»Zeitenwende«

Der Bericht zur Arbeitsmarktintegration von Ukrainer*innen aus der Perspektive der kritischen Migrationsforschung

Peter Birke

Der Sachverständigenrat für Migration hat – mit Redaktionsschluss im Juli 2022 – eine erste Einschätzung der Arbeitsmarktpositionen von Menschen vorgelegt, die angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind. Aus migrationspolitischer Sicht repräsentiert die Situation dieser Menschen gleich eine dreifache Herausforderung: Erstens in quantitativer Hinsicht, so hielten sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts Mitte Juli etwas über 900.000 Kriegsflüchtlinge in Deutschland auf. Zweitens wurde durch die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie der EU und ihre Umsetzung in Deutschland auf der Grundlage von § 24 AufenthG eine Ausnahmesituation geschaffen, indem diese Kategorie der Geflüchteten einen (jedenfalls juridisch) schnellen und unproblematischen Zugang sowohl zu sozialen Leistungen als auch zum Arbeitsmarkt haben. Es wird somit drittens, wie die Autor:innen der Studie zurecht betonen, eine Situation geschaffen, in der wesentliche Faktoren einer Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen dieser Menschen entfallen – anders als bei hunderttausenden anderen Geflüchteten, die nicht das Glück haben, im Kontext der – im Titel der kleinen Broschüre etwas unkritisch übernommenen – Diktion der »Zeitenwende« eingereist sind. Es ist dabei von vornherein klar, dass die Arbeit von Schork, Loschert und Kolb nur erste Eindrücke aus einer Situation vermitteln kann, die sich sehr schnell entwickelt, mit einer potenziell hohen Fluktuation der Geflüchteten selbst, mit der Entwicklung des Krieges, etc. Umso verdienstvoller und wichtiger, und durchaus auch mutig, erscheint das Anliegen, dennoch zu einer sozialwissenschaftlich fundierten und analytisch verdichteten Einschätzung der Situation zu kommen. Dies geschieht hier einerseits – im Kontext eines durch die Mercator-Stiftung geförderten Projekts – auf der Grundlage der Auswertung statistischer Daten unterschiedlicher Provenienz, andererseits auf der Basis von Exptert:innen-Interviews, wobei offenbar vorrangig Menschen befragt wurden, die in Behörden oder Migrationsberatungsstellen arbeiten.

In quantitativer Hinsicht stellt der Bericht dabei zunächst fest, dass die auf einer legalen Grundlage erfolgte Zuwanderung aus der Ukraine in der Zeit vor dem Februar 2022 eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt hat. Dies wird an unterschiedlichen Indikatoren festgemacht – so lag etwa der Anteil von Ukrainer:innen, für die die BA Zustimmungen für eine Arbeitsaufnahme erteilt hat, zwischen 2016 und 2021 mit 1,8 bis drei Prozent aller Anträge und auch zahlenmäßig mit wenigen Tausend vergleichsweise niedrig (S. 11). Und im Migrationsbericht zählte das BAMF für 2020 bei den Zuzügen unter ca. 365.000 Menschen mit Pässen aus Drittstaaten lediglich 14.972 ukrainische Staatsangehörige (S. 12), eine gerade im Vergleich zur aktuellen Situation verschwindende Zahl. Die schnelle Neuzusammensetzung von Migration, die durch den Krieg hervorgerufen wird, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass, wie die Autor:innen vermerken, auch schon vor dem Februar durchaus eine selektive, aber zugleich bedeutende Migration in einige prekäre Segmente der bundesdeutschen Ökonomie stattfand, namentlich vermittels von »zwei Zugangswegen im juristischen Nischen- und Graubereich«. Der Umstand, dass vor dem Februar keine spezifischen Abkommen zur Arbeitskraftrekrutierung mit der Ukraine existierten, jedoch eine visumsfreie Einreise möglich war, hat einen Zugang zu Arbeitsverhältnissen in Deutschland in Form einer de-facto Saisonarbeit in der Landwirtschaft sowie in der 24-Stunden-Betreuung hervorgebracht.

In Landwirtschaft handelte es sich dabei um zwei »studentische« Arbeit im Rahmen sogenannter Ferienbeschäftigung und Praktika, und in beiden Fällen konstatieren die Verfasser:innen, dass der Status ante-2022 durch eine Verstärkung »individueller Vulnerabilitätsfaktoren« (S. 17) gekennzeichnet sei, die zu bekannten Formen der Überausbeutung (Akkordarbeit, überlange Arbeitszeiten, Ausbeutung in Wohnverhältnissen etc.) führten. Etwas unklar bleibt – der Arbeitsform und ihrer schwierigen Erfassung wohl geschuldet – der Umfang dieser Beschäftigung, zu dem die Autor:innen lediglich konstatieren, dass sie in einzelnen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern) »bereits ein elementarer Bestandteil des landwirtschaftlichen Arbeitskräftepools« sei (S: 16). Während an dieser Stelle auch offen bleibt, was genau unter »elementar« zu verstehen ist, trifft diese Einschätzung jedoch sicher auf ukrainische Sorgerarbeiter:innen in privaten Haushalten zu. Hier spielten, konstatieren die Autor:innen, vor dem Februar 2022 zwei Aspekte eine wichtige Rolle: Erstens findet offenbar ein zunehmendes »Überspringen« der care-chains statt, das durch den Arbeitskräftemangel in den Anrainerstaaten (vor allem Polen) und die Verbesserung der ökonomischen Situation sowie der Verhandlungsmacht der Arbeitenden aus EU-Staaten verursacht zu sein scheint. Auch durch die Deregulierung des Zugangs zum polnischen Arbeitsmarkts scheint zudem eine Beschäftigung in Deutschland qua Entsendung zur gängigen (allerdings halblegalen bis illegalen) Praxis geworden zu sein. Diese Form ist sehr häufig deshalb illegalisiert, weil die Arbeitserlaubnis in Deutschland in diesem Konstrukt der Entsendung von Drittstaatenangehörigen aus EU-Staaten überwiegend nicht gegeben ist. Die Autor:innen entnehmen der Literatur, dass 2021 ca. 126.000 Personen aus Drittstaaten ohne rechtliche Grundlage und lediglich ca. 7.000 legalisiert in deutschen Haushalten Sorgearbeit geleistet haben (S. 20). Die Arbeitsmarktstruktur führt dabei auch in diesem Falle zu den bekannten Formen der Überausbeutung, von der physischen Gewalt gegen Betreuende, einen Hire-and-Fire-System der Vermittler:innen bis hin zu einer faktisch weit unter dem Mindestlohn liegenden Bezahlung und extrem entgrenzter Arbeitszeiten.

Im letzten Schritt des Texts machen die Verfasser:innen dann das interessante Experiment, nach den Bedingungen für Ukrainer:innen zu fragen, die auf der Grundlage ihrer kollektiven Anerkennung als Kriegsflüchtlinge nach dem Überfall im Februar gekommen sind: Für diese fallen die Voraussetzungen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse – wie unsicherer Aufenthalt, begrenzter Arbeitsmarktzugang etc. – nämlich auf den ersten Blick weg. Führt dies – so lautet die migrationssoziologisch sehr interessante Frage – zu einer Entschärfung des »Prekaritäts-Studels« und »struktureller Teilhabehürden« (S. 25)?

Die definitive Antwort auf diese Frage muss, wie bereits erwähnt, vermutlich noch etwas auf sich warten lassen. Eine Annäherung versuchen die Autor:innen auf der Grundlage von explorativen Expert:innen-Interviews. Sie stellen zusammengefasst fest, dass »wichtige individuelle Faktoren, die prekäre Arbeits- und Lebenslagen fördern können, wie mangelnde finanzielle und soziale Absicherung, Dequalifizierung, unzureichende Sprachkenntnisse und fehlende Kenntnis der in Deutschland geltenden Rechte und formalen Abläufe« trotz des erweiterten Zugangs zum Arbeitsmarkt, zu Integrationskursen sowie zum sozialen Hilfesystem erhalten bleiben könnten (S. 29). Der Bericht macht sodann einige wichtige Vorschläge, wie diese Situation behoben werden kann. Es wird bspw. festgestellt, dass es aktuell einige Probleme mit der schnellen Erteilung von Aufenthalts- und Fiktionsbescheinigung gebe, ebenso wie der Übergang aus dem Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes in den Bereich des SGB nicht gut funktioniere, so dass vorhandene formalen Rechte vielfach nicht genutzt werden können. Ebenso sei die Gefahr zu beobachten, dass die Kombination von schnellen Arbeitsmarktzugängen und volatiler Lebenssituation wiederum – against all odds? – zu einer Beschäftigung im prekären Niedriglohnbereich führe. Zudem ist der Hinweis, dass für die in ihrer großen Mehrheit weiblichen Geflüchteten aus der Ukraine vor allem die Frage der externen Kinderbetreuung dringend gelöst werden müsse, um Teilhabechancen zu erhöhen, sehr wichtig. Und schließlich ist eine schnelle Anerkennung vorhandener Berufsqualifikationen in Bezug auf die ukrainischen Geflüchteten, namentlich dort, wo er in den entsprechend regulierten Berufen notwendige Eintrittsvoraussetzung ist, offenbar ebenso hürdenreich wie für alle anderen Geflüchteten auch.

Während diese Vorschläge durchgehend sinnvoll erscheinen, wirkt der Befund der Studie, dass es sich bei diesen »noch immer bestehenden« Problemen um »individuelle Hürden« handele, merkwürdig tautologisch: Die Leute leben prekär, weil sie eben (individuell) prekär sind. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Ausgangspunkt der Studie einen multidimensionalen, aber deskriptiven Begriff der Prekarität bestimmt, in dem es Prekaritätsfaktoren gibt, die sich insgesamt addieren können, woraufhin sich eine Teilhabeproblematik entwickele. »Addiert« wird in dieser Perspektive freilich nicht auf dem Konto des Schlachtbetriebs oder der Vermittlungsagentur für diese oder jene prekäre Beschäftigung, sondern, wenn man so will, lediglich auf dem »individuellen« Prekaritätskonto der Betroffenen. Dies ist nur pragmatisch nachvollziehbar, aus Sicht einer kritischen, machttheoretisch fundierten Perspektive der Migration allerdings mehr als fragwürdig, wobei die »Betroffenen« sicher in Zukunft auch selbst zu Wort kommen und nicht nur, wie in diesem Bericht, völlig unbefangen durch die Brille der Expertinnen und Experten (und zwar als »wehrlos« und »ohnmächtig«) repräsentiert werden sollten.

Ein merkwürdiger blinder Fleck bleibt insgesamt, und das ist besonders erstaunlich angesichts der vielen Texte, die zu diesem Gegenstand in den letzten Monaten und Jahren erschienen sind, die Rolle der Arbeitgebenden. Jene Teile der Studie, in denen sie vorkommen, legen implizit ein Bild von »Nischen-Unternehmen« nahe, die das Unglück der Prekären ausnutzten, während doch vieles in der aktuellen Migrationsforschung auf strukturelle Probleme der Ausbeutung in mitunter multinationalen, marktbeherrschenden Unternehmen hindeutet, die alles andere sind, nur nicht Nischen- und Randfiguren. Der SVR-Bericht hätte gerade an dieser Stelle auch die Frage formulieren können, ob es eigentlich einen Übergang zwischen den »alten« und den »neuen« Formen der Prekarität in der ukrainischen Migration nach Deutschland gibt. Oder, anders gefragt: Werden nicht viele der ukrainischen Frauen im erwerbstätigen Alter nicht wiederum dort landen, wo sowieso schon »ukrainische« Beschäftigung existiert: so bspw. in privaten Haushalten oder in der Landwirtschaft? Mit Antworten auf diese Frage wird die Migrationsforschung sicherlich in den nächsten Jahren weiter beschäftigt bleiben.

Schork, Franziska/Loschert, Franziska/Kolb, Holger (2022): »Zeitenwende« bei der Arbeitsmarktintegration? Teilhabe und Prekarität von Ukrainerinnen und Ukrainern am deutschen Arbeitsmarkt. SVR-Policy Brief 2022-3, Berlin.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Peter Birke arbeitet im Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, zurzeit in einem Projekt über company towns und transnationale Ökonomien in der Fleischindustrie. Forscht seit längerem auch zu Arbeit, Migration und sozialen Kämpfen, Veröffentlichung u.a. Grenzen aus Glas, Wien: Mandelbaum 2022.