Die umkämpfte Bedeutung der Fluchtursachenbekämpfung

Fluchtursachenbekämpfung als Lösungsstrategie der Krise des Migrationsregimes 2015

Neva Löw

Keywords causes of flight, development policy, migration policy, externalization, imperial mode of living


Rezension: Kopp, Judith (2023): Fluchtursachenbekämpfung. Umkämpfte Migrationspolitik im Sommer der Migration 2015. transcript: Bielefeld. 297 Seiten.

Was stand hinter den Forderungen nach einer Fluchtursachenbekämpfung in den Jahren nach 2015? Dem Sommer der Migration 2015 folgten chaotische Versuche, die europäische Migrationspolitik neu zu gestalten. Dabei drehte sich eine relevante Debatte um die Bekämpfung von Fluchtursachen als Lösung des ›Migrationsproblems‹. Sowohl NGOs, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, als auch Vertreter:innen der CDU forderten eine effektive Fluchtursachenbekämpfung. Was allerdings genau darunter verstanden wurde, war umkämpft. Judith Kopp, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel, beschreibt in ihrem Buch »Fluchtursachenbekämpfung. Umkämpfte Migrationspolitik im Sommer der Migration 2015«, wie die Debatten um Fluchtursachenbekämpfung von einem Ringen um deren Interpretationshoheit begleitet wurden. Auf knapp 300 Seiten analysiert sie die diskursiven Strategien verschiedener Akteur:innen der Migrationspolitik in Deutschland und auf EU-Ebene. Sie zeigt, dass sich im Kontext der Krise des Grenzregimes 2015 eine »Intensivierung des Diskurses um Fluchtursachenbekämpfung« (S. 13) feststellen lässt. Kopp integriert die Debatte in gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse, indem sie die Methodologie der historisch-materialistischen Politikanalyse (HMPA) verwendet. Das Buch bietet dem:der Leser:in eine gut strukturierte und theoretisch fundierte Analyse der Krise des Grenzregimes nach 2015 sowie der sich daraus ergebenden Auseinandersetzungen im politischen Feld der Fluchtursachenbekämpfung.

Fluchtursachenbekämpfung als umkämpftes Feld

Als »Herzstück« (S. 10) ihrer Arbeit geht Kopp dem Diskurs um Fluchtursachenbekämpfung aus verschiedenen Perspektiven nach. Dabei wird deutlich, dass sich verschiedene Akteur:innen mit unterschiedlichen Motiven an diesem Diskurs beteiligen. Durch den Sommer der Migration erfuhr der Diskurs der Fluchtursachenbekämpfung sowie daran geknüpfte politische Maßnahmen »eine Hochkonjunktur« (S. 111), sowohl auf europäischer Ebene wie auch in der Bundesrepublik Deutschland. So setzten die Exekutive Deutschlands und europäische Akteur:innen auf entwicklungspolitische Maßnahmen und auf privatwirtschaftliche Investitionen. Diese »Externalisierungspolitiken« (S. 116) waren ein zentraler Versuch, das Migrationsregime nach 2015 zu stabilisieren. Zwar weisen die ergriffenen Maßnahmen nach 2015 eine gewisse Kontinuität der europäischen Externalisierungsstrategien« (S. 122) auf, jedoch stellt die Autorin fest, dass sie sich zugleich auch radikalisiert haben. Judith Kopp geht in großem Detail den verschiedenen Akteur:innen nach, die sich in dieses Feld der Auseinandersetzungen begeben und versucht haben, ihre Strategien durchzusetzen.

Theoretisch nimmt sie bei ihrer Analyse Rekurs auf die Konzepte der imperialen Lebensweise (Brand/Wissen 2017) und der Externalisierungsgesellschaft (Lessenich 2016), um Migration als Regulierungsversuch der Nord-Süd-Verhältnisse zu fassen. Sie schreibt: »[E]inerseits verstehe ich das Nord-Süd-Verhältnis als wesentlichen Widerspruch, der Migrationspolitiken prägt. Und andererseits wird im Fluchtursachen-Diskurs genau dieser Widerspruch verhandelt« (S. 63). So gelingt es Kopp, Migrationspolitiken im Kontext von globalen Machtverhältnissen zu verstehen. Mit Bezug auf den Begriff des »Alltagsverstands« (Gramsci 1995, H.11, § 12, 1375) zeigt die Autorin zudem, wie die »imperiale Produktions- und Lebensweise« (S. 68) gerade durch ihre Verankerung im Alltagsverstand eine robuste Stabilität aufweist.

Analyse der Kräfteverhältnisse

Judith Kopp wählt als Vorgehensweise die historisch-materialistische Politikanalyse (HMPA). Angelehnt an die von Ulrich Brand entworfene Methodologie (vgl. Brand 2013) und das von der Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (vgl. Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa 2014) verfeinerte Analysemodell, entwickelt die Autorin ihre eigene Adaptation der HMPA. Sie ergänzt die vorgesehenen Analyseschritte durch eine »Tiefendimension Hegemonie«, in der die »Verankerung des hegemonialen Verständnisses von Fluchtursachen in den Alltagspraxen und dem Alltagsverstand« (S. 50) hervorgeht. Die Brücke zu ihrem empirischen Material, das Interviews, Dokumentenanalyse und eine kritische Diskursanalyse umfasst, wird durch die Critical Grounded Theory (CGT) geschlagen. Im Vergleich zu anderen Arbeiten der HMPA sticht dieses Buch durch eine hegemonietheoretisch fundierte Diskursanalyse hervor. Daher erweitert die Autorin die Methodologie der HMPA um wesentliche Aspekte. Durch ihre Fokussierung auf die Diskursebene kann die sogenannte »Akteursanalyse« in einer besonderen Tiefe dargestellt werden. Judith Kopp schafft es so aufzuzeigen, welche politischen Akteur:innen ein Interesse an welchen Aspekten dieses Diskurses hatten. So bietet ihre Vorgehensweise Anschlusspunkte an weitere Arbeiten, die mit der HMPA Kräfteverhältnisse in politischen Diskursen aufzeigen möchten.

Judith Kopp resümiert, dass das Verständnis von Fluchtursachenbekämpfung nach dem Sommer der Migration 2015 als ein neues politisches Projekt gelesen werden kann, das von den drei Hegemonieprojekten, dem konservativen, dem links-liberalen und dem neoliberalen, in Stellung gebracht wurde (S. 225, 228ff.). Dabei seien ein »internalistisches Verständnis« sowie ein »Verhinderungsbias« von Migration die beiden wesentlichen Eckpfeiler des Projekts (S. 228ff.). In ihrer Untersuchung stellt Judith Kopp fest, dass der Grund, weshalb das Konzept der Fluchtursachenbekämpfung nach 2015 so erfolgreich war, an seiner Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Hegemonieprojekte lag. Folglich konnten verschiedene Kräfte mit dem Diskurs ihre Strategien im Feld der Migrationspolitik vertreten (S. 146ff.). Beispielsweise gelang es Akteur:innen des konservativen Hegemonieprojekts, entwicklungspolitische Gelder und Projekte für Maßnahmen zur Migrationskontrolle zu nutzen. Sicherheitspolitische Projekte wurden mit Geldern aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EDF) und dem EU-Treuhandfonds für Afrika gefördert (S. 151). Kräfte des linksliberal-alternativen Hegemonieprojekts hingegen nutzten den Aufwind der Fluchtursachendebatte, um entwicklungspolitische (Staats-)Apparate aufzuwerten. So gewann das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Generaldirektion Entwicklung und internationale Zusammenarbeit der EU-Kommission an Relevanz und Finanzierung (S. 171ff.). Allerdings führte das auch zu internen Auseinandersetzungen dieses Hegemonieprojekts, da der linke Flügel die „Zweckentfremdung“ (S. 178) entwicklungspolitischer Gelder für sicherheitspolitische Maßnahmen kritisierte. Dem neoliberalen Hegemonieprojekt gelang es wiederum, Apparate, die ihnen zugeordnet sind, wie die Europäische Investitionsbank, im Feld der Migrationspolitik zu etablieren (S. 193ff.). Kopp macht deutlich, dass sich beim Fluchtursachen-Diskurs die Widersprüche und die Krisenhaftigkeit des Migrationsregimes zeigen. Sie schreibt: »Der Fluchtursachen-Diskurs zeigt außerdem, wie die Krise eine Auseinandersetzung mit Flucht und Migration im globalen Kontext hat aufscheinen lassen. Als diffuse Ahnung, Irritation oder Unbehagen, aber auch in offensiven Spuren im politischen und medialen Diskurs« (S. 252).

Das Buch von Judith Kopp bietet etliche Anknüpfungspunkte für Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen der kritischen Migrationsforschung, der Politikwissenschaften und Soziologie. Sie leistet mit ihrer Analyse einen unverzichtbaren Beitrag zur Literatur zur Krise des Grenzregimes nach dem Sommer der Migration 2015. Zu empfehlen ist ihr Buch zudem für all jene, die mit der Methodologie der HMPA arbeiten und die Analyse politischer Maßnahmen in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse einbetten möchten.

Literatur

Brand, Ulrich (2013): State, context and correspondence. Contours of a historical-materialist policy analysis. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 42 (4). 425–442.

Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2019): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München.

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) (2014): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung. Bielefeld.

Gramsci, Antonio (1995): Philosophie der Praxis: Gefängnishefte 10 und 11. Hamburg.

Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sinnflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin.

  • Volume: 8
  • Issue: 1
  • Year: 2025


Neva Löw ist Politikwissenschaftlerin und forscht international zu Arbeitsbeziehungen, Gewerkschaften und Migration. Sie promovierte an der Universität Kassel und studierte in Wien, Bordeaux und Campinas Politikwissenschaften und Arbeitsökonomie. Beruflich ist sie am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung tätig.