Jenseits von Migration

Zur Wiedergewinnung des Diasporabegriffs

Maria Hartmann, Bahar Oghalai

Abstract In this paper, we use empirical material from a series of interviews with political dissidents in diaspora to elaborate on a potential concept of diaspora that allows a view beyond the experience of migration. From this perspective, we address diasporic continuities of subjectifications, political struggles, and solidarity alliances. We argue that this concept of diaspora can be applied to grasp complex subject experiences as well as new alliances as a reality within the plural German society. We point out that looking through the diasporic lens opens alternative analysis on dynamics of authoritarian rule and helps to formulate approaches of emancipatory social change beyond nation-state borders.


Keywords Diaspora, Alliance, Dissident, Space, Activism


Einleitung

Als die damalige Bundeskanzlerin Merkel 2015 öffentlich anerkannte, dass es sich bei Deutschland um ein Einwanderungsland handelt1, war die plurale Gesellschaft längst zur Realität geworden. In Deutschland leben rund 22,3 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Sie machen 22,4% der Gesamtbevölkerung aus (Mikrozensus 2021).

Dieser von Pluralismus geprägte gesellschaftliche Zustand ist ein Spiegelbild der allgemeinen globalen Entwicklung, die immer stärker von den transnationalen Bewegungen von Menschen, Waren und Ideen bestimmt ist (Anthias 1998: 557; Brah 1996: 16). Durch diese globalen Migrationsbewegungen entstehen neue Identitätsentwürfe. Theoretiker*innen im anglophonen Raum haben bereits vor Jahrzehnten auf den Begriff des Diasporischen zurückgegriffen, um diese Identitätsentwürfe analytisch greifbarer zu machen und sie als Teil eines neuen Weltzustands einzuordnen (vgl. Hall 1993; Brah 1996). Unserer Analyse nach verdient der Begriff auch in der deutschsprachigen Debatte um Migration mehr Aufmerksamkeit. Deshalb schlagen wir ein Diasporaverständnis vor, das seinen Mehrwert auch im hiesigen Kontext verdeutlicht. Dabei verwenden wir den Diasporabegriff über seine Dimension migrationsspezifischer Identitätsbeschreibungen hinaus. Wir argumentieren, dass Subjektbiografien in pluralen westlichen Einwanderungsgesellschaften häufig geprägt sind von unterschiedlichsten Kontexten und Kämpfen, die nicht ausschließlich über die Erfahrung der Migration zu erfassen sind. Besonders wenn Dissidenz und politische Verfolgung die Migrationsanlässe sind, so unsere empirische Beobachtung, entstehen durch die Verbindung politischer und sozialer Kämpfe im Zwischenraum des Dort und Hier spezifische Subjektivierungsprozesse, politische Positionen und Allianzen.

Im Folgenden zeichnen wir zunächst die Entwicklung des Diasporabegriffs nach und verorten ihn im Sinne einer Weiterführung des transnational turns. Im Anschluss stellen wir auf Basis empirischen Materials einige Perspektiven diasporischer Kämpfe in Deutschland dar und legen dabei einen Fokus auf dissidentische Erfahrungen. Ausgehend von der Aushandlung von Dissidenz-Erfahrungen im diasporischen Raum beschreiben wir diasporische Kontinuitäten, diasporisches Wissen und diasporische Allianzen als Aspekte eines neuen analytischen Ansatzes und betonen seine Bedeutung für herrschaftskritische Kämpfe und Diskurse auf lokaler wie globaler Ebene.

Der Diasporabegriff in seiner raum- und identitätstheoretischen Verortung

Mit Theorien wie dem Third Space des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha (1994) und dem Diasporic Space von Avtar Brah (1996) hielt der Begriff des Diasporischen in den 1990er Jahren Einzug in die Sozial- und Kulturwissenschaften. Hier spielt er gerade im Hinblick auf den spatial- sowie den postcolonial turn eine bedeutende Rolle auch für die kritische Migrationsforschung (Gilroy 1993; Hall 1990; Vertovec 1996; Baumann 1995). Die Entwicklung des Diaspora-Begriffs nachvollziehend müssen wir jedoch festhalten, dass er in wissenschaftlicher Debatte wie Alltagssprache als ein sehr unterschiedlich eingesetzter Terminus verwendet wird, der nicht zuletzt wegen seiner semantischen Unschärfe zeitweise in die Kritik geraten war (Volkert 2017).

Diaspora bedeutet auf altgriechisch »Verstreutheit« und stand ursprünglich für die Erfahrung der mehrfachen Vertreibung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen, sowie der Entstehung einer Gemeinschaft, die von der Unmöglichkeit der Rückkehr zur Heimat betroffen ist (Nieswand 2018). Nach und nach kam es jedoch zu einer Öffnung des Begriffs, durch die er vermehrt zur Beschreibung von Minderheitengruppen eingesetzt wurde, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind (ebd. 2018). Der palästinensische Theoretiker Edward Said (2000) beispielsweise beschreibt das Exil auf ähnliche Weise: Als ewig währender Zustand des Abgeschnittenseins von den Wurzeln und der eigenen Geschichte, von der Heimat, von der Zugehörigkeit. Das Isolationsgefühl des Exils und das diasporische Gefühl scheinen jedoch bei Said symbiotisch (Said 2000).

Verschiedene Theoretiker*innen haben versucht, Kriterien für die Erfassung unterschiedlicher Diaspora-Typen herauszuarbeiten (vgl. Safran 1991; Cliffords 1994; Cohen 1997). Sie fokussieren allerdings die Beschreibung und Kategorisierung verschiedener migrantisierter Gruppen und stellen dabei die Frage ins Zentrum, ob diese als diasporisch bezeichnet werden können. Demnach würde eine diasporische Gruppe als geschlossene Einheit von einem Ort an einen anderen wechseln und dort zu einer in sich determinierten Minderheitengruppe werden können. Von diesem Verständnis abweichend arbeiten postkoloniale Kulturwissenschaftler*innen wie Homi Bhabha (1994) und Stuart Hall (1993) eine Hybridität der diasporischen Identitäten heraus, die sie in den Zwischenräumen von gesellschaftlichen Kontexten einordnet. So führen globale Bewegungen von Menschen, Waren und Ideen zunehmend zu Identitäten und Solidaritätslinien, die über nationale Zugehörigkeiten hinausgehen. Wir befinden uns diesem Verständnis nach also in einem globalen Zustand, in dem eine Diaspora eben nicht mit einer migrantisierten Gruppe gleichzusetzen ist (ein Verständnis, das einem nationalen Container Verständnis verhaftet bleibt) (Anthias 1998: 557; Brah 1996: 16). Es gibt bereits einschlägige Arbeiten, die diesen Containeransatz als einen Aspekt methodologischen Nationalismus kritisieren, der die Formation von Nation/Staat als naturgegeben betrachtet und Migration aus dieser Perspektive heraus untersucht (vgl. Yildiz 2018).

Dieser Kritik folgend wird die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften auf eine neue Auslegung des Diasporabegriffs gelenkt: Welche Bedeutung hat der diasporische Zustand im Kontext der Entstehung ethnisierter und rassifizierter Subjekte in einer Welt, die nur noch unzureichend durch eine nationalstaatlich begrenzte Analysebrille beschrieben werden kann? Theoretische Überlegungen gehen an dieser Stelle sogar über die Neudefinition des diasporischen Subjektverständnisses hinaus: Der Weltzustand in einer entgrenzten Diffusität, so wie wir ihn heute wahrnehmen, sei ein diasporischer Zustand an sich. Dieser Zustand geht also als globale Erfahrung über die begrenzten Erfahrungen und Identitäten einzelner Gruppen hinaus und betrachtet ihn als das Resultat komplexer globaler Verflechtungen und gesellschaftlicher Prozesse (Anthias 1998: 559; Göttsche et al. 2017: 134). Die Theoretikerin Avtar Brah beispielsweise benutzt das Konzept der Diaspora als Analyserahmen. In diesem Rahmen werden soziale Beziehungen, Identitäten und Subjektivitäten, die im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen stehen, nicht losgelöst von den weltweiten ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexten untersucht, in denen sie stattfinden (Brah 1996: 15). Wir benutzen dieses Konzept abgrenzend als Alternative zu einem containerisierten Exil- und Diasporaverständnis. So erlaubt uns Brahs Erweiterung, einen alternativen Blick auf verschiedene soziale Phänomene zu werfen, die von Migration geprägt und gleichzeitig mit globalen Machtverhältnissen in Verbindung zu setzen sind (Brah 1996: 194). Es löst das Diasporische aus dem methodologischen Nationalismus heraus.

Diaspora nach Brah, erlaubt es uns, das Konzept mit Überlegungen zu verzahnen, die sich auch in den Transnational Studies finden lassen. Dabei beschreibt Transnationalisierung im Allgemeinen eine Verflechtung sozialer Interaktionen, Handlungsstränge und Identitäten, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinaus formieren (vgl. Faist 2010; Vertovec 2001) und ist dabei ein auch im deutschsprachigen Raum diskutiertes Konzept (vgl. Pries 2001; Lutz/Amelina 2017). Beide Konzepte stellen die Abgeschlossenheit sowie die Naturgegebenheit von Nationalstaaten und damit verbundenen Gemeinschaften in Frage. Während der transnationale Ansatz aber nach wie vor dazu tendiert, mit (dem Überschreiten von) Nationalstaat und nationalstaatlichen Zugehörigkeiten zu operieren (Pries 2002; Faist 2010), so geht unserer Ansicht nach das Diasporische im Moment des Dissidentischen darüber hinaus. Es erweitert die transnationalen Verbindungen und den diasporischen Raum mit dissentischen Erfahrungen und Subjektivierungsprozessen. Das Dissidentische füllt den Raum durch verbindende Themen, nicht durch nationale Zugehörigkeiten. Das kann die Erinnerung an Widerstand gegen Autoritarismus sein, eine geteilte Analyse, oder die Neubildung widerständiger Allianzen. Dabei finden wir in der kritischen Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum zwar durchaus Hinwendungen zu politischen Aspekten und gesellschaftlichen Kämpfen (vgl. Schwenken 2006; Bojadžijev 2008; Hess/Karakayali 2018). Wir kritisieren jedoch, dass aufgrund der wenigen Verwendung des Diasporabegriffs im Kontext politischer Kämpfe die Möglichkeit verloren geht, diese Auseinandersetzungen durch die dissidentische Diaspora- statt der Migrationsbrille zu analysieren.

Konsequenz hiervon, so stellen wir in einer empirischen Untersuchung fest2, ist folgendes: Nach Wahrnehmung der Diaspora-Akteur*innen selbst ist die derzeitige Ausgestaltung der Migrationsdebatte nicht genügend in der Lage zu greifen, was die diasporischen Subjekte beschäftigt, welche Kämpfe sie führen und wie ihnen solidarisch begegnet werden kann. Demnach fehlt es an analytischer Sensibilität gegenüber der gesellschaftspolitischen Bedeutung diasporischer Subjektbildungen und der Sichtbarkeit diasporischer Aushandlungen, die einen Teil der Realität deutscher Gesellschaft bilden. Auf ein Subjekt als diasporisch zu schauen, lässt seine Verbindung zum Herkunftskontext sichtbar werden, statt es als migrantisch determiniert davon einfach ›abzuschneiden‹. Es sollte bloß im gleichen Atemzug nicht zu einer Nationalisierung des Subjekts in Referenz auf den jeweiligen Herkunftskontext kommen. Im Folgenden schließen wir deshalb an das beschriebene Verständnis von Diaspora als Analysekonzept an und begreifen es dabei als Werkzeug zur Beschreibung sozialer Prozesse, politischer Kämpfe und gesellschaftlicher Zustände.

Zur Kontinuität dissidentischer Kämpfe im diasporischen Raum

Laut der Theoretiker*in Avtar Brah entsteht durch diasporische Erfahrungen, die miteinander in Verbindung gesetzt werden, ein komplexer relationaler Raum, den sie als Diasporic Space beschreibt (vgl. Brah 1996). Begreifen wir Deutschland als eine plurale und durch Migration geprägte Gesellschaft, dann gilt es in den Blick zu nehmen, dass sich im diaporischen Raum für diese Gesellschaft zentrale Kämpfe und Prozesse abspielen. Diese Erkenntnis wird besonders angesichts einer zunehmenden dissidentischen Migration brisant, die auch auf die Entwicklung des letzten Jahrzehnts, geprägt von Revolutionen, Aufbrüchen und transformativen Zuständen besonders im Raum Westasien und Nordafrika (WANA), zurückzuführen ist. Aufgrund zunehmender Gewaltdynamiken, mit deren Hilfe autoritäre Regime transformatorische Bestrebungen niederzuschlagen versuchen, kommt es zu Exil-Bewegungen auch nach Europa. Laut etwa dem ägyptischen Soziologen Amro Ali (2020) etwa spielen Deutschland und besonders Berlin eine immer bedeutendere Rolle als Ort, an dem Teile der Kämpfe und Aushandlungen der Widerstandsbewegungen quasi extraterritorial ausgetragen werden (Ali 2020). Ali betont dies besonders im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen im Nachklang des arabischen Frühlings. Wie kann nun der Begriff des Diasporischen für eine analytische Perspektive im Umgang mit politischen Kämpfen, Dissidenz und Autoritarismus hilfreich sein, wenn wir annehmen, dass er über ein nationales Identitätsverständnis hinausgeht und abgrenzend vom vermeintlich rein ›Migrantischen‹ verstanden werden muss? Laut den diasporischen Akteur*innen, mit denen wir sprachen, besteht etwa ein Gefühl von Unsichtbarkeit gegenüber ihren biografischen Kontinuitäten in der politischen und wissenschaftlichen Debatte. Die Reduzierung von Erfahrungen auf seine Migration durch die weiße Dominanzgesellschaft beschreibt ein exilierter Revolutions-Aktivist in einem Workshop zwei Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland wie folgt:

»Seit ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich manchmal das Gefühl, drei Jahre alt zu sein: Die Leute denken, mein Leben hätte mit der Durchquerung des Mittelmeers begonnen und das ist auch das einzige, wozu ich mich äußern kann und wonach ich gefragt werde. Aber wen interessiert diese Revolution, die für mich alles verändert hat? Wo ist da Syrien?«

In einer von uns durchgeführten Serie von Interviews mit Akteur*innen verschiedener migrantischer Gruppen bestätigt sich dieser Eindruck auch seitens anderer dissidentischer Diaspora-Akteur*innen. So lässt sich die diasporisch-politische Perspektive weder auf die Erfahrung der Migration, noch eine ausschließliche Bezugnahme auf den ›Herkunftskontext‹ oder den Wunsch nach Rückkehr reduzieren. Sie ist das Ergebnis einer nicht voneinander zu trennenden Kombination von Erfahrungen und Diskursen des Heimatkontextes, der Migration, der Ankunft und den Begegnungen, die in diesem Prozess stattfinden. Diese bilden in ihrer Verzahnung die Realität dissidentisch-diasporischer Biographien ab.

Eine syrische Diaspora-Aktivstin formuliert etwa anhand ihrer eigenen Erfahrung, dass gerade im dissidentischen Kontext der syrischen Revolution von 2011 die Involvierung in politische Bewegungen und die Konfrontation mit autoritärer Herrschaft im Herkunftsland zu einem neuen Rechtsbewusstsein geführt hätten. Dieses Bewusstsein wiederum schärft das Gespür diasporischer Akteur*innen gegenüber gesellschaftlicher Missstände auch über nationalstaatliche Grenzen hinaus:

»Im Rahmen der Revolution habe ich erkannt, dass ich bestimmte Rechte habe, die vom Staat nicht beachtet werden. Und das hat auch ein kritisches Denken ausgelöst, das mich in die Diaspora begleitet hat. Und ich bin immer noch kritisch in Bezug auf meine Rechte […] hier. Das hat viele Syrer*innen ermutigt, ihre eigenen Bewegungen in der Diaspora als Geflüchtete zu gründen oder ihre Rechte als Geflüchtete einzufordern - weil sie eben aus Bewegungskontexten stammen, in denen sie selbst aktive Akteure waren.«

Im Falle der syrischen Diaspora spielt also die Revolution und das Erleben des Unrechts durch ein autoritäres Regime bei der Herausbildung politischer Subjektivierungs- und Erkenntnisprozesse eine Schlüsselrolle. Dies spricht für eine Analysefähigkeit, die durch eine Verkettung der Erfahrungen aus der Herkunfts- sowie Ankunftsgesellschaft gewachsen ist. Dabei geht es sowohl um Marginalisierungserfahrungen, als auch um die Konfrontation mit neuen politischen Perspektiven im Austausch der Gesellschaftskontexte. Das bezeichnen wir als diasporisches Wissen.

Eine iranische feministische Aktivistin geht noch darüber hinaus. Sie formuliert in einem mit uns durchgeführten Interview, dass ihrer Meinung nach zentrale Zusammenhänge zwischen Religion und autoritär-neoliberalen Strukturen im Kontext der Machterhaltung des iranischen Regimes von Aktivist*innen aus der Region schon länger betont werden, während diese Perspektive jahrelang von der westlichen Linken ignoriert wurde.3 Im Iran führen beispielsweise Gesetze zur Kontrolle und Disziplinierung von Sexualität in Verbindung mit der Privatisierung von Sorgearbeitssektoren in einer neoliberal-religiösen Argumentationslogik zur Informalisierung von weiblicher Arbeit und der Verdrängung von Frauen aus dem regulären Arbeitsmarkt (vgl. Farvardin 2020). Wir haben es also mit einem kapitalistisch agierenden und zugleich religiös-konservativ argumentierenden Regime zu tun. Diese Dynamiken sind nicht nur unter vielen Regimen der WANA-Region zu beobachten, sondern finden sich auch vermehrt in den Rhetoriken rechter Kräfte in Europa und Nordamerika. Wir beobachten also, dass rechtsautoritäre Entwicklungen nicht losgelöst voneinander, sondern vielmehr in gegenseitiger Imitation stattfinden. In diesem Sinne ist eine transnationale Verbindung rechtsautoritärer Herrschaft bereits gegeben. Für eine emanzipatorische, transnationale Antwort bietet, so unsere These, das diasporische Wissen eine Ressource. Mit diesem Wissen können solche thematischen Zusammenhänge über nationalstaatliche Grenzen hinaus analytisch erfasst werden. Die diasporischen Kontinuitäten, die wir als Verkettungen von Erfahrungen und Kämpfen im Zwischenraum des Hier und Dort identifizieren, werden bereits teilweise als zu untersuchender Bestandteil transnationaler Räume in der kritischen Migrationsforschung aufgegriffen (vgl. Smith 2012; Juris 2013; Tarrow 2005). Eine neue diasporische Brille vereinfacht diese Analyse, weil diasporische Kontinuitäten anders als transnationale Auseinandersetzungen über einen themenfokussierten und weniger grenzfokussierten Ansatz funktionieren.

Durch die fehlende Sichtbarkeit entfaltet jedoch, so unsere These, dieses diasporische Wissen häufig nicht die notwendige Wirkmächtigkeit. Die damit einhergehende Infantilisierung beschreibt ein diasporischer Aktivist wie folgt:

»Warum denken sie, dass ich ein naives, unpolitisches Wesen bin? Als ob ich nicht in der Lage wäre, meine eigene Realität zu analysieren und zu erkennen, was in einem bestimmten Moment notwendig ist. Und ich denke, das ist ein koloniales Erbe, das die Menschen im globalen Süden als ›nicht existent‹ ansieht, zumindest nicht vollständig; Sondern eher als eine Existenz, die keine Handlungsfähigkeit besitzt, sie glauben nicht an meine Fähigkeit, politische Entscheidungen treffen zu können. Sie sehen mich nicht als politischen Akteur. Sie sehen mich nur als jemanden, der kein Wissen hat!«

Eine weitere interviewte Person betont, dass sie erst durch die diasporische Kontinuitätserfahrung in der eigenen Biographie erfassen und verstehen konnte, wie sich Herrschaft in staatlichen Institutionen übernational ähnelt. Dies habe nicht zuletzt zu einer neuen Diskriminierungssensibilität geführt:

»Also ergaben all diese Dinge für mein eigenes Leben und für meine eigenen Probleme auf einmal eine Menge Sinn. Ich dachte, okay, der Staat ist das Problem. Egal, ob es der türkische Staat ist oder der deutsche Staat. Und ich sehe das jetzt deutlicher, weil ich auch rechtliche oder strukturelle Diskriminierung erlebe, die ich in der Türkei nicht erlebt habe. Ich wurde zum Beispiel nie kontrolliert. Zum Beispiel in der Türkei, als junge türkische Frau auf der Straße. Die Polizei hätte mich nicht kontrolliert. Aber wenn ich eine Kurdin wäre, hätten sie es wahrscheinlich getan.«

Um der beschriebenen Unsichtbarkeit der diasporischen Kontinuitätserfahrung etwas entgegenzusetzen und zentrale Prozesse dieses diasporischen Raumes besser greifen zu können, schlagen wir vor, diese Kontinuitäten diasporisch-dissidentischer Biografien stärker zu fokussieren. Denn das Wissen, das diasporische Subjekte mitbringen, ist nicht nur elementar, weil es ein genuiner Bestandteil der deutschen Einwanderungsgesellschaft ist. Es eröffnet zudem auch kritische Perspektiven auf komplexe Autoritäts- und Machtverhältnisse, die es zu berücksichtigen gilt.

Diasporische Allianzen

Die komplexen Subjekterfahrungen, die gerade im Kontext dissidentischer Migration durch diese Kontinuitäten zwischen dem Hier und dem Dort entstehen, bringen neue Identitäten und politische Positionen hervor. Durch das Aufeinandertreffen im diasporischen Raum entstehen dabei auch neue Allianzen innerhalb der hiesigen Ankunftsgesellschaft. Diese neuen Allianzen bezeichnen wir als diasporische Allianzen. So die Beobachtung einer Diaspora-Aktivistin, mit der wir sprachen:

»In der Türkei gibt es diesen Diskurs, dass […] wir westlich und modern sind. Alles, was geografisch ein bisschen östlicher ist als die Türkei, ist rückständig. Damals hatte ich als türkische Frau, die in der Türkei lebt, nicht die Vorstellung, dass eine Frau aus Syrien, dem Iran oder Ägypten oder dem Libanon mir sehr ähnlich ist. Das habe ich erst in Europa gelernt. […] Hier bin ich aus dem Nahen Osten, und damit kann ich gut leben. Das ist sogar sehr wichtig für mich. Es ermöglicht mir, mich mit der Region zu verbinden und die Dinge von einer anderen Perspektive aus zu sehen […] und die Geschichte besser zu verstehen.«

Durch die Erfahrung der Migration und die damit einhergehende Verschiebung der sozialen Position (bspw. vom Mitglied der Mehrheitsgesellschaft in der Türkei zum Teil einer migrantisierten Gruppe in Deutschland) kann es zu einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Position kommen. Diese Veränderung ist, so unser Argument, das Resultat zweier Erfahrungsstränge, die wir als Widerstands- und Marginalisierungserfahrungen einordnen. Beide Erfahrungsstränge wirken transnational verbindend: Die zitierte Aktivistin ist in ihrem Heimatkontext bereits feministisch sensibilisiert gewesen, hatte dort geschlechtsspezifische Marginalisierungserfahrungen gemacht und gegen patriarchale Strukturen gekämpft. Jedoch konnte diese Erfahrung, so unser Argument, erst in Kombination mit dem Perspektivwechsel in Deutschland und der Erfahrung der Migrantisierung zur Entstehung einer neuen politischen Position führen. Dies öffnet einen Raum für Solidarität mit beispielsweise Frauen aus anderen WANA-Ländern.

Ähnlich verhält es sich auch mit Identitätskategorien wie bspw. die BIPOC Identität. Sie fungieren häufig als ein Identifikationsrahmen, der Allianzbildung angesichts gemeinsamer Marginalisierungs- und Rassismuserfahrungen ermöglicht. Die Aktivistin führt in diesem Zusammenhang weiter aus:

»Wenn sie (Deutsche weiße Feministinnen) mich ansehen, sehen sie mich nur als Opfer. […] Aber für sie kann ich keine Aktivistin sein. Also diese Dinge haben mich natürlich mehr in aktivistische WOC Räume geführt. Als POC kann ich mit anderen Gruppen zusammenarbeiten. Das macht mich zum Subjekt. Das heißt aber nicht, dass ich der Gesellschaft in Deutschland den Rücken kehre, dass ich dem deutschen Staat den Rücken kehre […] und nur mit meinen POC-Freund*innen spiele. Denn wir leben in dieser Gesellschaft. Ich möchte über den Holocaust sprechen. Ich möchte auch über die DDR sprechen. Ich will über die Stasi reden. Es ist nicht so, dass ich nur über den POC-Kram reden kann und die anderen ignoriere.«

Auch hier führt die Erfahrung von Marginalisierung und Rassismus zur Identifizierung mit einer neuen Identitätskategorie. Zeitgleich wird aber verdeutlicht, dass diese Zugehörigkeit keine essentialistische ist, auf die sie reduziert werden möchte. Identitäten scheinen in dem Sinne Kategorien zu sein, die für Mobilisierung und Allianzbildung zentral sind und nicht dafür, eine essentialistische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu markieren.

Wirft man darüber hinaus einen Blick auf die Kontinuitäten dissidentischer Kämpfe und politischen Aktivismus, die auf die Herrschaftsverhältnisse im Herkunftskontext referieren, dann werden auch hier die transnationalen Allianzen deutlich. Sie werden durch die diasporische Position erst möglich und vernetzen sich im diasporischen Raum, tauschen Erfahrungen aus, entwickeln sich weiter und kommen zu neuen Schlussfolgerungen. Durch die Brille dissidentischer Kämpfe ergibt es wenig Sinn, die syrische Diaspora als eine Gruppe fassen zu wollen - und die iranische als eine, und die ägyptische und sudanesische als eine. Stattdessen sollte auf den kollektiven Moment der Widerstandsgeschichte sowie den gemeinsamen Erfahrungen im Ankunftskontext zurückgegriffen werden, die zum Beispiel gleichzeitig syrisch, iranisch, ägyptisch und sudanesisch sein können. Diese politischen Subjektivierungsprozesse, die Aushandlungen neuer Positionen, die Fortsetzung von Kämpfen entlang diasporischer Kontinuitätslinien, die Entstehung diasporischer Identitäten und solidarischer Allianzen bezüglicher dieser Kämpfe bilden ein dichtes Netz an Verbindungen, Erkenntnissen und Analysen. Weder die Reduzierung politischer Kämpfe von diasporischen Subjekten auf die Migrationserfahrung, noch ein national abgeschlossenes Diasporaverständnis können das Selbstverständnis und die Verflechtung diasporischer Kämpfe fassen.

Wir benutzen hier das Konzept des diasporischen Raums von Avtar Brah, um zu verdeutlichen, dass diese diasporischen Kontinuitäten einen relationalen Raum innerhalb der deutschen Gesellschaft und darüber hinaus konstituieren (vgl. Brah 1996). Laut Brah ist dieser Raum geprägt von Prozessen der Vertreibung, Migration, Ankunft und Umsiedlung (Brah 1996). Verwenden wir das Konzept des diasporischen Raumes zur Analyse von sozialen Prozessen, wird deutlich, dass die Erfahrung von Migration in diesem Raum sicherlich eine zentrale Rolle spielt – dieser Raum aber nicht darauf reduziert werden kann. Gleichzeitig bilden die diasporischen Subjekte in diesem Raum Allianzen aufgrund der erlebten Konfrontation mit den Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die sie in ihrer diasporischen Position erleben. Wir haben es mit Subjekten zu tun, die wegen ihrer komplexen Biografie nicht über einfache nationalstaatliche Kategorien definiert werden können. Gleichzeitig sind sie aber permanent mit Institutionen, Diskursen und Praktiken konfrontiert, die nationalstaatlichen Logiken folgen. Eben durch diese Konfrontation und geteilte Entfremdungserfahrungen entstehen in Reaktion auf die Herrschaftsverhältnisse neue Allianzlinien. Diese Prozesse können durch ein Verständnis von Diaspora, wie wir es hier ausgebreitet haben, verstanden und analysiert werden.

Schlussfolgerungen

In diesem Beitrag haben wir den Versuch unternommen, anhand der Erfahrung dissidentisch-diasporischer Subjekte das Potential eines entnationalisierten Diasporabegriffes in der Auseinandersetzung mit politischen Kämpfen herauszuarbeiten.

Wir gehen davon aus, dass dissidentische Migration in Deutschland immer deutlicher zur gesellschaftlichen Realität wird. So argumentieren wir, dass dabei der diasporische Raum in Deutschland eine bedeutende Rolle in der Fortsetzung widerständiger Kämpfe gegen autoritäre Herrschaftsverhältnisse spielt. Gleichzeitig, so stellen wir fest, haben wir es durch diese Kontinuitäten mit Subjekterfahrungen zu tun, in denen sich politische und soziale Kämpfe des Herkunftslandes mit jenen der Migration und der Ankunft in Deutschland verbinden. Wir haben es dabei mit komplexen Biografien und Kämpfen zu tun, die über nationalstaatliche Grenzen und Logiken hinausgehen.

Der Versuch der Erfassung dieser Erfahrungen mit einer reinen Migrationsbrille wiederum stationiert diese diasporischen Biografien auf eine künstliche Art und Weise und reduziert die Subjekte auf den Migrationsmoment in ihrer Biographie. Durch den Einsatz des Diasporabegriffes jedoch können die Kontinuitäten und Allianzen des diasporischen Raumes wieder sichtbar gemacht werden. Denn die Unsichtbarkeit diasporischer Erfahrungen wird seitens diasporischer Akteur*innen nicht nur als rassistische Infantilisierung empfunden, sondern lässt auch auch diasporisches Wissen in seiner Analysefähigkeit verloren gehen. Dieses diasporische Wissen ist jedoch von hoher transformatorischer und politischer Relevanz und kann einen Beitrag zu alternativen kritischen Analysen leisten. Es lässt uns autoritär-patriarchale Zusammenhänge und rechte Rhetoriken in ihrer überregionalen Dimension besser verstehen, die Entwicklungen globaler Logiken von autoritärer Herrschaft präziser einordnen und daraus etwa neue Handlungsperspektiven für Solidaritäts-, Bewegungs-, sowie nachhaltige Außen- und Innenpolitik ableiten.

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  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika. Sie promoviert am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg zum Thema syrische Diaspora und Dissidenzerfahrung als geteilte Erinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft.

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert zu Politisierungsbiografien migrantischer Feministinnen aus dem Iran und der Türkei an der Universität Koblenz-Landau. Sie ist außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice-Salomon-Hochschule. Sie publiziert regelmäßig zu den Themen Feminismus und Migration mit einem besonderen Fokus auf Westasien/Nordafrika.