Zum Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF über die europäische Grenzschutzagentur Frontex

Ein Leseversuch

Bernd Kasparek

Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, steht seit langer Zeit in der Kritik, an der Verletzung von Grund- und Menschenrechten im Zuge von Grenzschutzoperationen an den europäischen Außengrenzen beteiligt zu sein. Ende April 2022 zwang der Verwaltungsrat der Agentur ihren Exekutiv-Direktor, Fabrice Leggeri, zum Rücktritt. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Verwaltungsrat war ein rund 200-seitiger Bericht von OLAF, dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung, welches seit Ende 2020 auf eigene Initiative Vorwürfe gegen die Agentur untersuchte (vgl. Kasparek/Karamanidou 2022).

Trotz – oder gerade wegen – der offensichtlichen Brisanz des Berichts war dieser nur wenigen Personen außerhalb des Verwaltungsrats zugänglich gemacht worden. Am 13. Oktober 2022 veröffentlichten daher das deutsche Informationsfreiheitsportal Frag den Staat1 sowie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel2 eine Reproduktion des Berichts mit Schwärzungen. Er umfasst 123 Seiten, die Differenz erklärt sich aus dem Fehlen der umfangreichen Anhänge im Original-Bericht.

Die Schwärzungen, so scheint es, betreffen vor allem die Nennung von Namen im Bericht. Daher ist es regelmässig schwierig, den Schilderungen der Umstände, die die Untersuchung durch OLAF ergeben hat, zu folgen und die Schlussfolgerungen, zu denen der Bericht kommt, nachzuvollziehen. Ausweislich des Deckblatts der Berichts sind drei Personen von den Ermittlungen betroffen. Bekannt ist, dass es sich bei einer Person um den damaligen Exekutiv-Direktor Fabrice Leggeri, bei einer weiteren Person um den Leiter seines Kabinetts Thibauld de La Haye Jousselin handelte. Bei der dritten Person, gegen die sich die Untersuchung richtete, scheint es sich um Dirk Vande, ehemaliger Leiter des situation centre der Agentur zu handeln (Hanimann/Häuptli 2022). Zu Beginn des Berichts wird zudem darauf hingewiesen, dass Untersuchungen gegen weitere Personen, die ggf. an Pushbacks beteiligt waren oder diese vertuscht haben, von der ursprünglichen Untersuchung abgetrennt wurden und in einem separaten Verfahren verfolgt werden. Hier sind also weitere Erkenntnisse zu erwarten.

Der Bericht umfasst insgesamt neun Sachverhalte:

  1. Umgang mit Berichten über Grundrechtsverletzungen
  2. Zusammenarbeit mit der Grundrechtsbeauftragten und ihrem Büro
  3. Ausschreibung des Posten der Grundrechtsbeauftragten und ihrer Stellvertreter
  4. Der Ablauf einer internen Untersuchung gegen eine Person (Identität geschwärzt)
  5. Möglicher Verstoß gegen Berichtspflichten durch Frontex-Beamt:innen
  6. Revision der Berichtsverfahren
  7. Transparenz und Kommunikation durch eine Person (Identität geschwärzt) gegenüber EU Institutionen und anderen
  8. Informationsweitergabe an externe Dritte
  9. Unterlassung der Überprüfung digitalen Materials, welches von einem Drittstatt (geschwärzt) zur Verfügung gestellt wurde

Diese Sachverhalte lassen sich im Wesentlichen auf vier relevante Komplexe zusammenfassen. Der erste befasst sich mit eigenständigen Erkenntnissen der Agentur zu Grundrechtsverletzungen im Rahmen von Grenzschutzschutzoperationen (2.2.1.). Die Agentur hat entweder durch Meldungen – so genannte Serious Incident Reports (SIR) – von in Frontex-Operationen eingesetzten Beamt:innen nationaler Grenzschutzinstitutionen, oder aber auch durch Videomaterial von durch Frontex eingesetzten Überwachungsflugzeugen von diesen Praktiken Kenntnis erlangt. In einem Fall handelt sich dabei um die Operation Themis im zentralen Mittelmeer (Libyen, Malta, Italien), in den anderen Fällen geht es die Operation Poseidon in der Ägäis entlang der griechisch-türkischen Seegrenze.

Der Fall im zentralen Mittelmeer, also im Bereich zwischen Libyen, Malta und Sizilien/Italien, betrifft einen Fall von Booten, die im April 2020 von einem Überwachungsflugzeug der Agentur entdeckt wurden. Es handelte sich um vier Schlauchboote, die offensichtlich überfüllt waren und deren Insass:innen keine Rettungswesten trugen. Es war der Agentur allerdings nicht möglich, die Boote weiter zu verfolgen. Die maltesischen Behörden weigerten sich, Positions-Berichte zu den Booten an Frontex weiterzugeben. Drei Tage später landeten zwei der vier Boote in Sizilien an. An Bord fanden sich Wasserflaschen maltesischen Ursprungs, weswegen intern bei Frontex davon ausgegangen wurde, dass die maltesischen Behörden die Boote in italienisches Hoheitsgewässer geschleppt und dadurch einen Bruch internationalen Rechts begangen hätten. Desweiteren tauchte ein Boot mit 51 Personen und fünf Leichen an Bord in Tripolis, Libyen auf. Intern wuchs daher der Druck auf die Spitze der Agentur, diesen Serious Incident Report als Fall einer möglichen Grundrechtsverletzung zu kategorisieren, was eine Untersuchung durch die Grundrechtsbeauftragte nach sich gezogen hätte. Dies wurde jedoch durch die Beschuldigten verhindert.

Bezüglich der Ägäis nennt der Bericht eine Vielzahl von SIRs, in denen beschrieben oder durch Video dokumentiert wird, wie ein Boot der griechischen Küstenwache Flüchtlingsschiffe über die Seegrenze in türkische Hoheitsgewässer schleppt und dort ohne Navigationsmöglichkeiten zurücklässt. Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, dass es sich hierbei um einen Pushback, also einen Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot, das Verbot von Kollektiv-Ausweisungen der Genfer Flüchtlingskonvention wie auch gegen Bestimmungen der Europäischen Grundrechtecharta handelt und dies auch immer wieder von Mitarbeitenden der Agentur so benannt wird, wurden diese Berichte regelmässig anders klassifiziert. Damit sollte erreicht werden, dass die Grundrechtsbeauftragte der Agentur keinen Zugriff auf dieses Material erhalten würde. In einem Fall wurde auch das Überwachungsflugzeug, welche die Video-Aufnahmen anfertigte, gezielt aus der Operation abgezogen. Ferner wurde erwogen, grundsätzlich alle Aufnahmen von Sensoren mit einer hohen Geheimhaltungsstufe zu versehen, um den Zugriff durch die Grundrechtsbeauftragte zu unterbinden. Weiter wurde eine Anpassung des Interfaces des Europäischen Grenzüberwachungssystems EUROSUR, welches durch Frontex geführt wird, veranlasst, um die Grundrechtsbeauftragte von einer Vielzahl von Berichten auszuschließen. Die notwendigen Kosten von 15.000 EUR wurden genehmigt.

Der zweite Komplex handelt von Versuchen, die Abteilung der Grundrechtsbeauftragten systematisch zu schwächen (2.2.2.–2.2.4.). Der Posten der Grundrechtsbeauftragten ist Teil der Agentur, sie ist aber dem Exekutiv-Direktor direkt unterstellt und soll in der Agentur über die Wahrung der Grundrechte wachen. Diese Konstellation hat immer wieder zu Konflikten zwischen Grundrechtsbeauftragten und Exekutiv-Direktor geführt, letzterer war daher nicht daran interessiert, erstere zu stärken.

So wurde der Posten der Grundrechtsbeauftragten schon ein Jahr vor Ende ihrer Amtszeit ausgeschrieben, was ihre Autorität schwächen sollte. Ferner wurde der Posten umklassifiziert. Da die aktuell gültige Frontex-Verordnung aus dem Jahr 2019 die Einstellung von 40 Grundrechtsbeobachter:innen vorsah, wurde der Posten der Grundrechtsbeauftragten nun als Management-Position ausgeschrieben – was die damalige Grundrechtsbeauftragte auf Grund ihrer Qualifikation von dem Posten ausschließen würde. Gerügt wird durch den Bericht, dass die Personen in der Agentur, die die Ausschreibung des Postens veranlasst hatten, gar nicht dazu berechtigt waren. Vielmehr hätte die Ausschreibung durch den Verwaltungsrat genehmigt werden müssen. Dieser wurde jedoch nicht einbezogen und die Ausschreibung gezielt am Abend vor einer Sitzung des Verwaltungsrats veröffentlicht, was den Verwaltungsrat vor vollendete Tatsachen stellte. Die Ausschreibung der Positionen für die 40 durch die Frontex-Verordnung vorgesehenen Beobachter:innen-Posten wurde wiederum gezielt hintertrieben. Dadurch entwickelte sich ein Konflikt mit der zuständigen Person in der Europäischen Kommission, was die im Bericht beschuldigten Personen zum Anlass nahmen, die Kommissions-Mitarbeiter:in persönlich wie auch die Kommission als Institution immer wieder herabzuwürdigen und verächtlich zu machen (s.u.). Auch die Grundrechtsbeauftragte wurde immer wieder in internen Nachrichten verächtlich gemacht, sie wurde durch die beschuldigten Personen als der Agentur äußerlich wahrgenommen und als »Diktatorin« und »Pol Pot« beschrieben, die durch »Khmer Rouge Terror« in der Agentur herrsche und gegen diese arbeite.

Im dritten Komplex (2.2.7.) weist der Bericht nach, dass die beschuldigten Personen etwa gegenüber dem LIBE-Komittee (Innenausschuss des Europäischen Parlaments), welches 2021 ebenfalls eine Untersuchung der Agentur durchführte3, aber auch gegenüber der Kommission falsche oder unvollständige Tatsachenbehauptungen getätigt haben. Der Bericht führt zwei Begebenheiten an, in denen die Agentur sich bezüglich eines SIR an die griechische Regierung wandte, um weitere Informationen einzuholen, diese Briefe aber durch mindestens eine der beschuldigten Personen abgeschwächt wurden. In einem Fall wurde jegliche Referenz auf potentielle Grundrechtsverletzungen getilgt, in dem anderen Fall wurde die – wichtige – Information, dass ein potentieller Pushback in griechischen Hoheitsgewässern stattfand, aus dem Brief gelöscht.

Bezüglich der Kommission stellt der Bericht fest, dass im Zuge der Auseinandersetzung zwischen der Kommission einerseits und der Spitze der Agentur andererseits, wer für die Verzögerung der Einstellung der Grundrechtsbeobachter:innen verantwortlich sei, öfter falsche oder unwahre Behauptungen durch mindestens eine der beschuldigten Personen getätigt worden seien. Auch hier kann der Bericht darlegen, wie die Kommission in internen Aussagen immer wieder verächtlich gemacht wurde.

Bezüglich der Frontex Scrutiny Working Group des Innenausschusses des Europäischen Parlaments (LIBE-Komittee) hält der Bericht fest, dass mindestens eine der beschuldigten Personen behauptete, keine Kenntnis von Informationen zu haben, die der UNHCR zu Pushbacks in der Ägäis an die Agentur übermittelt hatte. Auch der Stand bezüglich der verzögerten Einstellung der Grundrechtsbeobachter:innen wurde falsch dargestellt. Interne Erkenntnisse zu möglichen Grundrechtsverletzungen wurden bestritten und vielmehr wurde behauptet, in den spezifischen Fällen hätte die Untersuchung kein Ergebnis ergeben. Ferner wurde behauptet, es sei unmöglich, SIRs zu bestimmten Operationen der Rapid Border Intervention Teams anzulegen, was OLAF als falsch zurückweist. Ebenso wurde behauptet, dass es keine internen Erkenntnisse gegeben habe, dass es im März 2020 an der griechisch-türkischen Landgrenze zu Grundrechtsverletzungen gekommen sein könnte, obwohl der Agentur intern eine Vielzahl von Medienberichten, die dies bestätigten, vorlagen. Eine ähnliche Behauptung wurde gegenüber dem Consultative Forum der Agentur geäußert.

Der vierte Komplex (2.2.9) bezieht sich auf umfangreiche Informationen, die der Botschafter eines Drittstaats in Polen an die Agentur übergeben hatte. Mutmaßlich handelt es sich bei diesem Staat um die Türkei, der Botschafter übergab einen USB-Stick mit einer Vielzahl an Photos, Videos und weiteren Dokumenten und erklärte, es handele sich um Beweise für Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis. Die Agentur begann sofort mit einer internen Sichtung des Materials und kam schon nach sechs Stunden zu dem Schluss, dass es sich um schwerwiegende Vorfälle handele, die eine Eröffnung von SIRs sowie die Einschaltung der Grundrechtsbeauftragten notwendig mache. Letzteres wurde jedoch durch eine der beschuldigten Personen per mündlicher Anweisung unterbunden. Trotz interner Erkenntnisse, dass die Pushbacks im Rahmen von Frontex-Operationen stattgefunden haben könnten und durch von Frontex ko-finanzierte Boote durchgeführt wurden, folgten keine Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen.

Soweit die Zusammenfassung des Berichts, insofern er sich auf Grund der Schwärzungen rekonstruieren lässt. Was für Forderungen ergeben sich jetzt aus dem Bericht?

Am schwersten wiegt, dass die Agentur offensichtlich über Erkenntnisse und Beweise systematischer Pushback-Praktiken in der Ägäis verfügt. Auf Grund der bisherigen Medienberichterstattung über den Komplex war nicht klar, ob es sich um eine Vielzahl von internen Berichten handelt, über die die Agentur verfügt, oder ob es sich eher um Einzelfälle handelt. Nun ist davon auszugehen, dass in der Agentur ein veritables Archiv von Grundrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU besteht, zum einen in ihrer internen Datenbank zu eigenen Einsätzen namens JORA, zum anderen aber auch im Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR, in das auch relevante Vorkommnisse durch nationale Grenzschutzinstitutionen eingespeist werden. Angesichts der Systematik und der Proliferation von Pushbacks in den letzten Jahren wäre es dringend geboten, dass eine unabhängige Kommission uneingeschränkten Zugang zu den Datenbanken erhält und so das wahre Ausmaß von Grundrechtsverletzungen und Brüchen europäischen Rechts an den Grenzen Europas untersuchen kann.

Die Europäische Kommission wäre zudem angehalten, diese und ähnlich Erkenntnisse in ihre Schengen-Evaluation aufzunehmen und durch Vertragsverletzungsverfahren wie auch durch das Zurückhalten von Geldern die jeweiligen Mitgliedstaaten zu zwingen, zu einer europarechtskonformen Grenzverwaltungspraxis zurückzukehren.

Bezüglich Griechenlands ist zu konstatieren, dass dort Pushbacks die de facto Grenzverwaltungspraxis geworden sind. Die Agentur muss darauf mit einem sofortigen Abbruch der dortigen Operationen gemäß Art. 46 der Frontex-Verordnung reagieren. Einzelne Mitgliedstaaten könnten dies forcieren, indem sie ihre in Frontex-Operationen eingesetzt Kontigente abziehen.

Grundsätzlich zeigt der Bericht auch auf, dass die Agentur und ihr Leitungspersonal nicht ausreichend politischer und rechtlicher Kontrolle unterliegt. Hier ist die EU gefordert, endlich ein Rahmenwerk für die Kontrolle von Agenturen zu schaffen und umzusetzen. Die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte Schaffung einer parlamentarischen Kontrolle der Agentur ist dabei nicht ausreichend. Angesicht der technischen Spezifizität und der Vielzahl der erhobenen Daten braucht es einen permanenten, unabhängigen Mechanismus, der die Einhaltung europäischen Rechts durch die Agentur garantiert und der auch entsprechende Eingriffsrechte – vergleichbar der Kompetenzen OLAFs, Beschlagnahme von Beweisen durchzuführen – bedarf. Dies kann auch nicht exklusiv Rolle der Grundrechtsbeauftragten sein, da deren Position, wie der Bericht zeigt, abhängig vom Wohlwollen der Leitung der Agentur und dieser unterstellt ist.

Zu guter Letzt bedarf es einer unabhängigen europäischen Gerichtsbarkeit, vor der auch Individuen gegen Agenturen und andere europäische Institutionen vorgehen können, um prüfen zu lassen, ob ihnen oder ihren Angehörigen Unrecht angetan wurde. Den vielen Tausenden Menschen, denen an der Grenze Europas Gewalt angetan würde, oder die sogar Angehörige verloren haben, könnte eine solche noch zu schaffende Gerichtsbarkeit Aufklärung und Wiedergutmachung bringen.

Literatur

Hanimann, Carlos / Häuptli, Lukas (2022): «Vorwürfe bewiesen»: Was im geheimen Frontex-Bericht steht. republik.ch, 13. Oktober 2022.

Kasparek, Bernd / Karamanidou, Lena (2022): What is in a name? Die europäische Grenzschutzagentur Frontex nach dem Sommer der Migration. In Von Moria bis Hanau - Brutalisierung und Widerstand, herausgegeben von Valeria Hänsel, Karl Heyer, Matthias Schmidt-Sembdner, und Nina Violetta Schwarz. Grenzregime 4. Berlin Hamburg: Assoziation A.

Kasparek, Bernd (2021): Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex. Bielefeld: transcript.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Bernd Kasparek