„Die sind nicht unbedingt auf Schule orientiert“

Formationen eines ‚racial neoliberalism‘ an innerstädtischen Schulen Berlins

Ellen Kollender

Abstract This article discusses the influences of current societal and economical changes on the prevailing discourse on racism in Germany’s public schools and school system. It analyzes the positioning and involvement of parents with a so called migration background in inner-city public schools in Berlin. A dispositive analytic approach is applied on the interplay of discourses, practices and forms of subjectivation referring to contemporary racist practices and structures of inequality and how these are intertwined with the authority of neoliberalism. The analysis shows that especially in the context of current integration policies and educational reforms, culturalistic and neo-racist perceptions of migrant parents are strengthened via individualistic and meritocratic positions, which leads not only to a reproduction but also to a deepening of structures of racial inequality in schools.


Keywords racism, neoliberalism, governmentality, home-school relationships, migrant parents


Dieser Beitrag beschäftigt sich mit (neo-)rassistischen Ein- und Ausschließungspraktiken im Kontext der Schule.1 Diese begreife ich hier als einen Ort, an dem die Grenzen zwischen sozialer Inklusion und Exklusion kontinuierlich bearbeitet werden und an dem vielfältige Diskurse, Politiken und Praktiken in ihrem Zusammenspiel systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung produzieren. Dabei ist aktuell im Kontext von Schule und Bildungssystem wie auch gesamtgesellschaftlich eine (neue) Konjunktur des Rassismus zu beobachten, die sich als „postracial era“ beschreiben lässt (Lentin/Titley 2011: 167; vgl. auch Demirović/Bojadžijev 2002). Diese zeichnet sich durch die Negation eines – als ‚überwunden‘ geglaubten – gesellschaftlichen Rassismus aus und geht mit einer zunehmenden ‚Verunsichtbarmachung‘ rassistischer Markierungen einher (vgl. u.a. Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011). Biologistische Argumentationsmuster verschieben sich hin zum unscharfen Feld der ‚anderen Kultur‘, ‚Religion‘ oder ‚Ethnizität‘ und finden über unterschiedliche Formen der Institutionalisierung als normalisiertes MachtWissen Eingang in staatlich-institutionelle (Selbst-)Verständnisse und Verhältnisse (vgl. Balibar 1992; Gomolla/Radtke 2009). Vor diesem Hintergrund beobachte ich im Rahmen meiner Forschung an innerstädtischen Schulen Berlins, wie sich im Kontext aktueller Bildungsreformen sowie ‚aktivierender’ Sozial- und Integrationspolitiken neoliberale Logiken – wie unternehmerische Selbstoptimierungsnormen, Wettbewerbsideologien und/oder ökonomistische Bewertungen von Menschen – auf vielfältige Weise mit essentialistischen und kulturalistischen bzw. (neo-)rassistischen Diskurspositionen verknüpfen und Legitimationen hinsichtlich gesellschaftlicher Ein- und Ausschlussprozesse fördern und festigen.

Um diesen (neuen) Ausformungen von Rassismus im Kontext der Schule nachzugehen, schließe ich im Folgenden an Alana Lentin und Galvan Titley an, die in ihrer Arbeit The crises of multiculturalism: Racism in a neoliberal age (2011) rassistische Verhältnisse und Formen ihrer ‚Verunsichtbarmachung‘ vor dem Hintergrund neoliberaler gesellschaftlicher Transformationen untersuchen. Um aktuelle Ausformungen eines racial neoliberalism (vgl. Goldberg 2009) in der Schule aufzuzeigen, nehme ich hier vor allem die Diskursfigur der ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ sowie den politisch-pädagogischen Handlungskontext der schulischen Elternbeteiligung in den Blick. Diesbezüglich konnten bereits zahlreiche Studien insbesondere im Kontext anglo-amerikanischer Forschung zeigen, dass Eltern und Schulen aktuell im Fokus eines staatlichen Regierens stehen, „das sich mit den Begriffen Dezentralisierung, lokale Autonomie, New Public Management und Marktorientierung umschreiben lässt“ und aktuell „in vielen Feldern staatlichen Handelns […] umgesetzt wird“ (Gomolla 2009: 24, H.i.O.; vgl. auch Crozier/Reay 2005). Eine solche Implementierung neuer sozial- und bildungspolitischer Steuerungsformen geht wiederum mit spezifischen Formen der Elternadressierung und -beteiligung in Schule einher, in deren Fokus vor allem Eltern aus sozio-ökonomisch deprivilegierten sowie ‚ethnisch‘ markierten bzw. rassifizierten Gruppen stehen, die in der Schule meist allgemein unter der Gruppe der ‚schwer erreichbaren Eltern‘ gefasst werden. So zeigt sich für den bildungspolitischen Diskurs in Deutschland insbesondere ein spezifischer Zugriff auf ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘. Diese werden aus der Perspektive ‚mehrheitsgesellschaftlicher‘ Normalitätserwartungen als Sondergruppe markiert und in besonderer Weise als Objekte von Normalisierungs- und Disziplinierungspraxen im Kontext der Schule positioniert (vgl. Gomolla/Kollender o.J.). Beobachtungen wie diese stehen in Zusammenhang mit Befunden, die auf vielfältige Formen institutioneller wie individueller (rassistischer) Diskriminierung von Eltern aus gesellschaftlich marginalisierten Gruppen hinweisen und aufzeigen, dass Reformen hinsichtlich einer Erweiterung elterlicher Partizipationsmöglichkeiten und -rechte aktuell eher dazu führen, bereits privilegierten Elterngruppen zusätzliche Vorteile und Einflussmöglichkeiten in der Schule zu verschaffen anstatt institutioneller Exklusion und Segregation entgegenzuwirken (vgl. u.a. Burgess/Wilson/Lupton 2003; Gomolla 2009; Bullan 2010; SVR 2012; Rollock et al. 2012; Karakayali/zur Nieden 2013; Vodafone Stiftung Deutschland 2015).

Anknüpfend an diese Forschungsergebnisse möchte ich mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in Berlin und den dort lokalisierten Schulen der Frage nachgehen, wie sich über das Zusammenwirken von Diskursen, staatlich-institutionellen Praktiken und Subjektivierungsweisen ein racial neoliberalism realisiert, der ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ auf spezifische Weise fokussiert und positioniert. Die Diskurse, Praktiken und Subjektivierungsweisen möchte ich über einen dispositiv-analytischen Ansatz aus zentralen integrations- wie bildungspolitischen Senatsdokumenten, dort beschriebenen staatlich-institutionellen wie pädagogischen Praxen der Elternbeteiligung sowie den Sicht- und Erfahrungsweisen von Lehrer_innen und Eltern an innerstädtischen Schulen in Berlin rekonstruieren. Die Ergebnisse dieser multiperspektivischen Untersuchung führe ich schließlich zusammen und diskutiere, wie sich über die neoliberale Rationalität ein (neo-)rassistisches MachtWissen um Schüler_innen mit Migrationsgeschichte und ihre Familien weiter in Schule einschreibt und Identifikationsprozesse auf Seiten der Eltern mit Migrationsgeschichte anleitet. Hierfür möchte ich zunächst einige zentrale theoretische Aspekte zum Ansatz des racial neoliberalism skizzieren.

Neoliberale Gouvernementalität – Rassismus – Schule

In ihrer Arbeit untersuchen Lentin und Titley rassistische Verhältnisse im Kontext neoliberaler Gouvernementalität. Der Begriff der Gouvernementalität bezeichnet nach Michel Foucault eine bestimmte Form der „Rationalisierung“ gesellschaftlicher Machtverhältnisse „bei der Ausübung politischer Souveränität“ (Foucault 2004: 14). Diese zeichnet sich vor allem durch die zunehmende Entwicklung indirekter Techniken des politischen Regierens aus, über die Individuen und Kollektive in ihrem Handeln auf subtile und zugleich spezifische Weise angeleitet werden. Indem Foucault und an seine Arbeiten anschließende Autor_innen eine solche Restrukturierung staatlich-institutioneller Regierungstechniken im engen Wechselverhältnis mit dominanten gesellschaftlichen Subjektivierungsmodi untersuchen, zeigen sie auf, dass sich der vordergründige Abbau des (Sozial-)Staates parallel zur Konstituierung des ‚(selbst-)verantwortlichen Subjekts‘ vollzogen hat (vgl. u.a. Bröckling 2013; Miller/Rose 1994; Barry/Osborne/Rose 1993). Dessen „moralische Qualität“ bestimmt sich nach Thomas Lemke vor allem darüber, dass er „die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational“ kalkuliert:

„Da die Wahl der Handlungsoptionen […] als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten. […] Damit verschiebt sich der Ansatzpunkt möglicher politischer und sozialer Interventionen: Nicht gesellschaftlich-strukturelle, sondern individuell-subjektive Faktoren“ (Lemke 2007: 55) erscheinen nun für die Lösung von Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsmisserfolg etc. maßgeblich.

Die hier skizzierte Neujustierung von Staat, Individuum und Gesellschaft sowie deren Auswirkungen auf die Praxen und Prozesse in staatlichen Institutionen werden aktuell vielfach unter dem Begriff des Neoliberalismus als eine allgemeine Ökonomisierung des Sozialen diskutiert (vgl. u.a. Brown 2005, Bröckling/Krasmann/Lemke 2000). Auf der Ebene von Bildungssystem und Schule drückt sich eine solche Ökonomisierung des Sozialen vor allem in aktuellen Reformen aus, die mit der Effektiv- und Effizienzmachung von Schule und Schüler_innenschaft und der Einführung performanzorientierter Steuerungsformen im Sinne eines ‚New Public Management‘ verbunden sind und u.a. eine erhöhte Konkurrenz der Schulen untereinander zur Folge haben (vgl. u.a. Franklin/Bloch/Popkewitz 2003; Huber/Büeler 2009; Quehl 2007). Vor diesem Hintergrund erscheint die „Rekrutierung besonders leistungsstarker Schüler_innen“ sowie der „Versuch der Reduktion des Anteils leistungsschwacher Schüler_innen“ seitens der Schulen als ein ‚nichtintendierter Nebeneffekt‘ des übergeordneten Ziels einer Erhöhung des schulischen ‚Marktwerts‘ (Bellmann/Weiß 2009: 295ff. zit.n. Karakayali/zur Nieden 2013: 72).

Wie bei Lentin und Titley wird auch die folgende Analyse im Kontext einer solchen Transformation staatlich-institutionellen Regierens situiert. Neoliberalismus meint dann eine dominante gesellschaftliche Rationalität, die kollektive Sichtweisen durchdringt, sich in Begriffen und Konzepten niederschlägt, auf die „Spezifizierung von Gegenständen und Grenzen“ (Lemke 2000: 32) auswirkt und sowohl tiefgreifende Folgen für Subjektivierungs- als auch gesellschaftliche Formierungsprozesse mit sich bringt. Hierüber werden nicht nur neoliberale Prinzipien wie das Leistungsprinzip im Gewand eines freiheitlich-liberalen Diskurses um (Verteilungs-)Gerechtigkeit gesellschaftlich verankert, sondern auch antirassistische Positionen diskursiv umgestülpt und irritiert (vgl. Duggan 2003).2

Die neoliberalen Logiken – als ein „slippery object of analysis“ (Lentin/Titley 2011: 162) – tragen vor diesem Hintergrund auch dazu bei, die rechtlich-politisch-institutionelle Diskriminierung insbesondere von Individuen und Gruppen, denen ein ‚Ausländerstatus‘ und/oder ‚Migrationshintergrund‘ zugeschrieben wird, zu de-thematisieren. In einer Gesellschaft, in der sich die Position und der Status ihrer Mitglieder vor allem danach bemisst, ob die in dieser Gesellschaft lebenden Individuen ‚nützlich‘, ‚wertvoll‘ oder ‚leistungsbereit‘ sind, stellt der Rassismus (zusätzliche) Argumente bereit, mittels derer sich strukturelle Ungleichheitsverhältnisse bspw. auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem erklären lassen. So können über den Verweis auf die vermeintlich andere Kultur, Religion oder Ethnizität beobachtete Ungleichheiten und -behandlungen in individuelle Eigenschaften übersetzt werden und als Belege für die vermeintlich unzureichende ‚Performance‘ ganzer ‚natio-ethno-kultureller Gruppen‘ fungieren. Die Verbindung von rassistischen und neoliberalen Logiken trägt somit dazu bei, rassistische Verhältnisse und ihre Effekte zu privatisieren – im Sinne von „[a]nyone who feels that she is the victim of racism has also to look at her responsibility“ (ebd.: 168). Eine solche Form der Übertragung der Verantwortung für (neo-)rassistische Verhältnisse auf die betroffenen Individuen hat zur Folge, dass Personen mit offensichtlichem Migrationshintergrund/status stets droht – über eine mögliche Positionierung als ‚nicht integrierbar‚ -fähig oder -willens‘ – als „selbstverantwortlich legitimiert“ ausgeschlossen bzw. diszipliniert und sanktioniert zu werden (Stehr 2007: 37). Es spiegelt sich hier „eine allgemeine, für den gegenwärtigen ökonomistischen Gesellschaftstyp kennzeichnende Form des Zugriffs auf Subjekte wider“ (Castro Varela 2013: 11f.), die auch die Selbstwahrnehmung der ‚zu integrierenden‘ Individuen und Gruppen entscheidend modelliert, indem sie diese auf bestimmte Identitäten festlegt und dabei Differenzen und Widersprüche homogenisiert (vgl. auch Lentin/Titley 165ff.).

Diesen Ausführungen zu Folge verstehe ich Rassismus – nach Paul Mecheril und Claus Melter – als ein „machtvolles, mit Rassenkonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen“ bzw. als ein spezifisches diskursives MachtWissen, über welches „Ungleichbehandlungen und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden“ (Mecheril/Melter 2009: 15f.). Ein solches (neo-)rassistisches MachtWissen steht dabei – und dies ist für die folgende Analyse wesentlich – in engem Zusammenhang mit sich verändernden politischen Rationalitäten sowie Konzepten von Staatlichkeit und kann als „Produkt historischer Verhältnisse“ seine „Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen“ (Hall 1994: 128). Dabei sucht sich der Rassismus – gleichsam wie die neoliberale Logik – immer neue Stützpunkte bzw. geht im historischen Verlauf immer wieder neue Verbindungen mit anderen Diskursen ein und schreibt sich über den ständigen Auf- und Umbau seiner Bezugssysteme, die Modifizierung seiner Logiken und die Verjüngung seiner Argumentationen auf vielfältige Weise in die Gesellschaft ein (vgl. Miles 2000).

Im Zentrum dieser (neo-)rassistischen Diskurse und Praxen stehen der Staat als Institution bzw. staatliche Institutionen wie die Schule, in denen sich das (neo-)rassistische MachtWissen bspw. in Form von Regeln, informellen Routinen und Programmen verfestigt und normalisiert, so als strukturierende Logik wirksam wird und über den Zugang zu materiellen und/oder symbolischen gesellschaftlichen Ressourcen nachhaltig entscheidet (vgl. Hall 2001; Gomolla/Radtke 2009). Dabei gehe ich nicht davon aus, dass sich das (neo-)rassistische MachtWissen lediglich in den politischen und sozialen Institutionen ablagert, sondern von den Individuen, Gruppen und Gesellschaften in einem komplexen Prozess „der Ermöglichung und Reglementierung, der symbolischen, kulturellen, politischen und biographischen Einbeziehung und Ausgrenzung“ aktiv übernommen wird (Mecheril/Hoffarth 2009: 252; vgl. auch Saar 2007). Eltern werden entsprechend nicht (nur) zu ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ gemacht, sondern wirken selbst an dieser Rollen- und Funktionsbestimmung in gewissen Teilen mit und müssen deshalb gleichsam wie die institutionellen Akteure bei der Analyse (neo-)rassistischer MachtWissens-Formationen und dessen Modifikationen berücksichtigt werden.

Das hier skizzierte Rassismusverständnis fange ich im Folgenden über einen dispositivanalytischen Zugang ein. Dabei sensibilisiert der oben in Anlehnung an Lentin und Titley skizzierte Ansatz eines racial neoliberalism die Analyse von (neo-)rassistischen Diskursen im Kontext der Schule für dessen mögliche Verwobenheiten mit neoliberalen Logiken, Praxen und Politiken und verspricht so neue Artikulationsformen von Rassismus in der Schule aufzuschließen. Dementsprechend fokussiere ich die folgende Analyse auf die Fragen, ob und wenn ja, wie in der Schule ein (neo-)rassistisches Wissen in neoliberale Argumentationen überführt wird bzw. sich in institutionelle Wissenshaushalte einschreibt, wie darüber Diskriminierungsprozesse von Eltern und Schüler_innen mit Migrationsgeschichte in der Schule legitimiert sowie gefestigt werden und wie ein solches MachtWissen wiederum Einfluss auf die (Selbst-)Verständnisse und das Handeln der Pädagog_innen sowie der betroffenen Eltern nimmt.

Die Analyse dispositiver Formationen

Den hier aufgeworfenen Fragen bin ich über ein dispositivanalytisches Forschungsdesign nachgegangen.3 Im Fokus standen dabei zunächst dominante politische Redeweisen um ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘, damit verbundene staatlich-institutionelle und pädagogische Praxen sowie die Erfahrungen, Handlungs- und Sichtweisen von Eltern und Pädagog_innen an innerstädtischen Schulen Berlins. Diese habe ich (dispositiv)analytisch aufeinander bezogen und gefragt, wie sich hier jeweils sowie im Zusammenwirken der „heterogenen Elemente“ (Foucault 1978: 121) ein spezifisches MachtWissen um Eltern mit Migrationsgeschichte realisiert und wie dieses auf den jeweiligen Ebenen wiederum gestützt, bearbeitet bzw. (re-)organisiert wird. 4

Den Analysekorpus bildeten primär sozial- und bildungspolitische Beschlüsse, Empfehlungen und Handreichungen, die vom Berliner Senat seit dem Jahr 2000 veröffentlicht wurden, sowie insgesamt 25 leitfadengestützte qualitative Interviews, die ich mit Pädagog_innen (Lehrer_innen, Schulleiter_innen und Sozialpädagog_innen) in verschiedenen weiterführenden Schulen im Forschungsraum Berlin-Kreuzberg und -Neukölln sowie mit Eltern von dort zur Schule gehenden Schüler_innen und Vertreter_innen lokaler Elternvereine geführt habe, die sich selbst als ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ bzw. Migrant_innenvereine positionieren und/oder von den Pädagog_innen als solche positioniert wurden. Das transkribierte Material habe ich zunächst über eine thematische Kodierung aufgebrochen und mithilfe des Analyseprogramms MaxQDA in einem gemeinsamen Codesystem zusammengeführt. Es haben sich darüber verschiedene (diskursive) Felder herauskristallisiert, in denen ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ thematisch wurden bzw. sie sich selbst thematisierten und in denen sich jeweils spezifische Redeweisen über, Praxen um und (Selbst-)Verständnisse von Eltern und Lehrkräften bündelten. Über diese Zusammenführung des Materials wurden nicht nur dominante Aussagemuster und -verschränkungen in der (Selbst-)Thematisierung der Eltern sichtbar, sondern auch zentrale Leerstellen und unterschiedliche Relevanzsetzungen, die sich auf Seiten von Politik, Eltern und Schulen bspw. hinsichtlich der (Nicht-)Thematisierung von Diskriminierung in der Schule zeigten. Über das weitere schrittweise In-Beziehung-Setzen der thematischen Codes und die vergleichende Feinanalyse einzelner Textfragmente aus den Interviews und Dokumenten, verschob sich die Analyse von der thematischen Sortierung verstreuter Äußerungen hin zur Analyse von Diskursen, (Regierungs-)Praktiken und Subjektivierungsweisen, über deren Zusammenspiel sich ein spezifisches MachtWissen um ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ realisiert. Als ein solches Wissen erwiesen sich insbesondere die oben beschriebenen neoliberalen Prinzipien einer individuellen Selbstverantwortung und Leistungsorientierung. So zeigte sich im Laufe der Analyse, dass sich die hier in den Blick genommenen dispositiven Elemente zum einen rund um die integrationspolitische Prämisse eines ‚Förderns und Forderns‘ formieren und ein (neo-)rassistisches MachtWissen auf ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ freisetzen, das wiederum mit bestimmten Praktiken und Subjektivierungsweisen im Kontext der Schule verbunden ist. Zum anderen hat die Implementierung neuer wettbewerbsorientierter Bildungssteuerung im Berliner Schulsystem ein – Handlungen wie Identitäten anleitendes – (neo-)rassistisches MachtWissen um ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ befördert. Auf beide Formationen möchte ich im Hinblick auf die oben formulierten Analysefragen näher eingehen und beispielhaft zentrale Tendenzen eines hier zum Ausdruck kommenden racial neoliberalism skizzieren.

Formationen eines ‚racial neoliberalism‘ in Berliner Schulen und Schulsystem

‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ im Kontext der integrationspolitischen Prämisse eines ‚Förderns und Forderns‘

Die oben beschriebene neoliberale Rationalität hat seit Beginn der 1980er Jahre in Deutschland Eingang in die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gefunden. Berlin kam dabei, u.a. durch ein „Programm des CDU-Senats, das ab 1982 Sozialhilfeempfänger zur ‚gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit‘ verpflichten sollte, […] eine Vorreiterrolle zu“ (Lanz 2007: 254). Die sich bereits in diesem Kontext etablierenden politischen Maxime der ‚Aktivierung‘ sowie des ‚Förderns und Forderns‘ trugen zur Herausentwicklung eines „punitiven Paternalismus“ bei (Lessenich 2003: 217f.), der sich u.a. im Konzept des ‚enabling state‘ der Reagan- und ersten Bush-Administration sowie aus Tony Blair’s ‚Drittem Weg‘ zwischen Wohlfahrtsstaat und ‚schlankem Staat‘ speiste (vgl. ebd.; vgl. auch Trube 2003) und sich im Zuge der ‚einwanderungspolitischen (Jahrtausend)Wende‘ in Deutschland auch zu einem festen Bestandteil der politischen Diskussion um die ‚Integration‘ von hier lebenden Migrant_innen sowie ihrer Kinder und Enkelkinder herausentwickelte. Eine diesbezügliche Verlagerung der Verantwortung für gesellschaftliche Teilhabe bzw. ‚Integration‘ von den staatlichen Institutionen auf die Individuen bzw. Migrationssubjekte vollzieht sich in Berlin insbesondere seit der Veröffentlichung des ersten Berliner Integrationskonzepts im Jahr 2005 und spiegelt sich auch hier in der Maxime eines ‚Förderns und Forderns‘ wider: „Mit den Maßnahmen zur Förderung sind auch Forderungen verbunden: Es wird erwartet, dass Migranten, insbesondere auch deren Vertretungen, sich aktiv in den Integrationsprozess einbringen“ (Beauftragte für Integration und Migration 2005: 3). Die scheinbar selbstverständliche Kopplung von Integrationsförderung und Integrationsforderung geht im Berliner Integrationskonzept mit der Unterscheidung von vermeintlich ‚lernunwilligen‘ und „lernwilligen Migranten und Migrantinnen“ einher (ebd.: 18). Dies suggeriert, dass bei ausbleibendem Integrationserfolg die ‚Schuld‘ hierfür auf die Einzelnen bzw. ihren vermeintlich fehlenden Lern- bzw. Integrationswillen zurückfällt – ganz nach der 2009 zur „Integrationspolitik in Neukölln“ vom dortigen Bezirksamt formulierten Devise: „‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘“ (Bezirksamt Neukölln 2009: 9). Gemäß diesem integrationspolitischen Leitspruch sei es, so heißt es hier, eine „Selbstverständlichkeit“, dass

„jeder zuerst einmal für sich selbst und die Gestaltung seines Lebens die Verantwortung trägt. Erfolg ist zumeist das Resultat von eigenen Bemühungen. Die Bereitschaft, die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten einzusetzen, Verantwortung zu tragen und sich diszipliniert in eine demokratische Gemeinschaft einzufügen, muss der Motor für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg sein. […] Das Sozialsystem hilft denen, die aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen und ein Leben in Menschwürde zu führen. Die Adaption des Sozialtransfers als alleinige Lebensgrundlage oder bequeme Sicherung der Grundbedürfnisse ist nicht Teil unserer Lebensphilosophie und deshalb akzeptieren wir nicht, dass es Menschen gibt, die unsere sozialen Sicherungen als Hängematte missbrauchen.“ (ebd.)

Durch die Übersetzung dieser neoliberalen Prämissen auf den integrationspolitischen Kontext, kristallisieren sich vor allem Migrant_innen zu einer (neuen) prominenten Zielgruppe des Prinzips des ‚Förderns und Forderns‘ heraus: sie sind es nun primär, die implizit mit dem Vorwurf konfrontiert werden, „unsere sozialen Sicherungen als Hängematte zu missbrauchen“, was wiederum „unserer Lebensphilosophie“ [Kursivsetzung, E.K.] widerspreche. Der Verweis auf ‚uns‘ setzt hier ein ‚(natio-ethno-kulturell) Anderes‘ voraus, welches an anderer Stelle im Dokument unter der Bezeichnung der „türkischen Familien“, „Flüchtlingsfamilien“ und „Einwandererfamilien“ (ebd.: 2) expliziert wird.5

Seit Beginn der politischen Auseinandersetzung mit Fragen der ‚Integration‘ im Zuge des (einwanderungs-)politischen Richtungswechsels Anfang 2000, hat sich wie auf Bundesebene auch in Berlin der Bildungsbereich generell, und speziell die Schule zu einem zentralen integrationspolitischen Interventionsfeld entwickelt. Die enge Verschränkung von Integration und Bildung manifestiert sich bereits im Titel des Konzepts „Integration durch Bildung“, das 2005 vom Berliner Bildungssenat herausgegeben wurde und erstmals „überprüfbare Indikatoren enthält, an denen der Erfolg des [Integrations-]Programms gemessen werden kann“ (Beauftragte für Integration und Migration 2005: 30). Die Schule wird seitdem nicht nur als „wichtigste Integrationsinstanz junger Migranten/innen“ (ebd.), sondern auch als zentraler „Lern- und Begegnungsort“ für die Eltern verstanden, an dem „positive Integrationserfahrungen“ gemacht und „Handlungsfähigkeit“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006: 19f.) auf Seiten der Eltern erworben werden kann bzw. soll. Es zeigt sich, dass im Kontext von Integration und Schule vor allem die „Eltern, gerade auch der Migranten/innen“ (ebd.) mit der Prämisse des ‚Förderns und Forderns‘ belegt werden, die insbesondere im Sinne einer ‚Stärkung ihrer Eigeninitiative‘ in die Aktivitäten der Schule einbezogen werden sollen. Die „Migranteneltern“ bzw. „Eltern mit Migrationshintergrund“ (ebd.) werden in den Dokumenten entsprechend vorwiegend über die Verschränkung von integrations- und aktivierungspolitischen Maßnahmen im Kontext schulischer Elternbeteiligung thematisch. So zielen die auf politischer Ebene formulierten Ansätze überwiegend darauf ab, das „Interesse [der Eltern] an den Aktivitäten“ ihrer Kinder zu „wecken und [zu] stabilisieren“, die „Erziehungskompetenzen“ der Eltern zu „stärken“, sie „zu Partizipation in Schule und Stadtteil hinzuführen“ (ebd.: 22f.) sowie die Eltern über „die Vermittlung von Kenntnissen über grundlegende Strukturen und Normen der Aufnahmegesellschaft […] in die Lage“ zu versetzen, „das Berliner Bildungssystem zu verstehen und daran teilzunehmen“ (ebd.: 3).

Über Formulierungen wie diese wird ein Bild von ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ entworfen, in dem diese der Schule und ihren Kindern per se wenig Interesse entgegenbringen und die insgesamt uninformiert, passiv, desinteressiert und distanziert der Berliner Schule wie dem deutschen Bildungssystem gegenüberstehen. Durch die gleichzeitige Gegenüberstellung der Eltern zu den „Strukturen und Normen der Aufnahmegesellschaft“ (ebd.) werden diese in der Position der natio-ethno-kulturell Anderen fixiert und in einem mangelnden kulturellen Passungsverhältnis zur ‚deutschen Schule‘ positioniert. Die vermeintlich geringere ‚Sichtbarkeit‘ der ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ in der Schule ihrer Kinder wird somit vor allem über ihr vermeintlich fehlendes Interesse bzw. ihre mangelnde Einsatzbereitschaft erklärt, welche wiederum direkt wie indirekt mit dem ‚Migrationshintergrund‘ bzw. der vermeintlich fremden Herkunft der Eltern in Zusammenhang gebracht bzw. in der ‚Natur‘ der ‚anderen Eltern‘ gesucht und gefunden werden, wobei rassistische Unterscheidungs- und Begründungsmuster vor allem auf die ‚andere Kultur‘, ‚andere Herkunft‘ sowie – speziell in neueren Dokumenten – auf die ‚andere Religion‘ der Familien zurückgeführt werden. (Neo-)rassistische Vorstellungen und neoliberale Erwartungshaltungen hinsichtlich des Engagements von ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ in der Schule stehen dabei in einem gegenseitigen Begründungsverhältnis und stärken insbesondere einen individualisierenden Blick auf die Integration und schulische Teilhabe der Eltern. Basierend auf der Annahme, dass „[n]ur die Kombination von Sprachkompetenz und gesellschaftlichem Grundlagenwissen […] zu Integration und Partizipation“ befähigt (ebd.: 20), werden diesbezügliche ‚Erfolge‘ vorwiegend an die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten der Eltern gekoppelt. Hierüber vollzieht sich wiederum eine diskursive Engführung auf die Migrationssubjekte bzw. „Migranteneltern“ (ebd.) sowie ihre vermeintlichen Sprach- und Integrationsdefizite, während sich strukturelle wie institutionelle Faktoren für eine schulische Partizipation von Eltern als zentrale diskursive Leerstellen herauskristallisieren.

Entsprechend des im politischen Diskurs vorherrschenden dominanten Bildes der wenig aktiven Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘, haben staatlich-institutionelle Maßnahmen der ‚Aktivierung‘ und ‚Disziplinierung‘ der so adressierten Eltern in den letzten Jahren besondere Bedeutung und Legitimation erfahren. Im Zentrum eines 2007 vom Berliner Bildungssenat veröffentlichten „Förderatlas“ steht entsprechend die Einrichtung von Informations- und Beratungsangeboten, Sprach- und Integrationskursen sowie Selbsthilfegruppen in und außerhalb der Schule für Eltern, insbesondere für „Frauen und Mädchen mit einem Migrationshintergrund“ (Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales 2007a: 61). Die Maßnahmen sollen die Eltern „ermutigen“ und „sensibilisieren“, „ihre Erziehungsverantwortung aktiv wahrzunehmen“ sowie zur „Öffnung der Familien nach außen“ beitragen (ebd.: 50). Es drückt sich hier erneut eine vorwiegend kulturalisierende und defizitorientierte Perspektive auf Eltern mit Migrationsgeschichte aus, nach der diese zunächst angeleitet, motiviert und aktiviert werden müssen, um sich in der Schule und – vor allem – im Sinne von Schule zu beteiligen. So sollen Praktiken wie der „Elternintegrationskurs“ helfen, „Eltern Zugang zu dem kulturellen Code zu geben, der es ihnen erleichtert, ihre Kinder in gleicher Weise wie die Eltern ihrer deutschen Nachbarskinder zu fördern, somit Handlungsfähigkeit in Bezug auf den schulischen Alltag und in Bezug auf die Förderung des schulischen Erfolgs ihrer Kinder zu erlangen“ (Berliner Volkshochschule 2009: 5). Zugleich sind es die hier konstituierten ‚nicht-deutschen Eltern‘, die mit Sanktionen rechnen müssen, wenn sie die – durchweg positiv und im Sinne der Eltern dargestellten – Maßnahmen nicht wahrnehmen.6

An eine ähnliche Zielsetzung schließt auch die seit vielen Jahren vom Berliner Senat und den Bezirksverwaltungen geförderte Maßnahme der „Stadtteilmütter“ und „Kiezväter“ an. Diesbezüglich heißt es im Berliner Förderatlas:

„Migrantinnen werden in speziellen Kursen zu Stadtteilmüttern ausgebildet, deren Aufgabe es ist […] Familien der eigenen ethnischen Community aufzusuchen und sie zu Themen aus den Bereichen Bildung, Sprache, Erziehung, und Gesundheit zu beraten. […] Auf diesem Wege werden Familien erreicht, die bislang noch nicht mit dem hiesigen Bildungssystem vertraut waren. […] Die Frauen gewinnen an Selbstbewusstsein, nehmen innerhalb der eigenen ethnischen Community eine positive und ermutigende Vorbildfunktion ein und haben daher auch Einfluss auf die Erziehung und Entwicklung der Kinder in den betroffenen Familien.“ (Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales 2007a: 2013)

Was hier vordergründig als Empowerment der Eltern bzw. Mütter dargestellt wird, stellt sich hintergründig (auch) als subtile Form der Elternaktivierung heraus. So sollen über das Projekt nicht nur die „Stadtteilmütter“ selbst gefördert und (auf)gefordert werden, wiederum andere Eltern bzw. Mütter zu aktivieren, indem sie als „Türöffner für Familien“ fungieren, „die sich in ihre Community zurückgezogen haben und anders nicht erreicht werden können“ (Bezirksamt Neukölln 2015). Indem es sich bei der Maßnahme der „Stadtteilmütter“ bzw. „Kiezväter“ zudem vorwiegend um eine vom lokalen Jobcenter betreute Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahme für „arbeitslose Mütter“ handelt und „die Familienbesuche […] über ABM finanziert werden“ (ebd.), entpuppt sich das Empowerment-Angebot zugleich als ein welfare-to-work-Programm, oder wie es von Seiten eines interviewten ‚Kiezvaters‘ heißt: „Man beschäftigt uns nur so mit solchen Maßnahmen, ich seh’ das als Beschäftigungstherapie für Arbeitslose solche Maßnahmen. Und so will der Staat auch die Schwarzarbeit verhindern“ (Vater-SK: 20). Indem Eltern mit Migrationsgeschichte auf diese Weise gegenüber dem örtlichen Jobcenter verpflichtet werden, werden sie nicht nur zu Sprecher_innen staatlich wie (mehrheits-)gesellschaftlicher Integrationsforderungen ernannt, sondern erscheinen zugleich als Subjekte einer staatlich angeleiteten Form der Führung zur Selbstführung.

Die hier im politischen Diskurs identifizierten Spielarten eines racial neoliberalism leiten auch das Sprechen und damit verbundene Handeln von Lehrer_innen in Berliner weiterführenden Schulen auf spezifische Weise an. Das diskursive Wissen über die vermeintlich wenig aktiven bzw. engagierten Eltern mit Migrationshintergrund, die besonderer Förderung und Forderung bedürfen, verbindet sich in den Äußerungen vieler Lehrer_innen mit konkreten Stereotypen, die meist in einem abwertend-verallgemeinernden Duktus hervorgebracht werden, wie das folgende Beispiel einer Lehrerin zeigt:

„Das Problem ist dieses sich Einrichten in ‚Wir brauchen keinen Job. Wir kommen gut klar mit Kindergeld, mit all den sozialen Unterstützungen.‘ Und was die Frauen angeht: Wer lernt wirklich deutsch? Wer besucht wirklich diese Kurse? Wer macht das? […] Stattdessen: Party – also nicht wie wir sie feiern –, da ist immer viel Besuch bis spät in die Nacht, das Leben hat einen anderen Rhythmus.“ (Lehrerin-HS: 101)

In dem Verweis auf „die Frauen“, die nicht „wirklich deutsch“ lernen und Partys feiern „nicht wie wir sie feiern“, wird deutlich, dass ein so problematisiertes elterliches Verhalten auch hier vorwiegend auf Personen nicht-deutscher Herkunftssprache bezogen bzw. über die vermeintlich andere Herkunft der Eltern erklärt wird. Die Äußerung der Lehrerin erhält über den gleichzeitigen Bezug auf neoliberale Imperative („Zeige dich leistungsbereit!“, „Sei aktiv!“, „Bring dich ein!“) sowie auf – gleichsam gesellschaftlich breit geteilte – Integrationsforderungen („Lerne Deutsch!“, „Geh’ zum Integrationskurs!“) den Anschein einer legitimen Kritik an der vermeintlich elterlichen Kooperations- und Leistungsverweigerung. So verschränken sich neoliberale Logiken mit (rassistischen) Grenzziehungsprozessen, die einer abwertenden stereotypen (mehrheits-)gesellschaftlichen Wahrnehmung von familialen ‚Migrationsmilieus‘ in unterprivilegierten Lebenslagen Vorschub leisten. Die marginalisierte Stellung der ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ sowie ihrer Kinder in Schule und Schulsystem erscheint vor diesem Hintergrund – im meritokratischen Sinne – als weitgehend selbstverschuldet.

Damit wird eine Sichtweise auf Migrant_innen generell und speziell auf ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ gestärkt, nach der sich ‚der Staat‘ bzw. ‚die Mehrheitsgesellschaft‘ bereits zu viel um eine Unterstützung und Förderung dieser bemühe: „Ich hab’ manchmal den Eindruck, die Deutschen bemühen sich unglaublich ((!)) um die Migranten. Und dann gibt’s hier ’n Hilfeangebot und hier und da machen wir auch noch BuT [Bildungs- und Teilhabepaket, E.K.] und so weiter“ (Schulleiter-MW: 48). Das hier als ein einseitiges Geben aufgefasste Verhältnis zwischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ bzw. Schule sowie den Migrant_innen bzw. ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ („Dieses Zurückgeben, das ist nicht da. Also bei vielen“; Lehrer-AB: 41), mündet auf Seiten der Lehrer_innen – parallel zum politischen Diskurs – in vielfach geäußerten Forderungen nach einem Ausbau von Sanktionsmöglichkeiten für Eltern:

„Dann – hört sich bös’ an – fände ich es sehr gut, wenn wir mehr Möglichkeiten hätten, Eltern zu zwingen ((!)), ihre Kinder zur Schule zu schaffen. Zu zwingen heißt, es läuft für, da bin ich nicht alleine, finanzielle Maßnahmen. Einfrieren von Kindergeld, wenn’s nicht klappt, oder meinetwegen Kindergeld auf Extrakonto, was die Schule verwaltet oder dergleichen. Das is’ sehr interessant, solche Sachen funktionieren. Wenn es um’s Geld geht und man Angst hat, dass einem Geld gekürzt wird.“ (Lehrerin-HS: 185)

Entsprechend der oben angestellten ‚Problemdiagnose‘, bei denen die in Schule wahrgenommenen Probleme primär im (migrantischen) Elternhaus der Schüler_innen verortet werden, erscheint die Sanktionierung der Eltern hier als einzig probates Mittel. Alternative Erklärungsansätze wie die Möglichkeit, von (rassistischer) Diskriminierung betroffen zu sein, erscheinen vor dem Hintergrund der hier angewendeten Logik auf Seiten der Schule nahezu abwegig. Dies zeigt sich u.a. in der Reaktion der hier zitierten Lehrerin, nachdem sie auf die mir von Eltern mit Migrationsgeschichte vielfach berichtete (rassistische) Diskriminierung in der Schule angesprochen wird: „Also ich weiß halt nicht, was für Schulen das waren, mit was für einer Klientel, einer Schüler- oder Elternschaft. Also diskriminiert ((!)) werden hier Schüler und Eltern überhaupt nicht“ (Lehrerin-HS: 91).

Über die hier skizzierte Positionierung von Eltern mit Migrationsgeschichte im Sinne eines racial neoliberalism werden auch die Selbstverständnisse und -verhältnisse von Eltern mit Migrationsgeschichte auf spezifische Weise modelliert. So bedienen sich die interviewten Eltern teilweise recht ähnlicher Argumentationsmuster wie die Lehrkräfte, woraus sich schließen lässt, dass die Rationalität eines racial neoliberalism auch in ihr Sprechen, Denken und Tun auf vielfältige Weise Eingang gefunden hat. Die Verbindung von kulturalistischer und neoliberaler Perspektive findet vor allem im Blick einiger Eltern auf wiederum andere Eltern aus einer vermeintlich ‚anderen migrantischen Community‘ Ausdruck. Darüber hinaus deutet sich in den Interviews an, dass sich die oben dargestellten pädagogischen Praktiken der Elternaktivierung als wirksame Form des Regierens bzw. der impliziten Führung zur Selbstführung von ‚Eltern‘ erweisen. Dies wird u.a. in einem Fachbrief des Berliner Senats deutlich, in dem der Erfolg einer ‚Empowermentmaßnahme‘ über die Äußerung einer teilnehmenden Mutter mit Migrationsgeschichte wie folgt illustriert wird:

„Jetzt weiß ich, dass wir Frauen mehr können, dass wir uns auch weiterentwickeln, wenn man uns die Gelegenheit gibt, wenn wir angestoßen werden, wenn man uns hilft. So können wir selbstbewusster werden. Auch wenn wir noch immer nicht so perfekt Deutsch sprechen […].“ (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2008a: 5)

‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ im Kontext neuer wettbewerbsorientierter Bildungssteuerung

Die zunehmende Selbstverantwortung der Eltern bei gleichzeitiger Entantwortung von Schule und Politik für den Erfolg schulischer Teilhabe und gesellschaftlicher Integration sowie die sich darüber vollziehende ‚Privatisierung‘ von (rassistischen) Diskriminierungserfahrungen der Eltern, werden nicht nur vom Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ und damit verbundenen staatlich-institutionellen Praktiken gestützt. Tendenzen wie diese werden wiederum begleitet bzw. befördert von vielfältigen weiteren sozial- wie bildungspolitischen Ökonomisierungsprozessen, die aktuell in Deutschland zu beobachten sind. Diesbezüglich stellt die Implementierung neuer staatlicher Steuerungsmodelle für Schule und Bildungssystem eine zentrale Entwicklung dar, die sich in Berlin wie bundesweit insbesondere seit der Veröffentlichung nationaler wie internationaler Schulleistungsvergleichsstudien vollzieht und über die sich die Prinzipien der Selbstverantwortung und Leistungsorientierung weiter in das Handeln von Schule und ihrer Akteure eingeschrieben haben. So wurde bereits vor dem Hintergrund der Berliner Verwaltungsreform Ende der 1990er Jahre, „die vor allem aufgrund des rückläufigen monetären Leistungspotential des Landes“ (Baumert et al. 1999: 69) für notwendig erklärt wurde, für die Berliner Schule eine Entwicklung weg „vom System der organisierten Unverantwortlichkeit“ hin zur Reform der Einzelschule als „eigenverantwortliche und steuerungskompetente Handlungseinheit“ (ebd.: 66) bei gleichzeitiger Orientierung an übergeordneten Bildungs- und Erziehungs-Standards angestrebt. Der „Wandel vom exekutiven Verwalten zum öffentlichen Bildungsmanagement“ (ebd.: 69) ging in Berlin wie bundesweit mit der Einführung neuer Instrumente und Verfahren zur Feststellung und Überprüfung der Schulleistungen von Schüler_innen einher (bspw. über die Einführung der Berliner Element-Studie im Jahr 2003 sowie der Vera-Vergleichsarbeiten 2004). Zudem wurde die Wirkung der schulischen Steuerungsleistung sowie die Effizienz des schulischen Ressourceneinsatzes über die Einrichtung von Schulinspektionen sowie den Schulen im Jahr 2004 qua Schulgesetz auferlegte interne und externe Evaluationen stärker überprüfbar gemacht. Über die Veröffentlichung schulbezogener Leistungsdaten, u.a. auf der Homepage des Berliner Senats, sollte zudem eine verbesserte Transparentmachung schulischer Arbeit nach außen erfolgen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft o.J.).

Vor diesem Hintergrund hat auch die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulen neue Bedeutung erfahren. Die Pisa-Ergebnisse, so heißt es von Seiten des Berliner Bildungssenats, hätten

„den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den Aussichten auf Bildungserfolg einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht und die große Bedeutung der Kooperation zwischen Elternhaus und Schule in den Fokus des bildungspolitischen Interesses gerückt.“ (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2008b: 3)

Dabei zeigt sich, dass den Eltern einerseits ein erweiterter Handlungsspielraums in Schule zugesprochen wird, während sie andererseits zunehmend für die Bildungserfolge ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. So wurde bspw. die Position der Eltern in der Schulkonferenz und damit ihr Einfluss auf die Gestaltung von Schul- und Evaluationsprogrammen schulgesetzlich gestärkt. Im Zuge der Erweiterung elterlicher Mitsprachemöglichkeiten erwarten Schulen, dass die Eltern „auch in späteren Phasen des Bildungsgangs aus der Verantwortung für den schulischen Erfolg ihrer Kinder nicht entlassen werden“ und betonen, dass „insbesondere bei den Kindern aus so genannten bildungsfernen Familien großer Wert auf eine intensive Kooperation mit den Elternhäusern und die aktive Einbeziehung in die Lernentwicklung ihrer Kinder“ gelegt wird (Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales 2007b: 38f.). Vor allem sollen solche Eltern stärker für die Lernerfolge ihrer Kinder zur Rechenschaft gezogen werden, die hier als „bildungsferne Familien“ (ebd.) bezeichnet werden – und welche wiederum in den Berliner Senatsdokumenten häufig mit ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ gleichgesetzt werden. Dies geschieht erneut über den integrationspolitischen Kontext, in dem die „bildungsfernen Familien“ meist adressiert werden sowie ihre häufig synonyme Bezeichnung zu Eltern bzw. „Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund“ (ebd.: 31):

„Unzureichende Sprachkenntnisse und Defizite in der Bearbeitung von Lehr- und Lerninhalten sind die Hauptursachen für den mangelnden Schulerfolg von Kindern aus bildungsfernen Familien und erschweren Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund den Wechsel zwischen den Bildungsgängen mit dem Ziel, einen höheren Bildungsgrad zu erreichen.“ (ebd.)

Hier wie an anderer Stelle werden die Pisa-Ergebnisse als Bestätigung dafür herangezogen, dass es in erster Linie die ‚Defizite‘ der Familien wie ihre „Sprachbarrieren“ und ihr „mangelnde[s] Wissen über das Schulsystem“ seien, die dazu führten, dass „Kinder aus Einwandererfamilien […] überdurchschnittlich oft auf der Strecke“ blieben (ebd.). Darüber werden erneut staatlich-institutionelle Praxen der Führung zur Selbstführung bzw. solche Maßnahmen, die primär bei der „intensive[n] Betreuung und Förderung“ (ebd.: 37) der ‚bildungsfernen Familien‘ bzw. ‚Familien mit Migrationshintergrund‘ ansetzen, legitimiert.

Die Frage nach den Ursachen der Bildungs(miss)erfolge bestimmter Schüler_innen im Berliner Schulsystem wird auf ähnlich individualisierende Weise auch von den interviewten Lehrer_innen und Schulleiter_innen der Kreuzberger und Neuköllner Schulen über die ‚Bildungsferne‘ bzw. eine mangelnde schulische Orientierung der Eltern erklärt: „Es sind türkische Eltern, also ich hab’ ja hauptsächlich türkische Eltern und türkische und arabische Eltern […]. Die sind nicht unbedingt auf Schule orientiert“ (Schulleiter-MW: 3). Der Schulleiter, der an anderer Stelle seine Schule als „Türkenschule“ (ebd.: 88) bezeichnet, problematisiert und ethnisiert hier ein vermeintlich spezifisches Verhalten bestimmter Eltern („Die sind nicht unbedingt auf Schule orientiert“) und schreibt dieses damit zugleich allen „türkische[n] und arabische[n] Eltern“ zu (ebd.: 3). Die so als Eigenschaft ‚dieser‘ Eltern verallgemeinerte ‚mangelnde Orientierung auf Schule‘ wird durch die Annahme gefestigt, dass es sich bei den Eltern der Schule allgemein um „türkische und arabische“ (ebd.: 3), d.h. nicht-deutsche Eltern handelt. Bildungsmisserfolge bzw. beobachtete Leistungsdefizite in der Schule werden vor diesem Hintergrund implizit als selbstverschuldet ausgegeben: „Na ja, weil natürlich, ich meine die Lernhaltung vieler Schüler hier ist doch nicht die vom [Name einer Berliner ‚Elite-Oberschule‘]. Hier werden längst nicht so intensiv Hausaufgaben gemacht und sich vorbereitet auf den Unterricht und und und […]“ (ebd.: 90). Die fehlende „Lernhaltung“ (ebd.), die hier als eine spezifische Eigenschaft der Schüler_innen der „Türkenschule“ (ebd.: 88) verstanden wird, wird der Lernhaltung der Kinder ‚bildungsorientierter Eltern‘ gegenübergestellt, die hier gleichsam eine stereotype Charakterisierung erfahren:

„Ich hatte hier mal, die wurden durch Umlenkung hierher geschickt, völlig verzweifelte Eltern mit drei, zwei zarten kleinen blonden Mädchen, die seit dem dritten Lebensjahr Geige spielen. So. Die waren natürlich entsetzt die [Name der Schule] zugewiesen zu bekommen. […] Und die Eltern haben einfach auch Angst, dass ihre Kinder dann mit solchen, also dass diese Lernhaltung irgendwie abfärbt.“ (ebd.: 82)

Die Schüler_innen und Eltern der „Türkenschule“ (ebd.: 88) werden hier als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binäre Anordnung zu den „blonden“ (ebd.: 82), ‚bildungsnahen, auf Schule orientierten, lernwilligen Schüler_innen und Eltern‘ konstruiert. Der neoliberale (Schul-)Leistungsdiskurs stellt dabei neue Interpretationsmöglichkeiten für beobachtete Ungleichheiten in Schule zur Verfügung; durch ihn gelingt es diese Beobachtungen über das ‚Wesen‘ der „türkische[n] und arabische[n] Eltern“ (ebd.: 3) und Schüler_innen bzw. ihre vermeintlich fehlende Lernhaltung und Leistungsbereitschaft erklärbar und interpretierbar zu machen, ohne dass das hierüber produzierte Wissen auf den ersten Blick als ein (neo-)rassistisches Wissen identifizierbar ist.

Wie bei dem hier zitierten Schulleiter, drückt sich auch in zahlreichen anderen Gesprächen mit Berliner Pädagog_innen eine allgemeine Orientierung der Schule an bildungsbürgerlichen Erwartungen und damit verbundenen gesellschaftlich-normalisierten Vorstellungen einer leistungsstarken bildungsnahen Schüler- und Elternschaft aus, die meist mit weißen deutschen, nicht-muslimischen Eltern gleichgesetzt werden. In der Konsequenz lassen sich Bestrebungen vor allem an innerstädtischen Schulen Berlins mit hohem Anteil von Schüler_innen mit ‚nicht-deutscher Herkunftssprache‘7 aufzeigen, mittels derer die Schulen versuchen, die von ihnen favorisierte Eltern- und Schüler_innen-Klientel an ihre Schule zu locken bzw. zu einer Anmeldung an dieser zu bewegen. Zu aktuell wie in der Vergangenheit angewandten Methoden werden in den Interviews u.a. die Möglichkeit sog. Sammelanmeldungen speziell für die Kinder weißer deutscher Eltern sowie die Einrichtung von sog. ‚Deutsch-Garantie-Klassen‘ oder Montessori-Zweigen an den Schulen genannt, über welche auf die ‚besonderen Bedürfnisse‘ der ‚bildungsnahen Eltern‘ einzugehen versucht wird bzw. wurde.

Auch der bereits oben zitierte Schulleiter gibt an, sich „jetzt verstärkt“ darum zu bemühen, „hier wieder ’n deutsches Schülerpotential an die Schule zu holen“ (ebd.: 88). Diesen Vorsatz begründet er mit dem Erfolgs- und Leistungsdruck, dem er sich und seine Schule in Konkurrenz zu anderen Schulen im Bezirk ausgesetzt sieht. Als ein Auslöser hierfür erweist sich die berlinweite Erhebung und Veröffentlichung des schulinternen Abiturdurchschnitts. So erzählt der Schulleiter, dass die Schule beim Abiturdurchschnitt zuletzt ein „grottiges Ergebnis“ erreicht habe, was ihn merkbar beschäftigt (E.K.: „Ist die denn wichtig diese Abi-Note?“ Schulleiter: „Na offenbar ja, denn die wird ja veröffentlicht“; ebd.: 101f.) und zu folgender Praxis an seiner Schule geführt hat:

„So, und bisher hab’ ich’s ja auch so gemacht, dass ich Schülern, die an anderen Schulen schon mal durchgefallen sind, Asyl geboten habe und gesagt hab’: ‚Okay, dann steigen Sie hier noch mal ein, haben Sie ’ne zweite Chance. Zweite Chance, neue Schule, neues Glück.‘ Überleg’ ich mir jetzt sehr ((!)) genau, ob ich das wirklich tue. Weil, da wird ja doch nur’n Drei-Komma-Abitur draus, das wird ja kein Eins-Komma-Siebener-Abi. Das heißt, ich werde A kaum noch Schüler dergestalt aufnehmen. Es werden B sehr viel mehr Schüler durchfallen, weil wer durchfällt, versaut mir die Abi-Note nich’.“ (ebd.: 100)

Der von außen auferlegte Performanzdruck, dem sich die Schule durch die Veröffentlichung des Abiturdurchschnitts aktuell ausgesetzt sieht, wird auf die Schüler_innen einerseits in Form eines erhöhten Noten- und Leistungsdrucks und andererseits in Form rigiderer und frühzeitigerer Selektionspraxen übertragen. Der vormals vertretene Ansatz einer ‚solidarischen Schule‘ wird hier vom Leistungs- und Konkurrenzprinzip zwischen den als ‚autonom‘ und ‚selbstverantwortlich‘ positionierten Schulen ausgehebelt. Indikatoren wie die Abiturnote oder der ndH-Anteil einer Schule tragen so nicht nur zu der von bildungspolitischer Seite gewünschten Transparenz schulischer Performanz nach außen bei, sondern wirken sich auch auf das schulinterne ‚Management‘ von Heterogenität aus. Dabei kann angenommen werden, dass neue schulische Selektionspraxen wie die hier genannte vor allem Schüler_innen mit offensichtlichem ‚Migrationshintergrund‘ betreffen, da diese aufgrund der ihnen zugeschriebenen mangelnden Lernbereitschaft (s.o.) vermutlich gerade zu solchen Schüler_innen gezählt bzw. gemacht werden, die die Abiturdurchschnittsnote der Schule negativ beeinflussen (könnten).

In den Interviews zeigt sich, dass nicht nur die Pädagog_innen, sondern auch die Eltern den durch die neue Performanzorientierung angetriebenen schulischen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck in verschiedener Hinsicht internalisiert haben, worüber sich u.a. die Auswahl von und der Zugang zu ‚guten Schulen‘ zu einem umkämpften elterlichen Projekt entwickelt hat. So schildert der oben zitierte Schulleiter vor dem Hintergrund eines verstärkten Zuzugs von überwiegend finanziell- wie bildungs-privilegierten Familien in den Einzugsbereich der Schule, dass der Anteil von ‚türkischen Kindern‘ auf der Schule von den Eltern im Laufe der Schulzeit ihrer Kinder zunehmend als eine ‚negative Beeinträchtigung‘ für den Schulerfolg dieser wahrgenommen wird:

„Und ich hab’ grad gestern mit ’ner Grundschulleiterin gesprochen, das is’ ’n mehrstufiger Prozess. Ganz viele Eltern sind noch in der Kita dabei zu sagen, ‚Multikulti ist toll und mein Kind kann auch ruhig mit türkischen Kindern gemeinsam in den Kindergarten geh’n‘. Das ändert sich schon ’n bisschen, wenn die Kinder in die Schule kommen, in die Grundschule. […] Noch mal schwieriger wird’s, wenn’s dann in die weiterführende Schule geht, also dann ist Schluss mit lustig.“ (ebd.: 88)

Auf der weiterführenden Schule erscheint laut des Schulleiters die einstige Akzeptanz von „Multikulti“ rückblickend als naive Toleranz, die sich nun, wenn es um die Erreichung eines qualifizierenden Schulabschlusses geht, als nicht mehr tragbar erweist („dann ist Schluss mit lustig“). Dies bestätigt auch eine (Stadtteil-)Mutter aus Neukölln: „Früher hat man seine Kinder einfach in der nächstgelegenen Schule angemeldet und dann war gut. Und heute achten die Eltern eher darauf, auf welche Schule sie gehen sollten, […] was da für ’ne Mischung ist. Das ist wichtig, das beeinflusst die Leistung“ (Mutter-CB: 294). „Wenn ausländische Kinder in der Klasse sind, schwerpunktmäßig“, so heißt es von Seiten der Mutter weiter, hätten Eltern „die Befürchtung, dass ihr Kind […] der deutschen Sprache nicht mächtig wird. Und das führt dann wieder zu Leistungsabfall“ (ebd.: 344). Dabei hält die Mutter, die sich im Interview als Mutter mit Migrationsgeschichte positioniert, die Besorgnis „deutscher Eltern“, dass sich ihre Kinder „halt negative Sachen von den anderen ausländischen Kindern aneignen“ für durchaus berechtigt, „weil die deutschen Kinder werden ja immer so positiv gesehen – pünktlich, ordentlich, lernbereit, willig. Nicht so chaotisch wie wir, wir sind ja immer so“ (ebd.). Auch hier zeigt sich erneut die identitäts- und handlungsanleitende Funktion des racial neoliberalism vor allem darin, dass den im Dispositiv als ‚Eltern mit Migrationshintergrund‘ adressierten Personen gerade solche Identifikationen nahegelegt werden, die einen racial neoliberalism wiederum stützen und seine Unterscheidungslogik plausibel machen.

Schlussbetrachtungen

„Under neoliberalism, ’it is not just that the personal is the political. The personal is the only politics there is.‘“ (Comaroff/Comaroff 2000: 305)

Die Analyse hat gezeigt wie im Umfeld Berliner Schulen (neo-)rassistische und neoliberale Logiken auf vielfältige Weise mit staatlich-institutionellen Praktiken sowie den Selbstverständnissen und -verhältnissen von Eltern und Lehrpersonen zusammenwirken und sich hier im Sinne eines racial neoliberalism realisieren. Vor diesem Hintergrund werden Eltern, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird und die nicht entsprechend bildungsbürgerlicher Verständnisse von ‚engagierter Elternschaft‘ (sichtbar) in der Schule agieren, als ‚Risiko-Gruppe‘ sowie potentielle ‚Integrations- und Leistungsverweigerer‘ zur Schule und anderen Eltern positioniert und entsprechend staatlich-institutioneller Interessen regiert. Die Kulturalisierung bzw. (Neo-)Rassifizierung von Integrations-, Lern- und Leistungsbereitschaft erweist sich dabei als ein zentrales Charakteristikum neoliberaler Gouvernementalität, über welche es nicht nur gelingt, beobachtete Ungleichheitsverhältnisse im Schulsystem zu begründen und zu legitimieren, sondern auch die Verantwortung hierfür primär bei den Schüler_innen und Eltern zu verorten. Formen von institutioneller Diskriminierung sowie (neo-)rassistisch strukturierte Ungleichheiten werden darüber genauso ausgeblendet wie Machtasymmetrien sowohl zwischen Schule und Eltern als auch zwischen unterschiedlichen Elterngruppen. Die sich im Zuge eines racial neoliberalism vollziehende individualisierende Verwaltung von Bildungschancen trägt somit dazu bei, gesellschaftliche Ungleichheits- wie (rassistische) Diskriminierungsverhältnisse zu reproduzieren und zu manifestieren und hat gleichsam tiefgreifende Auswirkungen auf die Konzeption von citizenship sowie damit verbundene Verständnisse von gesellschaftlicher Solidarität und Teilhabe (vgl. u.a. Robbins 2004).

Insbesondere für die vom racial neoliberalism negativ betroffenen Eltern und Schüler_innen erscheint es vor dem Hintergrund einer solchen Normalisierung von Rassismus zunehmend schwierig, die „flüchtigen und schwer fassbaren rassistischen Figurationen zu greifen“ (Pieper/Panagiotidis/Tsianos 2011: 198), geschweige denn sich den normativen Strukturierungen zu entziehen bzw. zu verweigern. Vielmehr scheinen Eltern im Spiegel dominanter neoliberal-geprägter Anerkennungsverhältnisse immer wieder aufs Neue veranlasst, sich auf ihre diskursiv vermittelte Position zu beziehen, selbst dann, wenn sie durch diese entwürdigt oder unterdrückt werden. Formen des expliziten oder impliziten Widerstands werden auch durch die Vielschichtigkeit bzw. Ambivalenz staatlich-institutioneller Praktiken erschwert, die sich eben nicht nur als wirkmächtiges Kontrollnetz erweisen, sondern – wie beispielsweise die Maßnahme der ‚Stadtteilmütter‘ – durchaus auch Möglichkeiten eröffnen, (neue) Sprecher_innen-Positionen einzunehmen und zur Verschiebung des neoliberalen Wettbewerbs- und (Schul-)Leistungs-Diskurses beizutragen. Ob und wenn ja, wie sich Widerstandsmomente und Subversionen im Hinblick auf einen racial neoliberalism im Kontext der Schule ausdefinieren (lassen), welche (neuen) Räume der Kooperation und Solidarisierung dafür notwendig sind sowie welche weiteren Verzweigungen der racial neoliberalism – insbesondere im Zusammenwirken mit anderen Differenzkonstruktionen – aufweist, gilt es im Zuge der weiteren Analyse noch zu konkretisieren.

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Ellen Kollender (Dipl.-Pol.) ist Mitarbeiterin am Bereich für interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Bildung in der (Post-)Migrationsgesellschaft, institutionelle und strukturelle (rassistische) Diskriminierung im Kontext von Schule und Sozialraum sowie diskurs- und dispositiv-analytische Perspektiven auf soziale Ungleichheiten.