhaupt allein aufgrund konfrontativer Politikformen zu überwinden wären.
Wie vor diesen Widersprüchen die Autonomie der Migration post-autonom denken? Die mikropolitischen Handlungsweisen der (jungen) Geflüchteten könnten als chiastische Struktur zwischen notwendig kämpferisch-autonomen und möglichen friedlich-interdependenten Handlungsweisen gedacht werden, die sich in der politischen Praxis immer wieder mehr oder weniger überlagern und sich so immer wieder wechselseitig ausschließen. Wenn eine Seite gewaltvoll abgrenzend agiert, nützen Worte nur wenig. Wenn aber beiderseits ein friedlich entgrenzendes Miteinander angestrebt werden könnte, bewirken Kampfdynamiken und -rhetoriken das Gegenteil. Gleichzeitig bilden beide Grundmodi (mikro)politischer Konflikte eine komplementäre Dichotomie, wenn es darum geht zu bestimmen, welche Form in welcher Situation gerade die zielführendere ist. Gerade aufgrund des empirischen Oszillierens zwischen friedlichen und gewaltförmigen Konfliktpraktiken bis in die kleinsten Nuancen sozialer Interaktionen hinein, halten wir es für wichtig, diese Unterscheidung immer wieder zu treffen und gerade in Bezug auf mediale Außenwirkungen immer wieder hervorzuheben.7 Migration post-autonom zu denken bedeutet vor diesem Hintergrund anzuerkennen, dass wechselseitige Abhängigkeiten alles andere als negativ sind, solange sie auf Gerechtigkeit basieren – gerade auch wenn Mensch bedenkt, dass Autonomie in erster Linie nicht nur eine »Selbstbegrenzung« (Castoriadis 1997: 405 zit. n. Friese 2017: 81), sondern damit auch eine Abgrenzung zum Anderen impliziert und damit wiederum nicht gerade zur Solidarisierung einlädt. Autonomie ist notwendiges Mittel zum Zweck in einer gewaltvollen Umgebung und nicht Selbstzweck. Diese Feststellung erscheint uns vor allem zentral, wenn es darum geht, problematischen Besonderungen von Migrationen und Migrant*innen entgegenzuwirken (Hoffmann 2017) und im Umkehrschluss konstruktiv zu einer »Migrantisierung der Gesellschaftsforschung« beizutragen, die Migration »Vom Rand ins Zentrum« rückt (Labor Migration 2014).
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