»Etablierte Provisorien«

Lokale Regierung von Geflüchteten durch Raum, Zeit und Moral

Sylvana Jahre

Wie werden Flucht und Geflüchtete lokal verhandelt? Wie beeinflussen räumliche, zeitliche und moralische Variablen und Aushandlungen die Bedingungen für Geflüchtete beim Ankommen in einer Stadt? Welche Spannungen, Ambivalenzen und Kämpfe gehen damit einher? Welche Rolle spielt dabei die Unterbringung Geflüchteter in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften? Warum kann von unterschiedlichen Zeitlichkeiten im lokalen Migrationsregime gesprochen werden? Und wie beeinflussen moralische Diskurse die konkrete Ausgestaltung lokaler Regierung von Migration?  Dies adressiert Philipp Schäfer sowohl theoretisch als auch empirisch fundiert am Fall Leipzig rund um das Jahr 2015, dem sogenannten Sommer der Migration. Philipp Schäfer arbeitet die zentrale Ambivalenz des Migrationsregimes heraus, einerseits provisorisch und nur auf kurze Dauer gestellt zu sein, andererseits aber ebenjene Provisorien zu etablieren.

Als Provisorium versteht Philipp Schäfer in Anlehnung an die kontingenztheoretische Philosophie Hans Blumenbergs (2011: 60) eine permanente Vorläufigkeit im Umgang mit Geflüchteten; eine Möglichkeit, die Krisenmodi der lokalen Regierung von Migration nicht als Ausnahme zu sehen, sondern sie auf ihre Regelmäßigkeit hin zu überprüfen (vgl. Schäfer 2022: 15). Um dies greifbar zu machen, bedient sich Philipp Schäfer dreier Dimensionen des Provisorischen: Raum, Zeit & Moral, anhand derer das empirische Material aufgearbeitet wurde und die im Folgenden des Buches die zentralen Kategorien der Betrachtung darstellen.

Der analytische Rahmen der Arbeit bildet die Migrationsregime-Perspektive, die für die Erforschung der lokalen Regierung von Flucht & Geflüchteten fruchtbar gemacht wurde (vgl. Hinger et al. 2016). Diese Perspektive öffnet den Blick, die Stadt nicht als bloßen Container zu sehen, sondern die zahlreichen Verflechtungen auch über die Stadt hinaus sichtbar und damit problematisierbar zu machen. Um Migrant*innen nicht zu bloßen Objekten ihrer Regulation zu machen, greift Philipp Schäfer auf aktivistische Arbeiten zurück, die die postnationale Dimension von Regimen anhand von Grenzregimen hervorheben (vgl. Hess/Tsianos 2010: 252, zit.n. Schäfer 2022: 25). Die Grenze wird dabei sowohl als Praxis, als auch als Realität analysiert (ebd.), was sich nicht nur auf die EU-Außengrenzen, sondern eben auch auf Städte und ganz konkret auf Leipzig übertragen lässt. 

Migrationsregime erforschen

Die Erforschung von Grenzregimen geht mit spezifischen Methoden einher. So nähert sich Philipp Schäfer ethnografisch, also durch teilnehmende Beobachtung, Interviews und die Sichtung zahlreicher Dokumente dem Feld an. Dabei werden die »Praktiken der Migration« (Hess/Tsianos 2010: 244, zit.n. Schäfer 2022: 37) fokussiert, also die Diskurse, Machtverhältnisse und Politikformen und nicht nur die ›empirischen‹ Praktiken der Migrant*innen (ebd., Hervorhebung im Original). Philipp Schäfer reflektiert dabei die mitunter schwierigen Zugänge zu Personen, aber insbesondere auch zu Unterkünften. Seine Feldaufenthalte waren weniger geplant, sondern Gelegenheiten wurden ergriffen, wenn sie günstig waren (vgl. Schäfer 2022: 41). Die beschriebenen Schwierigkeiten reflektieren das sehr dynamische Feld, das sich selbst immer wieder neu ordnet (vgl. Schäfer 2022: 38). Weitere denkbare (ethische) Herausforderungen bei der Erforschung von lokalen Migrationsregimen und dem Umgang mit Geflüchteten, wie die eigene Positionalität (vgl. Njeri 2020) zu thematisieren und damit auch den Ausgangspunkt der Interpretationen sichtbar zu machen, aber auch der nicht eindeutige greifbare Nutzen für Geflüchtete, an Forschung teilzunehmen (vgl. Dantas/Gower 2020) bleiben offen. Philipp Schäfer gelingt es außerordentlich gut, die mannigfaltigen Stimmen seiner Forschung in der Arbeit zu Wort kommen zu lassen und er gibt sehr intensive Einblicke in sein Forschungstagebuch. Dabei zeigt sich an vielen Stellen, dass es kein einseitiges ›Beforschen‹ und weit mehr als teilnehmende Beobachtung ist, sondern eingebettet in zahlreiche Gegenseitigkeiten.

Zwischen Kasernierung und Fürsorge

Philipp Schäfer arbeitet sehr überzeugend heraus, wie sich das Provisorium als Steuerungsmodus der lokalen Regierung von Migration etabliert hat: die Räume der Gemeinschaftsunterbringung zeigen kontinuierliche, wie umkämpfte und provisorische Räume, durch die Mobilität von Geflüchteten in der Stadt geplant, gesteuert, ermöglicht sowie verhindert werden sollen (vgl. Schäfer 2022: 107). In dem das Provisorische auf Dauer gestellt wird, ergeben sich sowohl stabilisierende Funktionen der lokalen Regierung von Geflüchteten als auch sehr dynamische Eigenschaften, die durch Konflikte im steten Wandel sind (ebd.).  Ganz grundsätzlich zeigt die Arbeit die Bedeutung von Räumen, Orten und Grenzen für die Aushandlung von je spezifischen Migrationsverhältnissen (Pott 2018: 111 zit.n. Schäfer 2022: 51). Die historischen und theoretischen Grundlagen für die sogenannten Gemeinschaftsunterkünfte bilden Theorien der Kasernierung (Schäfer 2022: 55ff.) wie die Disziplinar- und Strafanstalt von Michel Foucault (1994), die totale Institution beschrieben von Erwin Goffman (1973), oder dem Lagers als »nómos« der Moderne von Giorgio Agamben (2002). Hier zeigt sich bereits, wie sich gesellschaftliche Veranderung räumlich manifestiert und durch bestimmte Mechanismen aufrecht erhalten wird. 

Philipp Schäfer spürt den Mechanismen der Kasernierung nach, legt aber gleichwohl eine sehr differenzierte Betrachtung dar, denn das »institutionelle Ordnungssystem war nicht strikt regelhaft, sondern dynamisch« (Schäfer 2022: 63). Gleichzeitig haben Bewohner*innen der Unterkünfte sich Räume vielfach selbst angeeignet (ebd.), aber auch das Personal in den Unterkünften hat versucht, hierarchische Strukturen zu durchbrechen (ebd.). Hier verdeutlicht sich die zentrale räumliche Ambivalenz: Während die Unterkünfte für Geflüchtete eine Reihe der Merkmale von Kasernierung erfüllen, so beanspruchen sie und das dort arbeitende Personal gleichwohl eine Dienstleistungsfunktion, die über eine bloße Grundsicherung hinaus geht und gar als fürsorgerisch bezeichnet werden kann (vgl. Schäfer 2022: 64). In Anlehnung an Elena Fontanaris treshold, die Unterkünfte als Zwischenorte zwischen Segregation und räumlicher Integration und gleichwohl Instrument zur Steuerung räumlicher Mobilität von Geflüchteten definiert (vgl. Fontanari 2015), legt Philipp Schäfer den Fokus auf die Sozialarbeiter*innen in Unterkünften. Diese vermitteln nicht nur zwischen den räumlichen Skalen des Globalen und des Lokalen, sondern sind auch der räumlichen Segregation und sozialen Integration zwischengeschaltet (vgl. Schäfer 2022:  83).

Sehr eindrücklich beschreibt Philipp Schäfer die Spannungen und Konflikte zwischen der Dezentralisierung und einer Rezentralisierung bei der Unterbringung Geflüchteter in Leipzig. Eine zunehmende Kritik an Gemeinschaftsunterkünften ermöglichte gar eine diskursive Verschiebung, Gemeinschaftsunterbringung nun als defizitären Raum zu definieren und dezentrale Unterbringung und die Bedürfnisse der Bewohner*innen ins Zentrum zu stellen: »Der Dezentralisierungsplan produzierte einen Raum, den es so im öffentlichen Bewusstsein der Stadt nicht gab« (vgl. Schäfer 2022: 74). Mit den Entwicklungen vor und nach dem Jahr 2015 musste jedoch einem »raumpolitischen Pragmatismus« (Schäfer 2022: 82) Platz gemacht werden, der eine Neuaufwertung gemeinschaftlicher Unterbringung mit sich brachte. Mit dem Framing der »Krisensituation« (Stadt Leipzig 2012e, S. 2 zit.n. Schäfer 2022: 89) wird letztlich die die »Renaissance der Massenunterkunft« (Schäfer 2022: 89) gerechtfertigt. Philipp Schäfer nutzt hier das Bild vom »Raumgreifen von Massenunterkünften« (Schäfer 2022:  97) bzw. vom »Raumgreifen des Provisorischen« (Schäfer 2022: 100). Philipp Schäfers Arbeit reiht sich in eine längere akademische Tradition ein, wissenschaftlich Kritik an der Unterbringung von Geflüchteten in Unterkünften auszuüben (siehe auch z.B. Arouna 2019, Blank 2021, Gliemann und Szypulski 2018, Kreichauf 2019, Pieper 2008, Täubing 2009, Werner 2020), die so lange weitergeführt werden wird, bis die Form der Unterbringung allenfalls temporär stattfindet und damit ein Provisorium bleibt. Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten ergeben sich vor allem zu Forschungen, die eine Ethik der Fürsorge (ethics of care) in der Stadt thematisieren (vgl. z.B. Rusenko 2018, Saltiel 2021). Fürsorge kann als Beziehung verstanden werden zwischen jenen, die care geben und jenen, die aufgrund von Vulnerabilität und Prekarität auf care angewiesen sind (vgl. Madanipour 2022: 17). Dies wiederum kreiert eine Hierarchie in der Beziehung und führt zu Abhängigkeiten. Es wäre daher spannend und sinnvoll für zukünftige Forschungen, feministische Literaturen, die eine Ethik der Fürsorge verhandeln, und die lokale Politik der Migration stärker zusammen zu denken. 

Zwischen dem Selbstlauf der Bürokratie und der Zeit der Migration

Die zeitliche Dimension der Migration ist neben dem Raum eine, die auch in der Migrationsforschung bereits Beachtung gefunden hat (Cwerner 2001; Griffiths et al. 2013; Griffiths 2014). Dabei werden immer wieder dichotome Kategorisierungen von Migrant*innen entweder als permanent oder temporär (vgl. King et al. 2006) vorgenommen. Hier zeigen sich bereits die Anknüpfungspunkte zur Arbeit Philipp Schäfers, zwischen Vorläufigkeit und Dauerhaftigkeit, zwischen Provisorium und Etablierung der Zugehörigkeit. Philipp Schäfer fasst das als Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher temporaler Modalitäten (vgl. Schäfer 2022: 112): die Praktiken der Migration sowie die Versuche ihrer Kontrolle laufen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab: »Die Regierung von Migration erweist sich demzufolge als Regierung von Zeit« (Schäfer 2022: 112). Während viele Arbeiten auf die »forced temporarines« (Griffiths et al. 2013, zit.n. Schäfer 2022: 113) hinweisen, oder auch konstatieren, wie sich dieser Zustand in eine »dauerhafte Vorläufigkeit« (Vosko et al. 2014) entwickelt, kann Philipp Schäfer anhand seines Materials noch eine weitere Dimension ergänzen. Es geht weniger um den Zustand des Temporären, sondern um die Geschwindigkeit. Das prozedurale Zeitregime bürokratischer Herrschaft, wie es für das deutsche Asylsystem zutrifft, gerät in einen »Selbstlauf der Bürokratie« (Schäfer 2022: 121). Dieser dient insbesondere dazu, die Geschwindigkeit zu verzögern, mit der Geflüchtete in der Stadt ankommen, untergebracht und versorgt werden (vgl. Schäfer 2022: 125). Im existenziellen Warten, dem Geflüchtete ausgesetzt sind, findet diese Langsamkeit dann ihren Ausdruck (Cabot 2014 zit.n. Schäfer 2022: 125). Und die Schauplätze verzögerter, fremdbestimmter Zeit waren vor allem Unterkünfte (vgl. Schäfer 2022: 129). Hervorzuheben ist hier das dadurch entstehende Machtungleichgewicht zwischen jenen, die warten und jenen, die warten lassen und damit im Zeitvorteil sind (vgl. Schäfer 2022: 126). Gleichzeitig ergibt sich durch die Dimension des Wartens eine gewisse »Unterkontrolle« (Schäfer 2022: 130), ein sich selbst überlassen und mit zäher Langeweile konfrontiert sein (ebd.). Die Verzögerung, das Warten kann demnach als Instrument des Regierens von Migration (wie auch schon Panagiotidis/Tsianos 2007; Andersson 2014; Sontowski 2017 herausgearbeitet haben) und damit als Zeitregime (vgl. Schäfer 2022: 135) gefasst werden.

Demgegenüber steht für Philipp Schäfer die Zeit der Migration (137ff.), die von Langsamkeit und Ereignislosigkeit, über den Prozess der Flucht als jahrelanges Unternehmen, und die Wette auf die Zukunft, bis zu den vielen Disruptionen, von plötzlichen und gewaltvollen Momenten der Beschleunigung geprägt ist (vgl. Schäfer 2022: 137). Anknüpfend an Arbeiten zur Autonomie der Migration (vgl. Moulier Boutang 1993; Mezzadra 2011) spricht Philipp Schäfer von der temporalen Autonomie der Migration (vgl. Schäfer 2022: 138ff) und meint damit, dass sich Personen dem Rhythmus der Bürokratie entziehen und mitunter die Institutionen warten lassen (vgl. Schäfer 2022: 140). Während lokale Verwaltungen von Flucht den Anspruch auf Kontrolle der Mobilität von Menschen haben und dies zumindest temporär stilllegen will, so können turbulente Zeiten das Außerkraftsetzen eben dieser Kontrolle verdeutlichen. Am Beispiel des Herbsts 2015 veranschaulicht Philipp Schäfer sehr deutlich, wie zwischen dem Selbstlauf der Bürokratie und der Zeit der Migration ein so großes temporales Ungleichgewicht erwuchs, dass eine Anpassung der bürokratischen Zeitlichkeiten an die der Migration unausweichlich schien (vgl. Schäfer 2022: 147). Der Verwaltungsapparat erwies sich als zu langsam und zu komplex (vgl. Schäfer 2022: 149), hatte keine probaten Regierungstechniken für Krisenzeiten parat (vgl. Schäfer 2022: 152) und machte damit einer eigendynamischen Zeit der Migration Platz, die eben diese Regellosigkeit für sich zu nutzen wusste. Der Fokus auf Geschwindigkeiten scheint hier besonders fruchtbar hinsichtlich des Rhythmus von Geflüchteten, was aus einer intersektionalen Perspektive weitergedacht werden könnte (vgl. z.B. Reid-Musson 2018). 

Zwischen Mitmenschlichkeit und Anti-Humanitarismus

Die dritte Dimension des Migrationsregimes ist für Philipp Schäfer die Moral, eine mitunter sehr entscheidende Positionierung im Kräftefeld der lokalen Regierung von Migration (vgl. Schäfer 2022: 157). Aufgrund der fehlenden Bürger*innenrechte liegen generelle Diskurse, aber auch konkrete Entscheidungen häufig im Bereich »des guten Willens und des Moralischen« (Schäfer 2022: 158). Die Entwicklungen rund um das Jahr 2015 und die damit zusammenhängenden öffentlichen Diskurse um die humanitäre Aufnahme und Unterbringung Geflüchteter löste eine bisher unbekannte Welle der Hilfsbereitschaft aus (vgl. Schäfer 2022: 161) und wurde gleichzeitig zur öffentlichen Verhandlungssache (vgl. Schäfer 2022: 164). Im Rahmen dieser Entwicklungen konstatiert Philipp Schäfer für Leipzig einen »moral turn« (ebd.), in dem die humanitäre Anrufung von Mitmenschheit und Mitmenschlichkeit ein zentrales Motiv darstellte, mit dem der offenherzige Umgang und die tatkräftige Unterstützung von Geflüchteten in der Stadt eingefordert wurde (vgl. Schäfer 2022: 165). Gleichzeitig leitet sich im Anschluss an Liisa Malkkis eine klare wie wirkungsvolle Rollenverteilung ab: auf der einen Seite die bedürftigen Empfänger*innen und auf der anderen Seite die starken Geber*innen humanitärer Hilfe (vgl. Malkki 2015: 8 zit.n. Schäfer 2022: 172).

Eine weitere moralische Dimension, die Philipp Schäfer in seiner Arbeit schärft, ist die der moralischen Ökonomie (im Anschluss an Didier Fassin 2016). Verstanden wird darunter vor allem ein Ordnungssystem deren Währung die Dankbarkeit ist und für ehrenamtliches Engagement eine erhebliche Rolle spielt (Schäfer 2022: 172). Die daraus entstehenden sozialen Beziehungen sind keineswegs immer horizontal, sondern können hierarchische Momente und Konstellationen der Ungleichheit beinhalten (vgl. Schäfer 2022: 174). Hilfe der Hilfe wegen sei dabei eine »von Emotionalität getriebenen, egoistischen und daher wenig hilfreichen bis sogar hinderlichen Form der Geflüchtetenhilfe« (Schäfer 2022: 176). Demgegenüber stehe eine von zweckrationalen Überlegungen geleitete pragmatisch-humanitären Hilfe, die sich durch die Hilfe der Hilfe wegen nicht nur in ihrer Expertise in Frage gestellt, sondern wiederholt auch in ihrer Arbeit behindert sieht (vgl. Schäfer 2022: 178). Diese von Philipp Schäfer angesprochene Binarität erinnert an zahlreiche feministische Debatten, die ebenjene Hierarchie von Emotionalität als das Minderwertige (Weibliche) und Rationalität als das Höherwertige (Männliche) kritisieren (vgl. Grosz 1994; Rose 1993). 

Ein weiteres Spannungsverhältnis ergibt sich aus den unterschiedlichen, in Leipzig agierenden Kräften. Auf der einen Seite sind es Aktivist*innen, die ein Menschenrecht auf Wohnen für Geflüchtete einfordern (vgl. Schäfer 2022: 187ff.) und die moralisch die Unterbringung asylsuchender Personen in isolierten Sammelunterkünften als rechtfertigungsbedürftig bis untragbar ansehen (vgl. Schäfer 2022: 195). Entlang dieser Argumentationslinien sind Wahlfreiheit und Selbstbestimmung (vgl. Schäfer 2022: 199) die wichtigsten Parameter für den lokalen Umgang mit Geflüchteten. Demgegenüber erfasst Philipp Schäfer für Leipzig ebenso eine gesellschaftlich moralische Gegenströmung des Anti-Humanitarismus (vgl. Schäfer 2022: 201ff.). Rechtfertigung verschafft sich diese Perspektive durch einen populistischen Wechsel der Betroffenheitsperspektive sowie durch die Konstruktion und moralische Überhöhung einer durch Migration bedrohten lokalen Gemeinschaft (vgl. Schäfer 2022: 203). 

Fazit

Philipp Schäfer arbeitet sehr überzeugend die Unterbringung Geflüchteter in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften als politisches Instrument heraus, das ›Integration‹ sowohl räumlich als auch zeitlich abfedert (vgl. Schäfer 2022: 129) und damit etablierte Provisorien als Modus des Regierens sichtbar macht. Insgesamt ermöglicht das Konzept der Migrationsregime eine räumliche Differenzierung, wie sehr anschaulich und mit viel empirischem Material dargestellt wird. Räume der Fluchtmigration in Leipzig können nicht einheitlich, sondern sehr unterschiedlich, oft sogar widersprüchlich und zeitlich nicht kontingent verlaufen. Jedoch lässt sich mit der Migrationsregime Perspektive kaum die Gruppe der Geflüchteten weitergehend differenzieren. So wäre es beispielsweise spannend zu erfahren, ob Philipp Schäfer in der Unterbringung für ausschließlich männliche Personen andere Beobachtungen gemacht hat als in den gemischten Unterbringungen. Anders gesagt müsste die Migrationsregime-Perspektive mit einer intersektionalen Perspektive in Dialog gebracht werden, um solche Differenzierungen sichtbar zu machen. Denn wie schon Robyn Longhurst (1997: 489) schrieb werden Körper sehr unterschiedlich von verschiedenen patriarchalen, heteronormativen, rassistischen usw. Prozessen und Regimen beschrieben, gezeichnet, vernarbt, transformiert oder konstruiert. Es bleibt also zu fragen, wie die Migrationsregime Perspektive und feministische, postkoloniale Literaturen für eine Analyse der lokalen Regierung von Migration zusammen gedacht werden können. Zusammenfassend vermittelt die wichtige Arbeit von Philipp Schäfer nicht nur Erkenntnisse für die lokale Migration von Flucht und Geflüchteten zwischen Provisorium und Etablierung, sondern kristallisiert auch zentrale Anknüpfungspunkte und offene Fragen für weitere Forschungen in diesem Themenfeld heraus.

Schäfer, Philipp (2022): Etablierte Provisorien. Leipzig und der lange Sommer der Migration. Frankurt am Main: Campus, 259 Seiten.

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  • Year: 2023


Sylvana Jahre ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin und promoviert zur Aushandlung von Migration in Stadtpolitiken. Ihre Arbeit ist inspiriert von der kritischen Stadtforschung, der reflexiven Migrationsforschung, der feministischen Geographie und den Science & Technology Studies. Sie ist am Graduiertenkolleg des SFB 1265 Re-Figuration von Räumen assoziiert. Außerdem hat sie im Forschungsprojekt MAPURBAN als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin gearbeitet.