Keywords labour migration, guest work, migration history, wildcat strike, trade union
Rezension: Cafaro, Nuria / Hüttner, Bernd / Tekin, Caner (Hg. für die Rosa-Luxemburg-Stiftung) (2023): Gelingende und misslingende Solidarisierungen. Spontane Streiks in Westdeutschland um 1973. Berlin. 111 Seiten.
Im Sommer 1973 streikten in Westdeutschland mindestens 185.000 Arbeiter:innen ›wild‹, das heißt ohne Unterstützung durch eine Gewerkschaft. Überwiegend wurden die Streiks von Arbeitsmigrant:innen geführt. Insbesondere der Ford-Streik in Köln und der Streik bei dem Automobilzulieferer Pierburg in Neuss gewannen sowohl zeitgenössisch als auch erinnerungspolitisch eine »geradezu ikonische Bedeutung« (S. 3) für die antirassistische Bewegung und die politische Linke insgesamt. Für sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschung zur ›Gastarbeit‹ bietet die Streikwelle Gelegenheit, die Arbeitsmigration über Anwerbeabkommen nicht nur als Geschichte passiver ›Gerufener‹ zu verstehen. Vielmehr zeigen die ›wilden‹ Streiks: In der ›Gastarbeit‹ gab es auch Widerstand – mithin eine spezifisch migrantische politische Subjektwerdung. Diesen Prozess nachvollziehbar zu machen, ist erkennbar ein erstes Anliegen dieses Bandes. Daran anschließend wird die Frage diskutiert, wie sich diese neuen Subjektpositionen des migrantischen Arbeiters und der migrantischen Arbeiterin in eine Arbeiter:innenbewegung fügten, deren Anliegen und Mobilisierungsprinzip traditionell die Einheit der Arbeiter:innenklasse im Klassenkampf war. Denn wenn nicht alle Arbeiter:innen Ausbeutung und Ausgrenzung in gleichem Ausmaß erfahren, (wie) lassen sie sich dann noch geschlossen mobilisieren? Wie geht »Solidarity across and despite differences« (S. 5–6)? Die Herausgeber:innen suchen nach den Bedingungen, in denen Solidarisierungen bei Anerkennung der Unterschiede erreicht werden können. Köln und Neuss stehen auf den ersten Blick für einen Gegensatz: In der Niederlage von Köln misslang der Schulterschluss zwischen einheimischen (Fach-)Arbeitern und den – in der Regel ungelernt beschäftigten – Migrant:innen; im Erfolg von Neuss gelang er. Doch der Band zeigt eindrucksvoll, dass es so einfach nicht ist.
Es handelt sich um eine Sammlung unterschiedlicher Beitragsformate. Drei im engeren Sinne wissenschaftliche, zwei eher literarische Texte und ein geschichtsjournalistischer Bericht liegen vor. Ergänzt werden die Beiträge durch zwei Interviews.
Die wissenschaftlichen Beiträge beginnen mit Sophia Friedels und Jana Lena Jüngers Aufsatz zu den ›wilden‹ Septemberstreiks 1969. Diese wurden von Stahlarbeitern in Dortmund begonnen. Es folgte eine Streikwelle in der gesamten Bundesrepublik. Friedel und Jünger führen die Streiks darauf zurück, dass die Gewerkschaften in der ›konzertierten Aktion‹ das Vertrauen der Arbeiter:innenschaft verloren hatten. In der konzertierten Aktion stellten die Gewerkschaften seit 1967 im Sinne einer sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Politik und den Arbeitgebern zugunsten der (erhofften) wirtschaftlichen Stabilität kämpferische Ambitionen zurück. Um die kurze Phase der Rezession im ›Wirtschaftswunder‹ 1966/67 zu bewältigen, ließen sie sich zu tarifpolitischen Mäßigungen bewegen. Viele Arbeitende fühlten sich nicht mehr vertreten und streikten ›wild‹. Sie forderten mehr Mitbestimmung und Lohnerhöhungen. Zunächst sahen sich die Gewerkschaften zur Distanzierung gezwungen. Langfristig jedoch setzte eine »Lernerfahrung« (S. 31) ein. Die Distanz zwischen Basis und Spitze war bedrohlich geworden. Es folgte eine »Reaktivierung der Gewerkschaftsbewegung« (ebd.).
So lesenswert dieser kenntnisreiche Beitrag ist: Inwiefern diese Reaktivierung zu den ›wilden‹ Streiks 1973 geführt hat, inwiefern die beiden Wellen ›wilder‹ Streiks 1969 und 1973 (»um 1973«, wie es im Titel des Bandes heißt) überhaupt zusammenhängen, wird nicht deutlich. Vielmehr führt der Text selbst aus, dass eine »Diskrepanz« (S. 30) bestand: 1969 streikten Facharbeiter:innen dafür, dass ihre Löhne mit dem wieder in Gang gekommenen ›Wirtschaftswunder‹ Schritt hielten; 1973 war von wesentlich umfangreicheren Forderungen einer fundamental schlechter gestellten Gruppe geprägt. Einblicke in diese Schlechterstellung finden sich weiter hinten im Band. Es wäre lohnenswert gewesen, diese Frage nach Kontinuitäten und Unterschieden in den Arbeitskämpfen in der Einleitung oder in einem Fazit zu vertiefen. Stattdessen setzen die Herausgeber:innen und teilweise auch die Autor:innen einfach voraus, dass es einen Streikzyklus 1969–1973 gegeben hat. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass der Beitrag Friedels und Jüngers mit Fotografien aus dem Ford-Streik bebildert ist – irritierend, da die Autorinnen eigentlich vermerken, dass 1969 »migrantische Perspektiven […] kaum ihren Raum« (S. 30) fanden. Diese Streikwelle war daher nicht der Auftakt zur gesuchten »Solidarity across and despite differences« – was deutlicher hätte herausgearbeitet werden können.
Dass durch die von Dortmund ausgehende Welle ›wilder‹ Streiks 1969 im Hinblick auf diese Solidarität bei Anerkennung der Unterschiede noch nicht viel erreicht war, zeigt sich auch im folgenden Beitrag. Selbst im erfolgreichen Streik bei Pierburg vier Jahre später erfolgte die Solidarisierung der deutschen Facharbeiter nur schleppend am dritten Streiktag. Doch für Simon Goeke ist der Streik ohnehin nicht ›nur‹ im Zusammenhang von Arbeiter:innen- und Gewerkschaftsbewegung interessant. Für ihn ist es »das erfolgreiche Zusammenspiel von feministischer und antirassistischer Bewegung und dem in den Gewerkschaften […] verbreiteten Anspruch einer universalistischen Interessenvertretung, das den Pierburg-Streik […] unvergesslich macht« (S. 46). Damit öffnet Goeke den Blick für den Einfluss emanzipativer Ansprüche, die eher von außen auf die etablierten Arbeiter:innen und Gewerkschaften einwirkten. Zur Selbstermächtigung der Pierburg-Arbeiterinnen im ›wilden‹ Streik kamen die ›neuen sozialen Bewegungen‹ jener Jahre – allen voran die Frauenbewegung, aber auch bereits Anfänge einer antirassistischen Bewegung. Schon die Dissertation Goekes (Goeke 2020) zeichnete sich dadurch aus, dieses Wechselspiel aus eigensinnigen Migrant:innen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in den Blick zu nehmen. Daher ist für ihn die Periodisierung 1969–1973 auch naheliegend; er schließt an die ›Proletarische Wende‹ in der zeitgenössischen Linken an. Eine perspektivische Erweiterung, doch ist Goeke für diese Sichtweise auf besonders progressive Fälle wie jenen in Neuss angewiesen. In vielen anderen Betrieben war ein solches Zusammenspiel in diesem Ausmaß nicht zu beobachten. Beim ›wilden‹ Streik 1975 in der Fürther Munitionsfabrik Dynamit-Nobel etwa – so das Fazit des geschichtsjournalistischen Beitrags von Markus Mohr weiter hinten im Band – schienen linke Unterstützer:innen Rassismus als Grundlage der Unterdrückung nicht wahrzunehmen (S. 98). Sie sahen in den Migrant:innen ›nur‹ weitere von Ausbeutung betroffene Arbeiter:innen. So gab es zwar »Solidarity«, aber kein Gespür für die »differences« (S. 5f.). Goekes Deutung des Neusser Streiks als Aufbruch antirassistischer Bewegung sowie als Umbruch im feministischen Denken verweist anhand des besonderen Falls also eher auf den Trend zur Erweiterung linker Theorie um die Kategorien Geschlechterverhältnisse und Rassismus; weniger lässt sich mit Goeke die Streikwelle als Ganze verstehen. Wichtig bleibt jedoch: Hier ging es um deutlich mehr als ›nur‹ um Löhne. Die ›wilden‹ Streiks ab 1973 berührten viel größere Fragen.
Bisher sind in den Aufsätzen eine arbeits- und eine bewegungsgeschichtliche Perspektive eingenommen worden. Caner Tekin wählt einen transnational-institutionengeschichtlichen Zugang. Er zeigt, wie im und nach dem Ford-Streik sowohl die sozialistischen als auch die verschiedenen nationalistischen türkischen Migrant:innenorganisationen versuchten, Druck auf den DGB aufzubauen. Die Europäische Föderation Türkischer Sozialisten (ATTF) forderte die Solidarisierung und sogar die türkischen Arbeiter:innen zum Eintritt in die deutschen Gewerkschaften auf. Die nationalistischen Organisationen – deutlich mächtiger als die ATTF – warnten den DGB vor kommunistischer Unterwanderung. Einig waren sich die Migrant:innenorganisationen nur darin, dass ungleiche Arbeitsbedingungen den Streik verursacht hatten. Davon ausgehend führte die Frage, ob und wie die Streikenden durch deutsche Gewerkschaften unterstützt werden sollten, zur Frage nach der Zukunft türkischer Arbeiter:innen in Westdeutschland. Die Sozialist:innen forderten von den Gewerkschaften die entschiedene Zurückweisung rassistischer Hetze. Eine Unterstützung, die den Weg geebnet hätte in Richtung eines (längeren) Bleibens in der Bundesrepublik. Für die nationalistischen Organisationen sollte die Unterstützung über den türkischen Staat und durch nationale und religiöse Rückbesinnung erfolgen. 1973 stand der DGB noch an der Schwelle zur Solidarisierung – wirklich berücksichtigt wurden die Anliegen der Arbeitsmigrant:innen erst später.
Beitragsübergreifend wird der Begriff des »wilden« Streiks diskutiert. Transportiert er »reaktionäre Deutungsmuster« (S. 4) zur Markierung der Streiks als unrechtmäßig? Ist er im Zusammenhang migrantischer Streiks gar rassistisch (S. 5, 20, 41)? Die Autor:innen sprechen sich in der Tendenz dafür aus, den Begriff abzulegen. Im Bandtitel ist von »spontanen« Streiks die Rede. Ist diese Bezeichnung besser geeignet? Drei Gedanken dazu: Erstens ginge mit dem Begriff des »wilden« Streiks eine gewisse historische Anschlussfähigkeit verloren. »Wilde« Streiks spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte des Operaismus. Der Band selbst stellt – wenn auch nicht überzeugend beziehungsweise nicht ausreichend reflektiert – die 1969er und 1973er Streikwellen in eine Kontinuität, allein aufgrund der Tatsache, dass in beiden Fällen ›wild‹ gestreikt wurde. Zweitens – auch dies geht aus dem Band hervor – waren die Streiks 1973 alles andere als »spontan«. Goeke beschreibt ausführlich, wie der Arbeitskampf in Neuss nicht nur auf eine lange Vorgeschichte zurückgeht, sondern vor Ort strategisch geführt wurde (S. 40–44). Bei Tekin ist zwar zu lesen, dass der Begriff »spontan« in Köln als Selbstbezeichnung genutzt wurde, dies scheint jedoch eher aus einem Moment der Schwäche heraus geschehen zu sein: die drohende Abschiebung des Streiksprechers Baha Targün sowie der Druck der genannten nationalistischen Migrant:innenorganisationen (S. 55–56). Drittens weisen die Autor:innen nichtsdestotrotz auf eine rassistische Dynamik hin, zu der der Begriff des »wilden« Streiks sein Übriges tat. Wenn dennoch die Bezeichnung »spontane« Streiks nicht gelungen erscheint, so erkennt der Band hier zu Recht einen Handlungsbedarf. Womöglich könnten die Streiks als ›antirassistische (›wilde‹) Streiks‹ oder ähnlich bezeichnet werden, um ihrer Bedeutung gerecht zu werden.
Dieser Bedeutung verleihen insbesondere die literarischen Texte und die Interviews Ausdruck. »Es sind die Kämpfe der Arbeitsmigrantinnen der ersten Generation, die meine Wut aufatmen lassen, den Widerstand sehen und mich […] Kraft spüren lassen« (Gün Tank, S. 15). »73 war zu viel. In alle Richtungen. […] Für mich war die ganze Aktion, der ganze Streik ein Wendepunkt. Für vieles« (Mitat Özdemir, S. 66). »Wir waren Menschen, und zwar eine kraftvolle Masse, und davor hatten sie Angst. Und dadurch war nicht alles perfekt, aber die Sicht auf diese Personen änderte sich. Du warst nicht einfach nur eine auszubeutende Kraft« (Kutlu Yurtseven, S. 74). »Mein Vater und seine Arbeitskollegen haben sich gegen eine Ungerechtigkeit aufgelehnt. […] Ja, der Streik endete mit einer Niederlage, aber sie hatten für ihre Rechte gekämpft« (Orhan Çalışır, S. 87). Zitate wie diese verdeutlichen, wie wichtig die Streikwelle in der politischen Subjektwerdung vieler Migrant:innen und ihrer Nachfahren war und ist. Selbst dort, wo sie ohne unmittelbaren Erfolg blieben, werden die Streiks eher als Selbstermächtigung denn als Niederlage – mithin als ein Wendepunkt in der bundesdeutschen Migrationsgeschichte – erkennbar. Aus diesem Grund ist auch die Kontinuität problematisch, die der Band durch die Hinzunahme eines Beitrags zu den 1969er Streiks konstruiert. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass ab 1973 deutlich mehr verhandelt wurde. Die Streikwelle erscheint als migrantischer Befreiungsschlag. Die Forderungen betrafen neben den Löhnen auch Urlaubsregelungen, die Wohnverhältnisse oder vorherige Kündigungen, dann auch die Zurückweisung der rassistischen Hetze gegen die Streiks – mithin Anliegen, die sich aus der Perspektive der migrantischen Arbeiter:innen ganz anders darstellten als für die etablierten Beschäftigten.
Wenn dieser schmale Jubiläumsband hier also nicht vollends überzeugend zusammengestellt ist, so wird er seinen eingangs geschilderten Zielen unterm Strich gerecht: Die Selbstermächtigung der Migrant:innen ab 1973 wird eindrucksvoll verständlich. Und zur hochaktuellen Notwendigkeit der »Solidarity across and despite differences« hat er im besten Sinne viele Fragen aufgeworfen. Vor allem verschafft der Band einer Reihe bedeutender Streiks Aufmerksamkeit, die in der westdeutschen Migrationsgeschichte als Wendepunkte gelten können und als diese nicht die nötige Beachtung erfahren. Letzteres gilt insbesondere für die vielen weiteren ›wilden‹ Streiks, die neben den mittlerweile ausgiebig untersuchten und diskutierten Streiks in Köln und Neuss stattfanden. Ausgehend von den bestehenden Deutungsangeboten sollten auch diese Streiks weitergehend zu ihren (lokal spezifischen) Hintergründen, Verläufen und Folgen befragt werden. Forschungen zu diesen Fragen könnten die Selbstermächtigung der Migrant:innen – wie in diesem Band in beeindruckender Weise geschehen – in eine echte Migrationsgeschichtsschreibung von unten übertragen.
Literatur
Goeke, Simon (2020): »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Paderborn.
