»Und dieses Gesetz soll uns spalten«

Ein Interview mit Aktivist*innen der Initiative »Familienleben für Alle!«

Miriam Gutekunst

Abstract »Family reunification« is one of the most important legal entry options to Germany. It is based on the fundamental right to protection of marriage and family enshrined in human rights. Nevertheless, this right has been and continues to be massively restricted in the context of migration and flight and denied to certain groups of people. The initiative »Family Life for All« resists these divisions and the competition between migrants that is created by increasingly categorizing and hierarchizing migration policies.


Keywords Family reunification, basic right, migration politics, protest, categorization


Der Familiennachzug ist eine der wichtigsten legalen Einreisemöglichkeiten nach Deutschland und beruht auf dem menschenrechtlich verankerten Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie. Trotzdem wurde und wird dieses Recht im Kontext von Migration und Flucht immer wieder massiv eingeschränkt und bestimmten Gruppen von Menschen verwehrt. Die Initiative Familienleben für alle wehrt sich gegen diese Spaltungen und den Wettbewerb zwischen Migrant*innen, der durch immer stärker kategorisierende und hierarchisierende Migrationspolitiken entsteht. Ein Gespräch mit Dorothea Lindenberg, Mohamad Malas, Sebastian Muy und Bruno Watara.

Seit wann gibt es die Initiative Familienleben für alle und warum habt ihr sie gegründet?

Dorothea: Wir haben uns als kleine Gruppe von Aktivist*innen aus ganz Deutschland 2018 bei einer Protestaktion vor dem Bundestag getroffen. Zu dem Zeitpunkt zeichnete sich in den Sondierungsgesprächen zwischen SPD und der CDU/CSU ab, dass der Familiennachzug zu subsidiär geschützten Flüchtlingen weiter ausgesetzt sein würde. Nach der Aktion haben wir gemeinsam unsere erste Presseerklärung geschrieben und eine Homepage eingerichtet. Das war der Gründungsmoment. Wir wollen die Stimmen der Flüchtlinge, die von der Aussetzung des Familiennachzugs betroffen sind, in die Öffentlichkeit tragen und setzen uns dafür ein, dass das Grundrecht auf Familienleben unabhängig von Herkunft und Aufenthaltstitel für alle gilt.

Sebastian: Genau, damals hatten sich betroffene Geflüchtete über soziale Netzwerke organisiert und Protestaktionen vor dem SPD-Parteitag in Bonn und vor dem Bundestag in Berlin geplant. In Berlin trafen wir dann aufeinander.

Seit dem Sommer der Migration 2015 kam es zu massiven Einschränkungen der Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen. Wie hat sich diese Politik auf das Recht auf Familienleben ausgewirkt?

Bruno: Asylrechtsverschärfungen haben schon lange vor dem sogenannten Sommer der Migration begonnen, nämlich schon im Herbst 2014 mit der gesetzlichen Festlegung von drei neuen angeblich sicheren Herkunftsländern. Flüchtlinge aus Serbien, Bosnien und Mazedonien haben seitdem keine Chance mehr. Damals hat der grüne Minister von Baden-Württemberg für seine Zustimmung zu diesem Gesetz ein paar Zugeständnisse im Sozialrecht und beim Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende für andere Flüchtlingsgruppen ausgehandelt. Seitdem sind Flüchtlingsrechte Verhandlungsmasse und Flüchtlinge werden in Schubladen gesteckt und gespalten, in Asylberechtigte, Anerkannte nach der Genfer Flüchtlingskonvention und in subsidiär Geschützte, und in die Unerwünschten: die aus angeblich sicheren Herkunftsländern, die Abgelehnten, Geduldeten, die »Ausreisepflichtigen«. Mit jeder Schublade sind bestimmte Rechte oder Einschränkungen von Rechten verbunden. Dieses Unrechtsprinzip hat die Bundesregierung dann im Asylpaket I und II weiterentwickelt.

Dorothea: Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte im März 2016 war aber auch ein qualitativer Sprung in dieser Reihe, weil diese Entrechtung zum ersten Mal Flüchtlinge mit einem Schutzstatus und damit mit einem Recht auf Aufenthalt getroffen hat. Heute glaube ich, die zeitlich begrenzte Aussetzung war eine Art Test, wie weit die Bundesregierung gehen kann, denn seit 1. August 2018 wurde mit dem »Familiennachzugsneuregelungsgesetz« das Grundrecht auf Familienleben für subsidiär Geschützte de facto abgeschafft. Statt des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug, wie er bis März 2016 auch für subsidiär Schutzberechtigte gegolten hatte, gibt es jetzt ein willkürliches Gnadenrecht: Maximal 1000 Familienangehörige dürfen ein Visum bekommen, »aus humanitären Gründen«.

Durch dieses neue Gesetz werden geflüchtete Menschen mit subsidiärem Status noch einmal zusätzlich kategorisiert und in Konkurrenz zueinander gesetzt. Wie wird denn nun seit dem 1. August darüber entschieden, wer die 1000 Menschen sind, die das Recht haben ihre Familien nachzuholen? Wie wird dieses Antragsverfahren konkret umgesetzt?

Sebastian: Im Gesetz sind verschiedene Kriterien für »humanitäre Gründe« definiert: wenn die Trennung schon sehr lange dauert, wenn minderjährige Kinder betroffen sind, wenn ein Familienmitglied schwer krank oder behindert ist. Selbst nach den Kriterien des Gesetzes und der Behörden liegt also praktisch immer ein humanitärer Grund vor. In der Praxis kommt es daher auch maßgeblich darauf an, wer früher einen Termin gebucht hat und deswegen früher den Antrag stellen kann. In welchem Verhältnis die einzelnen humanitären Gründe zueinander sowie zu den sogenannten »Integrationsleistungen«, die ebenfalls bei der Hierarchisierung der Anträge eine Rolle spielen sollen, stehen, ist intransparent. Die Botschaften und Ausländerbehörden entscheiden nach Ermessen. Wer es nicht ins monatliche 1000er-Kontingent schafft, bekommt keine Ablehnung, gegen die man vielleicht noch klagen könnte, sondern verbleibt auf einer Warteliste, gegebenenfalls jahrelang. Damit werden sie, nach zweieinhalb Jahren ausgesetztem Familiennachzug, weiter in einem permanenten Zustand der Unsicherheit und Zukunftslosigkeit gehalten.

Dorothea: Dazu kommt, dass die beteiligten Behörden bis jetzt nicht gewillt scheinen, das Verfahren so zu organisieren, dass die 1000 Visa pro Monat tatsächlich zügig erteilt werden: Denn anstelle der geplanten 1000 Visa pro Monat wurden im August und September 2018 gerade mal 189 Visa1 erteilt. 189 Visa, während rund 43 0002 Menschen, viele von ihnen Frauen und Kinder in Kriegsgebieten oder Flüchtlingslagern warten. Das entlarvt das Gesetz als grausames bürokratisches Abschottungsverfahren.

Was macht diese neue Gesetzgebung mit betroffenen Menschen? Wie wirkt sich diese auf ihren Alltag aus?

Mohamad: Einerseits sind wir wütend. Denn die Abschaffung des Rechtsanspruch auf Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz steht eindeutig im Gegensatz zu Artikel 6, dem Grundrecht auf Ehe und Familienleben. Wir haben dem Grundgesetz vertraut, jetzt scheint es für uns nicht zu gelten. Andererseits haben wir alle die Hoffnung, dass unsere Familie bei den glücklichen 1000 im Monat dabei ist, die als »humanitäre Fälle« einreisen dürfen. Wir rennen von Beratungsstelle zu Beratungsstelle und hören dort, dass sie viele Fragen zum neuen Gesetz auch noch nicht beantworten können, und wir ärgern uns, dass wir zu wenig gesicherte Informationen im Internet finden. Und niemand erfährt, wann endlich der Termin bei der Botschaft für den Visumsantrag sein wird. Wir bemühen uns, möglichst viele Integrationsleistungen nachzuweisen: Wir arbeiten ehrenamtlich, in Schulen, Kindergärten, Altenheimen oder für Obdachlose, wir lernen Deutsch, wir akzeptieren jedes Jobangebot und jede Praktikumsmöglichkeit, wir nehmen an Qualifizierungsmaßnahmen teil, machen Erste-Hilfe- und Rettungskurse… Und trotzdem müssen wir immer Angst haben, dass das alles nicht reicht. Denn ob es reicht, ist eine Entscheidung »nach Ermessen« der Behörden. Unsere Familien müssen das Recht auf Schutz haben. Sie leben in Kriegsgebieten oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in Übergangslagern oder auf der Straße. Ob in Syrien, im Libanon, in der Türkei oder in Jordanien: Wer von ihnen soll kein »humanitärer Fall« sein? Auch darüber entscheidet das »Ermessen«. Wir sind aus Staaten geflohen, in denen die Willkür herrscht – nun sind wir wieder der Willkür ausgeliefert. Das ist dieselbe Behördenwillkür, die uns nur den subsidiären Schutz gegeben hat, statt den vollen Flüchtlingsschutz. Wir haben das Gefühl, ein Trauma wieder und wieder zu erleben. Und dieses Gesetz soll uns spalten, indem es Visumverfahren zu einem Wettbewerb macht und die Betroffenen in direkte Konkurrenz zueinander bringt. Wir haben versucht das mit unserem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielfeld deutlich zu machen: In diesem bösen Spiel können nicht alle gewinnen. Auf jeden Menschen, der ein Visum bekommt, kommen Tausende, die dafür länger warten müssen.

Einige von euch waren oder sind immer noch in der Beratung geflüchteter Menschen tätig. Welche Rolle spielt diese Institution in diesem Feld? Gibt es hier noch Spielräume?

Sebastian: Ich bin seit vielen Jahren in der Beratung zum Familiennachzug tätig. Ich würde sagen, am Anfang waren die beiden Hauptprobleme der Menschen, die aus Syrien geflüchtet waren und bei uns in die Beratung kamen, dass die Warte- und Bearbeitungszeiten bei den deutschen Botschaften unendlich lange waren, und dass der Familienbegriff im Aufenthaltsgesetz so eng gefasst ist und damit z.B. volljährige Kinder ausgeschlossen werden. Trotzdem, in den meisten Fällen war klar, es gibt einen Rechtsanspruch auf Nachzug zumindest der sogenannten Kernfamilie. Seitdem haben sich die rechtlichen Bedingungen deutlich verschärft. Die Rechte, über die wir die Menschen damals informierten, waren wenige Monate später außer Kraft gesetzt. Während der Familiennachzug ausgesetzt war, unterstützten wir dutzende Flüchtlinge bei zeitaufwändigen Härtefallanträgen. Nur in ganz wenigen Einzelfällen hatte dies Erfolg. Jetzt ist es ähnlich: Wir informieren die Betroffenen über die Neuregelung, die Voraussetzungen, das Verfahren. Aber für die große Mehrheit bedeutet das neue Gesetz weiter Familientrennung und Ungewissheit über die Zukunft. Daran kann auch die qualifizierteste Beratung nichts ändern. Und wenn doch, dann nur auf Kosten anderer Flüchtlinge. Wo ein Rechtsanspruch durch ein Kontingent ersetzt wird, ist man als Berater*in immer schon Teil des unmenschlichen Wettbewerbs: Wenn die Familie unserer Klientin ein Visum erhält, wird dafür einer anderen Familie das Visum verweigert.

Wie wehrt ihr euch gegen diese Spaltungen? Was sind eure Strategien?

Dorothea: Wir machen immer wieder klar, dass wir keine Lösungen für einzelne Familien suchen, sondern dafür kämpfen, dass die Gesetze geändert werden, damit Grundrechte unabhängig von Herkunft und Aufenthaltstitel für alle gelten. Gleichzeitig wollen wir Geflüchteten zeigen, dass sie mit ihrem Schmerz und ihrer Wut nicht alleine sind und ihnen einen Raum geben, ihre Schicksale und Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen.

Mit wem schließt ihr Allianzen und Bündnisse?

Bruno: Wir sind zwar nur eine kleine Gruppe, aber eigentlich sind wir auch bereits ein Bündnis. Denn wir sind sehr verschieden: Wir sind Flüchtlinge oder hier aufgewachsen. Wir sind verheiratet, haben Kinder, oder eine andere Form von Familie. Wir leben hier, weil wir es wollen oder es müssen. Wir sind von der Beschränkung des Familiennachzugs betroffen oder haben andere Diskriminierungen erlebt oder sind privilegiert. Manchmal ist es ganz schön Arbeit, uns zu verstehen und unsere Vision von transnationaler Solidarität im eigenen politischen Handeln konkret und praktisch umzusetzen.

Gleichzeitig ist unsere Verschiedenheit auch der Ansatzpunkt für Bündnisse und Vernetzungen: Unsere Bündnispartner*innen und Untersützer*innen sind andere flüchtlingspolitische Gruppen, Feminist*innen, Menschenrechtsorganisationen und viele andere. Aktuell beteiligen wir uns am Netzwerk We’ll come united, an Seebrücke-Demos und an der #Unteilbar-Demo und sind über das Netzwerk der Bewegungsstiftung, die uns fördert, auch mit anderen Organisationen verbunden, die für eine gerechtere Welt kämpfen.

Was müsste passieren, dass das Recht auf Familienleben für alle gilt? Was sind eure Forderungen?

Mohamad: Unsere erste konkrete Forderung ist Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz wieder zu denselben Bedingungen wie für Flüchtlinge, die eine Anerkennung nach der GFK bekommen haben. Und die Gesetze müssten so geändert werden, dass alle Flüchtlinge und Migrant*innen das Recht auf Familiennachzug haben. Außerdem müssen die zahlreichen bürokratischen Hürden in Visumsverfahren abgeschafft werden. Denn oft werden Dokumente nach den Standards deutscher Standesämter verlangt, die viele Flüchtlinge nicht besorgen können. Außerdem wird die Beschränkung des Familiennachzugs auf heterosexuelle Kernfamilien der Lebensrealität vieler Familien nicht gerecht. Auch das muss aus unserer Sicht unbedingt geändert werden. Denn jeder Mensch hat das Recht, selbst zu bestimmen, wie und mit wem er sein Familienleben formt. Das ist ein Grund- und Menschenrecht. Wir sind verschieden, aber wir haben ein gemeinsames Ziel: Wir wollen in einem Land leben, in dem die Menschen und die Regierung Menschenrechte respektieren. Deshalb setzen wir uns für Familiennachzug ein und kämpfen gegen alle Einschränkungen des Familienlebens.

Dafür gibt es viel zu tun. Deshalb wollen wir mehr werden und freuen uns über jede*n, die/der mitmachen will.

Das Gespräch führte Miriam Gutekunst im Herbst 2018.

  • Volume: 7
  • Issue: 1
  • Year: 2023


Miriam Gutekunst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.