Zwischen Subversion und Inkorporation

Unsichtbare Handlungsstrategien georgischer Transmigrant\_innen

Aleksandra Vedernjak-Barsegiani

Abstract This article discusses invisible strategies of migrants in transnational spaces between Georgia and Austria. The author explores subversive and incorporated forms of everyday life practices and shows how they contest exclusionary structures met by third-country nationals. The ritual of the Online-Supra and the practice of collective care-taking are elaborated as examples of transnational agency.


Keywords Agency, invisible politics, Georgia, Third-country nationals, media


Stellen Sie sich folgende Szene irgendwo in Österreich vor — Menschen, die um einen reichlich gedeckten Tisch sitzen, Junge und Alte, Frauen und Männer, die essen, lachen und debattieren. Der Tisch biegt sich unter einer Variation diverser Speisen auf eng aneinander gestellten Tellern mit Teigtaschen (Chinkali), Grillfleisch, Salat, pikanten Vorspeisen, Eintöpfen und randvoll gefüllten Weingläsern. Neben dem Tisch ist ein Computer mit einem Bildschirm aufgestellt und am Bildschirm sehen Sie eine weitere festliche Gemeinschaft, die das gleiche Ritual des georgischen Tisches (Supra) in Georgien zelebriert. Nun erhebt der Tischvorsitzende (Tamada) sein Rotweinglas und alle Menschen, jene in Georgien und jene in Österreich, hören seinem vorgetragenen Wunsch nach Weltfrieden zu. Hier und dort stoßen die Zelebrierenden miteinander an und prosten den Menschen auf dem Bildschirm zu, die zwar physisch abwesend, doch über die Webkamera und das Onlinetelefonie-Programm Skype digital präsent sind. Das Supra, ein uraltes Ritual der Bindung und Nähe (Mühlfried 2007: 290), wird von georgischen Familien- und Freundesnetzwerken grenzüberschreitend praktiziert. In Form eines Online-Supras wird es in einen gemeinsam hergestellten digitalen Wahrnehmungsraum transferiert.

In diesem Artikel gehe ich auf soziale und kommunikative Praktiken ein, die georgischen Transmigrant_innen, wie ich argumentiere, Handlungsfähigkeit durch kollektive Praktiken gegenseitigen Sorgetragens und praktischer Hilfestellungen in der Bewältigung des Alltags ermöglichen. Der Kontext ist der hegemoniale Raum von Georgien bis Österreich, in dem das Migrations- und Integrationsregime normiert, differenziert und entscheidet, wer Zugang zu Rechten, Aufenthaltsstatus und Mobilität erhält. Von einem problematischen Migrationsbegriff, mit dem in der Mainstream-Migrationsforschung Ein- und Ausschlüsse reproduziert werden, wende ich mich ab. Mein Konzept der Transmigration umfasst vielmehr ein (Über-)Queren ethnischer, nationaler, kultureller Grenzziehungen, will Ambivalenzen bewegter Zugehörigkeiten (Strasser 2009) mitdenken und fokussiert auf Erfahrungen und das erworbene Wissen in transnationalen Räumen. In meiner Forschung — einer multi-lokalen Ethnographie — gehe ich der Frage nach, welche Praktiken transnationale Migrant_innen entwickeln, um zu handlungsfähigen oder gar subversiven Akteur_innen zu werden. Es geht mir dabei darum, anhand von Fallbeispielen auf einer mikropolitischen und -kulturellen Ebene unsichtbare kollektive Formen der Alltagsbewältigung herauszuarbeiten. Meine Forschungspartizipient_innen — das Geschwisterpaar A. und das Ehepaar J. — bewegen sich im transnationalen Raum zwischen Österreich und Georgien, einem multiethnischen, postsowjetischen und von Konflikten geprägten Nationalstaat im Südkaukasus.1 Wie ich herausarbeiten werde, entwickeln sie dabei sowohl ‚subversive‘ als auch ‚strategisch inkorporierende‘ Formen der Alltagsbewältigung. Während die einen bewusst gegen das herrschende Migrationsregime gerichtet sind, wird mit den zweiten versucht, den Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft scheinbar zu entsprechen.

Verortung der ethnographischen Forschung

Im Rahmen von Recherchearbeiten für ein Filmprojekt lernte ich im Winter 2008/09 Männer kennen, die in dem inzwischen geschlossenen Flüchtlingsheim auf der Saualm in Kärnten gegen ihre Kriminalisierung und Isolation protestierten. Aus der Kritik an der österreichischen Flüchtlingspolitik und einem Interesse an Menschen aus dem Kaukasus entstand mein Dissertationsprojekt. Über gut vernetzte Bekannte machte ich Bekanntschaft mit Studierenden, die als Au-Pair gekommen waren, mit geflüchteten Menschen im Asylverfahren und mit subsidiär Schutzberechtigten (Non-refoulement-Gebot), die sich einen Aufenthaltstitel über Hilfstätigkeiten erarbeiteten. Meine eigenen Erfahrungen in einer binationalen Partnerschaft mit Aufenthaltssicherung und unser zweisprachig aufwachsendes Kind öffneten mir Türen: Dass ich ein Teil des Feldes war, erleichterte den Zugang, ich konnte Problemstellungen gut nachvollziehen und dies unterstützte die Interaktion. Ich wurde als ‚dazwischen positioniert‘ wahrgenommen — mal mehr und mal weniger Teil der Mehrheitsbevölkerung, wobei ich mir meiner ungleichen Positionierung als Forscherin mit österreichischer Staatsbürgerinnenschaft stets bewusst war. Gleichzeitig wurden meine Erfahrungen und mein Wissen gerne genutzt und ich verbrachte viel Zeit im Feld, begleitete die Frauen und Männer auf Amtswegen, bei der Arbeitssuche und wurde zu Festen und zum Supra eingeladen. Diese Nähe ermöglichte es mir, tiefgehende Einblicke in Schwierigkeiten mit der Aufenthaltssicherung, in Alltagspraktiken und bewegte Zugehörigkeiten zu bekommen.

Die soziale Realität der Forschungspartizipient_innen

Lévani A. ist ein 29-Jähriger Student aus einer ehemaligen Industriestadt, in der Jugendliche wenig Perspektiven finden. Viele leben von Geldsendungen (Remittances) ihrer Mütter, Großmütter und anderer Verwandter aus dem Ausland. Nach einem längeren Aufenthalt in der Ukraine zog Lévani A. zu seiner älteren Schwester Mánana, um Deutsch zu lernen. Mánana A. ging nach ihrem Germanistikstudium in Tbilisi vor acht Jahren als Au-Pair zuerst nach Deutschland, dann nach Österreich, nahm ein Studium der Literaturwissenschaften auf und arbeitet halbtags. Während die Geschwister mit einem Studierendenvisum legal in Österreich einreisen konnten, war das im Falle des Ehepaars J. nicht möglich. Lika und Tassimir J. flüchteten 2004 aufgrund politischer Probleme: Tassimir arbeitete als Chauffeur für die Opposition und wurde in Folge des politischen Umsturzes zur Zeit der Rosenrevolution 2003/2004 von Handlangern der inzwischen regierenden Partei bedroht. Daraufhin verkauften Lika und Tassimir ihre Wohnung, um die Flucht zu finanzieren. Ihre beiden minderjährigen Kinder ließen sie bei den Großeltern zurück. Nach langen Jahren im Asylverfahren wurde ihnen ein negativer Bescheid zugestellt, da sie unter anderem keine als Fakten eingestuften Beweise wie Dokumente oder Videoaufnahmen vorlegen konnten. Damit erging es ihnen wie vielen anderen Flüchtlingen aus Georgien: Der südkaukasische Staat rangiert unter den zehn Ländern mit den meisten negativen Bescheiden im Asylverfahren (Kratzmann/Reyhan 2012: 109). Von 10.000 Georgier_innen, die in den Jahren 2000 bis 2010 in Österreich einen Asylantrag stellten, erhielten nicht einmal vier Prozent einen positiven Asylbescheid in letzter Instanz (Statistik Austria 2011).

Als abgewiesene Asylsuchende — das heißt ohne regulären Aufenthaltsstatus – werden Lika und Tassimir J. von sozialen Rechten exkludiert: Der legale Arbeitsmarktzugang bleibt ihnen verwehrt.2 Sie erhalten auch keine sozialen Leistungen wie Arbeitslosenentschädigung, Pension und Gesundheitsversorgung, da diese an eine Krankenversicherung im Rahmen einer Beschäftigung gekoppelt sind (Ataç 2014: 126). Obwohl Lika und Tassimir bereits sieben Jahre in Österreich leben, eine Wohnung haben, jeden Tag zur Arbeit gehen und als Konsument_innen Steuern zahlen, müssen sie nach Ablauf des Asylverfahrens mit Schubhaft und Deportation rechnen. Lika arbeitet sieben und Tassimir sechs Nächte pro Woche undokumentiert in der Lebensmittelindustrie in Wien. Sie sind froh, Arbeit gefunden zu haben und Geld zu verdienen. Was nach Abzug ihrer Miete und Lebenserhaltungskosten übrig bleibt, schicken sie ihren beiden Kindern nach Hause. Für Deutschkurse bleibt ihnen keine Zeit. Sie kommen mit ihren Sprachkenntnissen im Alltag zurecht, doch sind diese für den erforderlichen ‚Integrationsnachweis‘ nicht genügend. In Russisch und Georgisch geschult, fehlt ihnen die Praxis im schriftlichen Ausdruck in lateinischer Schrift und deutscher Grammatik.

Unsichtbare Praktiken zwischen Subversion und Inkorporation

Je nach Geschlecht, Klasse und weiteren Verschränkungen mit Machtachsen bieten sich Mánana, Lévani, Lika und Tassimir als ‚Drittstaatenangehörige‘ unterschiedliche Möglichkeiten zur Aufenthaltssicherung und zur sozialen und räumlichen Mobilität. Wenn wir einen Blick auf ihre Handlungsfähigkeit und auf Formen der subjektbestimmten Ermächtigung werfen, zeigt sich, wie sie im Umgang mit der Kategorie ‚Drittstaatenangehörige‘ in ihrem Alltag individuelle wie auch kollektive Strategien entwickeln, interdependente Praktiken der Inkorporation und Subversion. Es sind kleine, unscheinbare alltägliche Praktiken, die meist nicht auffallen, und wenig beachtet und damit unsichtbar bleiben. Neben der sozialen Positionierung (z.B. nach Klasse und Geschlecht) hängen diese Handlungsmöglichkeiten auch von strategischer Klugheit, Risikobereitschaft und praktischem Wissen über kollektives Handeln und Netzwerke ab. Mit dem Kulturphilosophen Michel de Certeau (1988) können diese Handlungsmöglichkeiten als ‚Taktik‘ bezeichnet werden:

„Die Taktiken entfalten sich am ‚Ort des Anderen‘, sind berechnend und suchen listig nach Gelegenheiten, sich den panoptischen Dispositiven zu entziehen und Fluchtlinien (Gilles Deleuze) zu ergreifen. Taktiken sind Züge innerhalb eines geordneten strategischen Feldes, das sie aber nicht überschreiten können.“ (Winter 2007: 214)

De Certeau (1988: 87–88) fasst Taktiken als eine Form der Antidisziplin auf, als ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Zwar sind es keine Formen von Subversion, wie sie beispielsweise in Form von kollektiven Platzbesetzungen bekannt sind. Das Schaben und Kratzen an exkludierenden Strukturen hinterlässt häufig keine feststellbaren Spuren. Trotzdem können diese Taktiken als eine potenziell subversive Strategie gefasst werden.

Eine Strategie verfolgt das Ziel, Netzwerke in transnationalen Räumen zu stärken. Transmigrant_innen bauen dabei mittels digitaler Technologien kommunikative Verbindungen auf, um physische Grenzen virtuell zu überschreiten und um Kontakte zu knüpfen. Diese können zu Veränderungen führen und an hegemonialen Räume zerren, wie das Konzept der Autonomie der Migration betonen will (Bojadžijev/Karakayalı 2007; Mezzadra 2010). Andere Handlungen zielen darauf ab, als ‚integrationsfähige‘ Subjekte wahrgenommen und in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen zu werden. Strategien werden individuell oder in Gruppen entwickelt. Subversive Formen des Umgangs mit Migrationsmanagement fangen beim Unterlaufen rassistischer Strukturen der EU-Staaten an. Diese Netze können subversiv genutzt werden, indem undokumentiert Grenzübertritte unternommen, Informationen in Bezug auf fremdenpolizeiliche Kontrollen und Schubhaft ausgetauscht und irreguläre Arbeitsnetzwerke (Mezzadra 2010) aufgebaut werden. Diese unsichtbaren Praktiken werden von der Sozialforscherin Rebecca Raby als postkonstruktivistisch bezeichnet, wie die Disidentification (Raby 2005: 153–154). Ein Beispiel wäre die Nicht-Identifizierung mit Anrufungen als ‚integrierte‘ bzw. als ‚nicht geduldete‘ Personen. Das ist eine politisch konnotierte kulturelle Praxis, die im Hinblick auf Machtrelationen und Herrschaftsverhältnisse beleuchtet werden muss. Kultur wird als ein Forum des Kampfes und des Konfliktes verstanden, in dem Bedeutungen, Werte und Identitäten miteinander ausgehandelt werden (Dörner 1997: 223). Ohne das Mikropolitische feiern zu wollen, lohnt sich ein Blick auf unsichtbare Formen von Handlungsfähigkeit im Alltag von Drittstaatsangehörigen. Soziale Praktiken können das handelnde Subjekt entmächtigen, gegeneinander gerichtet sein, und doch, gerade durch ihre subjektbestimmte prozesshafte Eigenschaft, gelingt an manchen Orten eine partikuläre Ermächtigung.

Ein weiteres Beispiel ist das postsowjetische Organisationsprinzip des Sorgetragens mittels kollektiver und individueller Praktiken der Solidarität und der gegenseitigen Verantwortung. Dieses wird in Freundes- und Familiennetzwerken aufrecht erhalten und basiert darüber hinaus auf der nationalen Zugehörigkeit als Georgier_in, auf postsowjetischen Zugehörigkeiten, auf einer gemeinsamen Vergangenheit und Russisch als Lingua franca sowie auf einem geteilten Verständnis bezüglich Geschlechterrollen.

Lika, die ihre Jobs vor allem im Care- und Reinigungsbereich über postsowjetische und postjugoslawische Frauennetzwerke findet, sorgt in ihren Rollen als Mutter und Tochter für den Unterhalt ihrer Kinder und Eltern, während ihr Mann Tassimir lange Zeit ohne Arbeit war und schließlich über die Kontakte seiner Frau eine Beschäftigung fand. Lévani, der als außerordentlicher Student keinen Arbeitsmarktzugang hat, will nicht länger finanziell von seiner Schwester abhängig sein. Seine Reisen nach Italien, in die Schweiz und kleine Jobs organisiert er über georgische Freunde, als Sorgetragen in Allianz mit einer Gruppe georgischer Männer. Dates und Jobs findet er in transnationalen Online-Chaträumen und er betont: „Als georgischer Mann habe ich dort einen guten Ruf.“ Tassimir arbeitet undokumentiert und fährt Auto ohne EU-Führerschein. Er wundert sich: „Die Polizei hat meinen georgischen Führerschein behalten. Früher war ich Chauffeur. Warum kann ich in Österreich nicht Auto fahren?“ Er nimmt damit Risiken in Kauf und ignoriert bewusst bestimmte Gesetze.

Die Handlungsfähigkeit von Tassimir ist dabei in den Kontext zu setzen: Auf öffentlichen Plätzen erlebt er wie andere Georgier häufig Kontrollen der Fremdenpolizei. Einige Georgier saßen bereits in Schubhaft, kamen durch einen Hungerstreik frei und sind undokumentiert in andere EU-Länder weitergezogen. Tassimir musste zu Beginn seines Aufenthaltes in Österreich ins Gefängnis und wurde aufgrund psychischer Probleme in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt. Er wird aufgrund seines Aussehens und Auftretens — schwarze Haare, Tattoos, Lederjacke und Sonnenbrille — von der Fremdenpolizei als ‚Ostmann‘ taxiert und macht rassistische Erfahrungen. Auf Bahnhöfen wurde er im Rahmen von polizeilichen Personenkontrollen auf den Boden gedrückt, wodurch er Prellungen erlitt und einmal seine Sonnenbrille kaputt ging. Ein anderes Mal wurde er auf dem Karlsplatz als ‚Drogendealer‘ verdächtigt, ohne stichhaltige Beweise in Handschellen abgeführt und im Prozess frei gesprochen. Durch die vielen Verhöre und Schikanen, die bereits in Georgien anfingen, misstraut er Menschen, die er nicht kennt und lernt vorzugsweise Männer aus Georgien kennen. Das Netzwerken überlässt er seiner Frau. Seine Bestrebungen, seine in Georgien als Familienernährer bis 2004 erarbeitete gesellschaftliche Positionierung und „das gute Leben, das wir damals hatten“ wieder zu erlangen, sind in Österreich zum Scheitern verurteilt. Ich interpretiere seine temporären Gesetzesübertretungen einerseits als Reaktion auf Diskriminierungen aufgrund von Nationalität und Geschlecht und andererseits als wiederholten Versuch, ein bestimmtes Level an Aktivität aufrechtzuerhalten, das für ihn mit einer selbstbestimmten Männlichkeit und psychischer Gesundheit, wie er sagt, „um mich normal zu fühlen“, zusammenhängt.

Im Gegensatz zu Tassimir stellt die Studentin und Angestellte Mánana ein Beispiel für eine Handlungsform dar, die ich strategische Inkorporation nenne. Sie befolgt ungeschriebene Regeln der sozialen Ordnung, wie das gesellschaftlich anerkannte passiv-ruhige Verhalten in der Interaktion mit Beamt_innen, in Warteschlangen auf Ämtern, mit Arbeitgeber_innen und Vermieter_innen. Mánana findet das nicht immer leicht: „Manchmal könnte ich schreien, aber wem hilft das? Mir sicher nicht. Seitdem ich im Masterstudium bin, darf ich halbtags arbeiten. Doch genug ist das nicht für mich und Lévani. Also gehe ich noch in einen Haushalt (putzen) oder gehe Babysitten.“ Lévani fand bereits zur Einreise ungleiche Möglichkeiten vor. Als außerordentlicher Student zum Zwecke des Deutschlernens durfte er zwar legal einreisen, ohne Beschäftigungserlaubnis und als Mann aus einem Drittstaat findet er jedoch selbst im undokumentierten Bereich keine Anstellung. Mánana wiederum steht mit ihrem Studienabschluss der Arbeitsmarkt offen, und langfristig wird sie aufgrund ihrer ausgezeichneten Deutschkenntnisse sowie ihrer ökonomischen Eigenständigkeit die österreichische Staatsbürger_innenschaft erwerben können.

Durch die explizite Nachfrage nach Frauen wie Mánana und Lika wird im Care-Bereich der Kinderbetreuung, Altenpflege und Reinigungsarbeit ein geschlechtsspezifischer Zugang zur (informellen) Ökonomie ersichtlich. Hier äußert sich die neokoloniale und ethnisierende Arbeitsteilung: Lücken in der Care-Ökonomie werden durch den Rückgriff auf billige migrantische, weibliche Arbeitskräfte abgefedert (Haidinger 2008: 38). Ungeregelte Arbeitsverhältnisse – Unterbezahlung, Überstunden und Gewalterfahrungen — werden in Kauf genommen und können mithilfe von Netzwerken entschärft werden. Migrantinnen wie Mánana hoffen, nach Jahren der strategischen Inkorporation, wenn sie als ‚friedfertige‘, ‚integrationswillige Migrantinnen‘ kategorisiert wurden, in die Nation eingeladen zu werden. Um ihren Aufenthalt permanent zu sichern, nehmen sie eine psychische und physische Anpassungsleistung an die Mehrheitsbevölkerung in Kauf.

Fazit

Zum Schluss komme ich zum Online-Supra, dem virtuellen Raum, zurück: Über das georgische Gastmahl in digitalen transnationalen Räumen werden kommunikative Netzwerke aufgebaut, in denen Informationen über das Gesundheitssystem, Praktiken der Fremdenpolizei und (undokumentierte) Arbeitsmöglichkeiten ausgetauscht werden. Online werden aber auch aktuelle politische Ereignisse im Herkunftsland intensiv diskutiert. So begann der Protest gegen Foltervorfälle im Gldani Gefängnis Tbilisi kurz vor den Parlamentswahlen 2012 in transnationalen digitalen Räumen und führte zu Massenprotesten auf den Straßen. Forderungen nach Strafverfahren gegen die Machtträger_innen der Regierung von Saakaschwili wurden von Transmigrant_innen online artikuliert. Die Breite der Proteste führte zu einer Umgestaltung politischer Strukturen, denn in den Wahlen wurden die mächtigen politischen Repräsentant_innen unerwartet abgewählt und neue unterstützt.

Praktiken in kommunikativen Netzwerken spielen — so meine Schlussfolgerung – eine große Rolle und können zu Handlungsfähigkeit und Subversion führen. Wenn das Ehepaar Lika und Tassimir J. und die Geschwister Mánana und Lévani A. sich mit ihren Familien zum Online-Supra einfinden, fühlen sie sich bei dem hunderte Mal praktizierten Ritual wohl. Im Gegensatz zu ihrer Position sozialer Ungleichheit in Österreich werden sie bei der alltäglichen kommunikativen Praxis des Online-Supra von Vertrauten als selbstbestimmte Persönlichkeiten angerufen, was dazu führt, dass sie sich in ihrer Identität erkannt und bestätigt fühlen. Zuschreibungen als ‚nicht geduldete‘, ‚undokumentierte‘ oder ‚nicht erwünschte‘ Subjekte werden dabei umgewandelt und mit bekannten, als positiv empfundenen Identifizierungen ersetzt.

Transmigrant_innen organisieren und ermächtigen sich über vertraute Prinzipien wie das Sorgetragen und das Online-Supra und entwickeln verschiedenartige Praktiken, um Möglichkeiten zur Mobilität, zur Sicherung von Aufenthalt und in der Ökonomie zu ergreifen. Auffallend ist dabei, dass Frauen zu Ernährerinnen werden und im Gegenzug bestimmte Freiheiten im Ausgestalten ihres sozialen Geschlechts einfordern und ausprobieren, während Männer in ihrer Geschlechterrolle festzustecken scheinen. Transmigrant_innen fordern nach Jahren des prekären Arbeitens und des Organisierens in kommunikativen Netzwerken Mobilität, einen sicheren Aufenthaltsstatus und Zugang zu sozialen und politischen Rechten. Ich argumentiere, dass dies über das in Österreich etablierte Integrationsparadigma nicht bewältigt werden kann, da die Versuche der Kategorisierung, Differenzierung und Selektion von Menschen in transnationalen Räumen vom Südkaukasus bis in die EU unterlaufen werden. Ich plädiere dafür, Transmigrant_innen als Subjekte mit Möglichkeiten, Optionen und Wünschen wahrzunehmen. Vielleicht sogar als Akteur_innen, die gelernt haben, mit besonders prekären, lebensbedrohlichen Situationen umzugehen und sich über Prinzipien der solidarischen Nähe handlungsfähig zu machen — wenn auch ‚nur‘ über wenig beachtete, meist unsichtbare kollektive Praktiken.

Literatur

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  • Volume: 1
  • Issue: 2
  • Year: 2015


Aleksandra Vedernjak-Barsegiani, Media Scientist and Sociologist, teaches and researches on gender and border regimes in transnational spaces at the University of Vienna and Klagenfurt. She is a documentary filmmaker and co-founder of www.see-id.org, member of critical migration research [KriMi] and was part of the Gender Initiativkolleg Vienna.