Das Staatsgeheimnis ist Rassismus

Migrantisch-situiertes Wissen um die Bedeutungsebenen des NSU-Terrors

Lee Hielscher

Abstract The communities targeted by the so called Nationalsocialist Underground (NSU) recognized the murders of Turkish, Kurdish and Greek businessmen as racist terror long before the NSU revealed itself to the public. In June 2006, at a time when state and media focused solely on the stereotype of criminal foreigners as the only possible connection of the murders, several thousand people demonstrated in the streets of Kassel and Dortmund, Germany. Under the slogan “no 10th victim”, the surviving families and organizers clearly formulated their suspicion that these killings could only be motivated by racist motives. This paper discusses the strategic silence (Dhawan/Spivak) on questions of racism, contrasting it with the victim’s perspectives and experiences of racialization (Butler). It argues that analyzing the expressions and interventions of the victim’s families is necessary to broaden the understanding of the workings of racism in a post-racial society (Lentin). This perspective allows to address the social conditions which made the killings possible by developing an understanding of the situated knowledge of migrants as an epistemological position.


Keywords Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), migration, racist terrorism, regime of perception, situated knowledge


Fünf Jahre nach dem NSU besteht der merkwürdig-paradoxe Zustand, so vieles über die deutsche Gesellschaft und ihre politischen Verhältnisse herausgefunden zu haben und trotzdem eigentlich nicht weiter zu wissen.1 Seit dem Mord an Enver Şimşek vor über 15 Jahren erheben Migrant*innen, die seit Generationen in Deutschland leben und den Wohlstand der BRD aufgebaut haben, ihre Stimme und fordern vehement die Aufklärung rassistischer Gewalt und die Herstellung von Gerechtigkeit. Diesen Stimmen wurde über elf Jahre lang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie nach jedem der neun Morde an türkischen, kurdischen und griechischen Geschäftsmännern immer lauter wurden. Die Erklärung dafür: Man habe sie schlicht nicht wahrgenommen. Das Übersehen einer rassistischen Mordserie von bis dato unbekanntem Ausmaß — begründet mit der allgemeinen Unzulänglichkeit der Menschen. Doch dieses Übersehen ist hochpolitisch. Denn es ist Ausdruck rassifizierter Machtkonstellationen, die nicht nur jahrelanges Morden ermöglicht haben, sondern bis in die heutige Zeit die Hinterbliebenen schädigt. Die Positionen der Hinterbliebenen sind mitunter das Klarste im ganzen NSU-Komplex: „Wenn wir den NSU-Skandal jetzt nicht als Chance für Veränderung nutzen, wird uns das langfristig schaden“ (Özüdoğru 2014: 51). Dass die Chance auf Veränderung kontinuierlich vertan wird, hängt mit der Nicht-/Thematisierung von rassistischer Machtproduktion zusammen. Alle Angehörigen der Mordopfer wussten von Anfang an, dass sich die Hinrichtungen gegen sie als Migrant*innen in Deutschland richteten. Mehmet Demircan, Anmelder der Demonstration ‚Kein 10. Opfer!’, fasste dies knapp zusammen mit den Worten: „Hinter der Sache waren die Nazischweine und so. Ist doch ganz einfach, ich kenne meine Feinde, sage ich mal so“ (Demircan 2014: 7).

Aus dem offiziellen Deutungshorizont wurde ein rassistischer und nazistischer Hintergrund jedoch ausgeschlossen. Gemeinhin wird dies als ein Versagen von Behörden verhandelt. Die Fortdauer der Marginalisierung migrantisch-situierter Stimmen und gesellschaftlicher Kritiken, auch nach der Selbstenttarnung des NSU, zeugt jedoch vom Fortbestehen der Ausschlüsse einer Kritik der rassistischen Verfasstheit der Gesellschaft aus Sicht- und Hörbarkeit.

„Ihre Perspektive wurde innerhalb der gesellschaftlichen Deutungsmaschinerie, in der Aussagen von Subjekten offensichtlich entlang ihrer ethnischen Einordnung akzeptiert oder ausgeschlossen werden, systematisch marginalisiert“ (Önder 2014).

Nikita Dhawan verweist darauf, dass diese begrenzten Hörbarkeiten nicht auf eine mangelnde Artikulation der Marginalisierten zurückzuführen sind, womit die Forderung einer Veränderung von analytischen Grundannahmen verbunden werden muss:

„[…] instead of focusing on the supposed voicelessness of the marginalized, it is more crucial to scandalize the inability of the ‚dominant‘ to listen or their ‚selective hearing‘ and ‚strategic deafness‘.“ (Dhawan 2012: 52)

So besteht der Skandal nicht allein darin, dass die zahlreichen Hinweise der Betroffenen auf rassistische Tathintergründe übergangen wurden, sondern darin, dass sie ohne die durch die NSU-Mitglieder hergestellte politische Kontextualisierung der Morde wahrscheinlich nie in dieser Art und Weise heute thematisiert würden. Im Gegensatz zu fast allen Opfern rassistischer und neonazistischer Gewalt in der BRD wurden die Opfer des NSU durch die ranghöchsten Politiker*innen anerkannt und als Teil der Gesellschaft präsentiert. Wie Liz Fekete feststellt, sind diese Veränderung der Narrative und die Einbettung und Rehabilitierung der Opfer immer dann zu beobachten, wenn staatliche Verantwortung geleugnet werden soll (vgl. Fekete 2015). Die staatliche Rehabilitierung der Opfer ist eigentlich eine Rehabilitierung des Staates, indem sich staatliche Akteure auf der Seite der Trauernden einreihen und lediglich eine externalisierte Gruppe von Täter*innen verurteilen. Das selektive Hören, von dem Dhawan spricht, geht auch mit einem selektiven Re-Präsentieren einher. Obwohl eine staatliche Mitverantwortung an den rassistischen Morden nicht zu leugnen ist, wird sich auf Grund eines verkürzten bis gänzlich fehlenden Wissens um Rassismus von einer direkten Mitverantwortung befreit. Rassismus wird gar nicht erst genannt, sondern als Fremdenfeindlichkeit simplifiziert.2 So wird ein post-rassistischer Grundkonsens3 geschaffen, der besagt, dass Rassismus ein Erbe der Geschichte faschistischer Ideologien ist, welches mit dem Ende des Nationalsozialismus einen grundlegenden Bruch erfahren hat. Indem die langen Kämpfe der Opfer des NS entnannt werden, wird insbesondere die deutsche Aufarbeitung des NS als Ausdruck des Überwindens von Rassismus und anderen Ideologien der Ungleichheit narrativiert.

Daraus folgt die Neigung, Rassismus lediglich als unaufgeklärten, ungebildeten und unmodernen politischen Extremismus zu verstehen, der konsensualisierten Grundwerten entgegenstehe. Gleichzeitig wird es damit für legitim erklärt, die Formierung von Machtdynamiken aufgrund von Rassifizierungsprozessen zu verunsichtbaren. Dem stellt sich eine oftmals aktivistische Gesellschaftsanalyse entgegen, die bestimmte Praktiken und Akteure als rassistisch benennt. Da dies das staatliche Anti-Rassismus-Paradigma in Frage stellt, wird Rassismus weithin als Beleidigung aufgefasst, jedoch nicht als gesellschaftliche Kritik:

„To simply ‚label‘ these positions racist is certainly reductive, both because it is a pointless form of categorization, always already placed in the force field of anti-racialism, and also because it provides no critical insight into this ‚peculiar development‘ in liberal practice.“ (Lentin/Titley 2011: 91–92)

Darum geht eine Auseinandersetzung über Rassismus meist nie in die Tiefe, um die sozialen Formationen zu analysieren und zu diskutieren (vgl. Titley 2016).

Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit dem NSU-Kontext. Obwohl mit dem NSU die „größte zusammenhängende Dokumentation von institutionellem, strukturellem wie eliminatorischem Rassismus […]“ (Güleç/Hielscher 2015: 145) der BRD besteht, wird diese nur marginal als Ausgangspunkt genommen, um die Debatte über Rassismus zu initiieren. Auch fünf Jahre nach dem NSU sind Publikationen, Tagungen, Bildungsarbeit und eine wissenschaftliche wie zivilgesellschaftliche Beschäftigung mit den Bedeutungsdimensionen des NSU-Terrors und den ihn ermöglichenden gesellschaftlichen Formationen gering. Zudem findet eine stete Affirmation des friedlichen Zusammenlebens statt, wie das Birlikte-Fest in Köln zeigt. Derartige Feste im Kontext von ‚Dialog statt Hass‘ ziehen, wie auch die Mahnmale in den Tatortstädten, einen sehr schnellen Schlussstrich unter die offenen Wunden des Rassismus in Deutschland. Anstatt Rassismus zu thematisieren, liegt der Fokus der politisch Verantwortlichen in der positiven Bezugnahme auf eine multikulturelle Gesellschaft, um sich gegen den sogenannten politischen Extremismus zu bestärken. Die extremen Ausschlüsse und rassistischen Differenzlinien, welche die Gesellschaft realisieren, sind damit außerhalb der Sagbarkeit gesetzt.

Dort, wo Ermittlung und Aufklärung erwartet wird, in Untersuchungsausschüssen und vor dem Gericht, entstehen keine Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern Orte der zähen und lähmenden Fragen um Zuständigkeiten, Aussagegenehmigungen und um Öffentlichkeit (vgl. Burschel 2015; Klinger et al. 2015; Pichl 2015). Der Verweis zahlreicher VS-Mitarbeiter*innen, durch weitere Aussagen könne die Sicherheit des Staates nicht mehr garantiert werden, während durch diesen Staat die Sicherheit von Bürger*innen anhand rassistischer Figuren gezielt entzogen wird, zeigt, dass hier nicht Gesellschaft, sondern staatliche Hegemonie verhandelt wird. Moritz Assall verweist in diesem Kontext bereits seit Jahren darauf, den Verfassungsschutz als Hegemonieapparat zu verstehen und nicht als Schutzinstitution (vgl. Assall 2014). Wenn VS-Mitarbeiter*innen ihre Aussageverweigerung mit dem ,Schutz von Staatsgeheimnissen‘ legitimieren, geht es nicht um einen Schutz von Bürger*innen, sondern um den Fortbestand staatlicher Apparaturen und ihrer Wirkungsweisen. Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und zahlreicher Verschleierungsversuche, ist es an der Zeit, diese Geheimnisse zu lüften. Allen voran das größte Geheimnis: die Wirkmächtigkeit und Kontinuität rassistischer Machtproduktion, welche die gesellschaftlichen Ausschlüsse verfestigt und legitimiert.

In Folge dessen muss das Reden über Ermittlungspannen beendet werden. Das Versagen und Scheitern der Behörden ist kein temporärer Zustand, sondern muss Ausgangspunkt für ein prinzipielles Anzweifeln staatlicher Dienste sein. Eine Auseinandersetzung mit dem NSU muss staatliche Bezugnahmen dezentrieren und sich auf die Genese von Vergesellschaftung konzentrieren (vgl. Pichl 2015). Alles, was wir über die Komplexität des NSU und die Verschränkungen mit staatlichen Machtstrukturen erfahren, sollte als weiterer Aufruf für eine radikale Infragestellung gesellschaftlicher Machtverhältnisse verstanden werden. Die Opfer4 des NSU-Terrors brauchen keine Blumen und kein Mitleid (vgl. Taşköprü 2014), sondern sie fordern Aufklärung. Dies zieht keine Anrufung des Staates, sondern eine radikale Selbstinfragestellung jener die Täter*innen schützenden Gesellschaft nach sich. Doch diese kann nicht mit den etablierten Formen der Sozial- und Kulturwissenschaften erfolgen, wenn doch deren Methodiken in Zeiten der Morde nicht mehr als ein Anästhetikum waren (vgl. Shehadeh 2014). Das Nicht-Wahrnehmen sowohl der Morde als auch der Widerstände ist Ausdruck eines rassifizierten Sehens (vgl. Figge/Michaelsen 2015), dessen Kritik und Hinterfragung mit einer grundlegenden Veränderung des epistemologischen Terrains verbunden ist.

Den Wunden nachspüren

Die Taten des NSU haben nicht nur tiefe Wunden des Verlustes bei den Familien der Ermordeten hinterlassen — Wunden, welche von keinem Untersuchungsausschuss, keinem Gerichtsprozess und auch keiner lückenlosen Aufklärung geschlossen werden können. Die erhoffte Klärung und Erlösung (vgl. Jelinek 2014) durch Aussagen und eindeutige Beweise könnte es ohnehin niemals für die Betroffenen geben. So, wie die breite deutsche Zivilgesellschaft nach der NSU-Enttarnung in Schockstarre verfiel, liegt heute die volle Aufmerksamkeit bei den Ermittlungsapparaturen, jedoch kaum Aufmerksamkeit bei den Opfern. Ihnen wird eine Rolle zugewiesen und ihre Subjektposition auf die bloßer Statist*innen reduziert, die auf der Bühne einer sie im Nachhinein als Opfer anerkennenden politischen Öffentlichkeit vorgeführt werden (vgl. Figge/Michaelsen 2015; Arslan 2016).

Das Wissen um den NSU, das vermeintlich erst geschaffen werden muss, ist auf Seiten jener, die im Fadenkreuz des Rechtsterrorismus stehen, bereits vorhanden. Es ist ein migrantisch-situiertes Wissen um die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Es besteht aus langen Geschichten von Schikanen und den vielfältigen Eingriffen in die Wünsche, Träume und Perspektiven bezüglich einer Etablierung in Deutschland,5 die auf eine Gesellschaft trafen, die sich nicht als Einwanderungsland begreifen wollte und vielfältige Techniken des strukturellen Ausschlusses entwickelte (vgl. Şimşek/Schwarz 2013). Es ist das verinnerlichte und veralltäglichte Wissen, in dem sich die Erfahrungen des Lebens in einer Gesellschaft mit Rassismushintergrund sammeln (vgl. Jonuz 2014).

Schauen wir uns den Verlauf und die Fokussierungen der bestehenden NSU-Thematisierung an, dann sind in diesem Falle die Täter*innen und ihr Umfeld eine Wissenskategorie, die Opfer jedoch nur eine epistemische Marginalie. Aus dem weitverzweigten Feld der Täter*innen und ihres bisher nicht sicher festzustellenden Unterstützungsnetzwerkes kann eine ganze Bandbreite von Nachforschungen betrieben werden, während die Betroffenen lediglich als Trauernde ohne eigene Agency behandelt werden (vgl. Utlu 2013). Auf der Repräsentationsebene sind sie weitestgehend aus Kontextualisierungen ausgeschlossen, was sich sowohl gegen die Betroffenen richtet als auch die politische Dimension der Morde verunsichtbart. Von den neun Opfern existierten in der Öffentlichkeit lange Zeit nur jene neun Bilder, die auch für die rassistische Ermittlungspraxis vor dem 4. November 2011 genutzt wurden, wodurch eine visuelle Analogie zu den neonazistischen Täter*innen hergestellt wurde (vgl. Güleç 2015). Die nur als Mordopfer bekannten neun Unternehmer bleiben geschichtslos, solange sie als Zufallsopfer narrativiert werden. Es wurden jedoch nicht irgendwelche beliebigen Menschen ermordet, sondern gezielt Menschen ausgewählt, die aus verschiedensten Gründen und auf verschiedenen Wegen der Migration in die BRD gekommen sind. Sie stehen allesamt sinnbildhaft für Vorbilder der Integration. Sie wurden nicht an einem beliebigen Ort auf offener Straße ermordet, sondern in ihren selbst aufgebauten Geschäften hingerichtet, in denen sie oftmals als Unterstützung ihrer Ehefrauen oder Geschwister arbeiteten. Der Versuch, die Betroffenen ihrer Individualität und Geschichte zu berauben, ermöglicht sowohl die Narrativierung als Zufallsopfer und den Entzug von Deutungsdimensionen des rassistischen Terrors als auch den Entzug der Agency der Betroffenen.

Die Betroffenen lassen dies jedoch nicht zu und stellen sich dem seit über 15 Jahren entgegen. Bereits vor zehn Jahren versammelten sie sich zu tausenden in Kassel und Dortmund und demonstrierten für ein Ende des Mordens. Lautstark stellten sie die bisherigen Ermittlungen und Verdächtigungen in Frage. Die Opfer des NSU haben immer wieder die machtvoll geschaffenen Regime der Wahrnehmung hinterfragt, weil sie diese aus einer anderen epistemologischen Positionierung heraus betrachteten (vgl. Figge/Michaelsen 2015). Eine Auseinandersetzung mit dem NSU muss damit also die Einbindung in machtvoll geschaffene Regime der Wahrnehmung reflektieren.

Doch wie kann das wirksam werden? Eventuell indem wir uns den Opfern hinwenden und den Orten der Morde. In dem Besuch eines der ehemaligen Geschäfte der Mordopfer liegt bereits viel Erkenntnis und Reflexionspotenzial. Wer einmal den ehemaligen Lebensmittelladen der Familie Taşköprü besucht, wird erschrocken sein, dass dieser nicht irgendwo in Hamburg-Bahrenfeld liegt, sondern nur wenige Schritte vom pulsierenden Ottensen entfernt. Dass der Laden nicht irgendwie abgelegen ist, sondern mittendrin zwischen mehreren Miethäuserblocks. Dass der Laden komplett verglast ist und die Hinrichtung von Süleyman Taşköprü nicht den Hass gegen eine Einzelperson ausdrückt, sondern hier ein gut sichtbares Exempel für das ganze Viertel statuiert werden sollte. Hier befindet sich nicht einfach ein Tatort, sondern ein Zeugnis, aus dem sich vieles ablesen lässt. So steht der Angriff auf Geschäfte im Kontext des Nationalsozialismus für den von einer breiten politischen Bewegung getragenen Antisemitismus, der Bedrohung und Unsicherheit unter den Angegriffenen schaffen sowie sie als Unerwünschte öffentlich markieren sollte. Die allesamt gut sichtbaren und in nachbarschaftliche Sozialstrukturen eingebundenen Geschäfte der neun Geschäftsmänner stehen jedoch nicht in einem vergleichbaren Bedeutungskontext. Dieser muss erst noch geschaffen werden. Die mittlerweile verblasste Inschrift auf dem Gedenkstein der Stadt Hamburg verdeutlicht, dass dies nicht von allein passieren wird. Der ebenfalls vor dem Laden eigenständig verlegte Gedenkstern der Familie markiert die Bedeutung des persönlichen Involvierens in den Umgang mit den Taten des NSU. Die Familie hat damit ein eigenständiges Zeugnis von Süleyman Taşköprü geschaffen und fügt sich somit nicht in das gegebene Rollenschema ein. Diesen Umstand brachte Ismail Yozgat, Vater des 2006 ermordeten Halit Yozgat, direkt von dem Gericht zum Ausdruck:

„Unsere Seele brennt. Aber man gibt uns, was sie sich wünschen. […] Sie sagen doch, wir teilen euren Schmerz und sagen doch immer, euer Schmerz ist auch unser Schmerz. Du Deutschland, großes Land der Demokratie, sie haben mein 21-jähriges Lämmchen umgebracht. Wo ist es geblieben? Seien Sie mir nicht böse, dass was Sie uns gegeben haben, kommt uns gar nicht glaubwürdig vor.“ (Yozgat 2014)

Mit seiner kurzen Rede vor dem OLG München kreierte Yozgat eine Situation, indem er den machtvollen Raum des OLG irritierte. Er gab eine persönliche Erklärung ab und enthob sich aus der Rolle eines trauernden Vaters und Nebenklägers, um seine eigene Gefühlslage und seine Forderung nach Konsequenzen aus den NSU-Morden in den Prozess einzubringen. Er schloss mit der Bitte an Richter Götzl, sich für die Schaffung einer ‚Halit-Straße‘ in Kassel stark zu machen, zu deren Eröffnung Yozgat — gemeinsam mit Götzl sowie den Familien Bönhardt, Mundlos und Zschäpe — weiße Tauben fliegen lassen wolle. Götzl reagierte harsch und machte Yozgat deutlich, als Richter könne er da nichts unternehmen.

Yozgat ging es aber ebenso wenig um Zuständigkeiten wie um eine gerichtsförmige Auseinandersetzung mit dem NSU. Er forderte vielmehr eine weitergehende, gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung ein. Yozgat handelt damit, wie viele andere auch, seine Rolle im Prozess selbst aus. Alle Betroffenen sitzen hier in einer besonderen Doppelrolle, als anklagende Zeugen. Sie sind die klagenden Hinterbliebenen der Ermordeten und zugleich Zeug*innen des strukturellen wie institutionellen Rassismus vor, während und nach den Morden. Diese Zeugenschaft wird immer wieder in den Prozess eingebracht und entfaltet dort eine große Wirkung und Einflussnahme auf das Prozessgeschehen. Angesichts des massiven Belügens des Gerichtes seitens immer noch aktiver Neonazis und dem kollektiven Aus-der-Verantwortung-Ziehen durch fehlende Aussageverfügungen seitens der Beamt*innen von Polizei und Verfassungsschutzämtern sind die Aussagen und Zeugenberichte, welche durch die Nebenkläger*innen abgegeben werden, die ehrlichsten und aufrichtigsten im ganzen Prozess.

Trotz des jahrzehntelangen Leides, das den Hinterbliebenen angetan wurde und den Schmerz sogar noch über die brutale Hinrichtung ihrer Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne hinweg vergrößerte, ist seitens der Nebenkläger*innen keine tobende Wut zu hören. Weder gegen das Gericht, die Bundesanwaltschaft, noch gegen Beamte oder die Angeklagten. Dies bricht mit den Vorstellungen sowohl von Zeug*innen als auch von massiv mitgeschädigten Nebenkläger*innen. Sie werden daher oft als in ihrer Trauer gefangen und um „Beistand bittend“ (Kiyak 2012) oder als „unglaublich still“ (Behrens 2015) kategorisiert. Dabei sind die Nebenkläger*innen auf ihre individuelle Weise dabei, ganz neue Positionierungen einzunehmen, die innerhalb der bestehenden Verständniskategorien nicht gedacht werden. Umso größer sind ihre Wirkung und die Gegenreaktion, sie via derartiger Attribuierungen einzuhegen. So zeigt sich in der Umgangsform der falschen Übersetzungen oder der straff reglementierten Zuteilung von Rederechten innerhalb der Hauptverhandlung vor dem OLG, dass den Nebenkläger*innen nur bestimmte Rollen zugeteilt werden.

Gleichzeitig wird der Prozess jedoch nicht zum Aushandlungsterrain, sondern zum Ort der Sichtbarkeit. Das prozessuale Geschehen wird den Prozessbeteiligten überlassen und sich nicht angeeignet. Vielmehr treten die Betroffenen an verschiedenen Stellen in Erscheinung und machen die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex immer wieder deutlich — jedoch nicht für sich, sondern für die BRD-Gesellschaft. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung bringt den Betroffenen selbst ebenso wenig wie es ein paar Blumen zum Todestag ihrer Angehörigen tun. Denn die Anschläge waren das eine; was danach folgte, war jedoch die noch viel größere Bombe (vgl. Şahin 2016). Die Morde des NSU haben nicht nur den Familien tiefe Wunden zugefügt: Sie haben ganzen Stadtvierteln Wunden zugefügt. Deutschland ist zu einer schmerzlichen Heimat geworden, wie es Semiya Şimşek beschreibt. Was bedeutet das für eine Aufarbeitung des NSU-Terrors, einer politischen Gewalt, die über das Benennen und Verurteilen von Tätern noch viel weiter hinausreicht; welche einen ganzen Staat miteinbezieht? Die Form einer solchen Auseinandersetzung kann nicht imaginiert werden, sondern muss ausgehend von den Taten des NSU neu erdacht werden. Aus genau diesem Grund muss diese Frage immer wieder offen und hörbar gehalten werden. Die eher in einem resümierenden Charakter firmierende Frage nach den Lehren aus dem NSU kann also beantwortet werden: Lernt von den Betroffenen!

Literatur

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Yozgat, Ismail (2014): Sehr geehrter Herr Vorsitzender. Rede vor dem OLG München vom 13.3.2014. München.

  • Volume: 2
  • Issue: 1
  • Year: 2016


Lee Hielscher arbeitet ethnographisch und aktivistisch zu Mobilitäten von Arbeiter*innen und struktureller Ausbeutung in der EU, dem Regieren von Migration in der Stadt sowie rassistischen Dynamiken, Figuren und Wissensarchiven.