Den globalen Süden mitdenken!

Was Migration mit imperialer Lebensweise, Degrowth und neuem Internationalismus zu tun hat

Miriam Lang

Abstract Against the background of the severest migration crisis in history, which is only one dimension of a broader civilizatory crisis, this article argues that antiracist movements should not focus solely on issues of human mobility rights, but build new paths of solidarity with societies in the geopolitical Global South. Problematizing the dominant notions of what really is a good life, thinking social welfare globally and linking up with movements like ecofeminism or degrowth could not only open new possibilities to address the fears of social relegation through immigration in the Global North; it also would make possible a new internationalism, where people of the North and the South cooperate to overcome the current colonial division of Nature and labour and what has been called the imperial mode of living.


Keywords global south, imperial mode of living, antiracism, global social welfare, degrowth


Die Ausblendung des geopolitisch globalen Südens aus einem Großteil der kritischen, deutschen Debatten zu Migration ist irritierend. Es fühlt sich ein wenig so an, als sei die Erde wieder eine Scheibe, und die Grenzen Europas seien deren Ränder – wahlweise erweiterbar durch die Weltregionen, die als Wächterstaaten unmittelbar in die Pflicht genommen werden können, wie die Türkei oder der Maghreb und die virulentesten Kriegsregionen im Nahen und Mittleren Osten. Sowohl der globale Süden als solcher als auch die vielfältigen Verbindungslinien dorthin sind in den meisten Debatten inexistent. Auch angedachte gegenhegemoniale Projekte scheinen sich auf nationale Kontexte und bestenfalls auf Europa zu beziehen. Das ist problematisch angesichts der gegenwärtigen multiplen Krise, die globale Dimensionen hat und mit den Migrationsprozessen historischen Ausmaßes, die Europa in jüngster Zeit erlebt, in einem engem Zusammenhang steht.

Eine eingehendere Auseinandersetzung aus kritischer Perspektive mit Fluchtursachen im globalen Süden ist dringend notwendig und darf nicht dem politischen Establishment überlassen werden. Anstatt jedoch ›Entwicklungshilfe‹ als potentielle Lösung zu sehen, sollte das Paradigma der ›Entwicklung‹ grundlegend problematisiert werden. Dagegen bieten der Begriff der imperialen Lebensweise und die darin enthaltene Kritik an hegemonialen Alltagspraxen und Wohlstandsvorstellungen des globalen Nordens Ausgangspunkte für einen neuen Internationalismus, der soziale Absicherung nicht als Standortprivileg, sondern global zu denken vermag. Gegen Wohlstandschauvinismus und Angst vor sozialem Abstieg, die als Argumente gegen MigrantInnen ins Feld geführt werden, schlägt dieser Artikel eine Annäherung an die Postwachstumsbewegung und ökofeministische Strömungen vor, die die hegemonialen Vorstellungen von Lebensqualität hinterfragen. Denn wo ein gutes Leben jenseits von Akkumulation und Konsum möglich ist, können auch die materiellen und kulturellen Lebensgrundlagen der Menschen im globalen Süden respektiert werden.

Die Bekämpfung von Fluchtursachen nicht den etablierten Akteuren überlassen

Die Bekämpfung von Fluchtursachen ist heute vornehmlich ein Diskurs etablierter politischer Akteure, also von Parteien, Staatsapparaten und großen, internationalen NGOs. Hier dominiert der Blick auf Kriege, Katastrophen, Waffenhandel und Terror, also Formen internationaler Beziehungen, die diskursiv als Ausnahmezustand eingestuft werden. Da diesbezügliche, gangbare Lösungsansätze nicht vorhanden sind bzw. gar nicht im Interesse der Akteure liegen, wird entweder auf instabile, politisch fatale Modelle wie den Rücknahmedeal mit der Türkei zurückgegriffen oder aber ›Entwicklungshilfe‹ als Allheilmittel ins Feld geführt, wie zum Beispiel beim europäisch-afrikanischen Migrationsgipfel in Malta im November 2015 (vgl. European Commission 2015).

In den wenigen Beiträgen, die die globalen Nord-Süd Beziehungen überhaupt erwähnen, bemängelt die linke kritische Migrationsforschung zu Recht, Entwicklungshilfe sei »längst in den Dienst des Migrationsmanagements gestellt worden: Während die Übernahme migrationspolitischer Maßnahmen mit der Gewährung von Entwicklungsgeldern belohnt wird, wird die Nicht-Erfüllung durch deren Entzug bestraft« (Hess/Tsianos 2007: 36). Die Fokussierung auf diese Kritik am innerdeutschen Mainstreamdiskurs über Fluchtursachen führt jedoch leicht zu einer Haltung, die Migration tendenziell positiv bewertet und nach den Lebensbedingungen im globalen Süden gar nicht mehr fragt. So schreiben beispielsweise Helge Schwiertz und Philipp Ratfisch:

»Des Weiteren wird mit dem Schlagwort der Bekämpfung von Fluchtursachen eine Politik fortgesetzt, welche die in ihrer derzeitigen Form ohnehin fragwürde ›Entwicklungshilfe‹ mit Migrationskontrollen verknüpft, sie für diese instrumentalisiert und darauf abzielt, Migration bereits in ihrem Entstehen zu verhindern.« (Schwiertz/Ratfisch 2015: 8)

Johannes Krause kritisiert, dass in der Debatte um Migration häufig auch von linken oder liberalen Positionen »die primäre Zugehörigkeit jedes Individuums zu seinem Heimatland« hochgehalten wird und sieht in einer Auseinandersetzung mit Migrationsursachen von links eine »Reproduktion dieser orthodoxen territorialen Norm […]. Die ›Bekämpfung der Migrationsursachen‹ findet innerhalb eines diskursiven Feldes statt, in dem Migration bereits grundsätzlich als etwas Problematisches, zu Vermeidendes oder zumindest zu Reduzierendes verstanden wird« (Krause 2012: 191).

Ist Migration denn im Umkehrschluss grundsätzlich etwas Unproblematisches, zu Begrüßendes oder zu Erweiterndes? Muss die Verteidigung des Rechts auf Migration auf die Ausblendung des Zwangs zur Migration hinauslaufen? Hätte das nicht verhängnisvolle Auswirkungen auf die kollektive Entwicklung eines gegenhegemonialen Projekts? Fabian Georgi beschreibt in der Zeitschrift LuXemburg, wie es zu derartigen Standpunkten kommt:

»[I]n Debatten des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) [wird] argumentiert, eine Analyse, die Fluchtursachen maßgeblich in kapitalistischen Krisenprozessen verorte, würde ›die Pluralität und Heterogenität von Migrationsbewegungen und -motiven auf die altbekannten Größen eindampfen‹, die relative Autonomie der Migration unterschätzen und Gefahr laufen, durch die Unterscheidung verschiedener Ursachen die Spaltung in ›gute Flüchtlinge‹ und ›böse WirtschaftsmigrantInnen‹ zu reproduzieren. ›Warum‹, so eine in diesen Debatten geäußerte Frage, ›müssen wir denn sagen, warum sich Menschen in Bewegung setzen, [ob] aus Liebe, Abenteuer, Arbeit etc.?‹« (Georgi 2016)

Richtig ist, dass der Unterscheidung zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Flüchtlingen entgegengewirkt werden muss. Aber anstatt zu diesem Zweck die globalen Kräfteverhältnisse schlicht auszublenden oder gar Flucht ganz naiv als positiv besetzte, selbstbestimmte Lebensentscheidung zu beschönigen, sollte die internationale Arbeitsteilung in den Mittelpunkt der Argumentation gestellt werden, die für den Süden die Vernutzung von Natur und billiger Arbeitskraft vorsieht, um die Konsummöglichkeiten im Norden zu gewährleisten. Es ist eben radikal nicht dasselbe, ob jemand aus Deutschland beschließt, doch lieber in den USA zu leben, oder ob jemand aus Nigeria die Gefahren der Flucht in Richtung Europa auf sich nimmt. Angesichts des historischen Rekords von 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht Ende 2015 (UNHCR 2016) ist es genauso dringend, dafür zu streiten, dass die Lebensgrundlagen im globalen Süden nicht weiter zerstört werden, wie für offene Grenzen und dafür, dass die bereits Geflüchteten ein neues Leben in Würde aufbauen können.

Im geopolitischen Süden1 finden derzeit, aufgrund der nach wie vor geltenden kolonialen globalen Arbeitsteilung, heftige Kämpfe im Kontext von Akkumulation durch Enteignung (Harvey 2005)2 statt, um den Rohstoffhunger des Nordens und der neuen Mittel- und Oberschichten in den Schwellenländern zu befriedigen. Dieser Rohstoffhunger hat im Süden zu einer massiven Ausdehnung des Extraktivismus geführt – der Export von Öl, Mineralien oder cash crops stellt oft die einzige Möglichkeit dar, die südlichen Ökonomien in den Weltmarkt einzugliedern. Dadurch verlieren immer mehr Menschen ihre Lebensgrundlage und werden zur Migration gezwungen. Die Vertreibung kann vielerlei Ursachen haben: Die Zwangsräumung ganzer Dörfer, wie im September und Dezember 2015 im ecuadorianischen Tundayme geschehen, wo Bulldozer mit dem Einverständnis der Polizei die Häuser zerstörten und die betroffenen Familien ohne alle Habe, ohne ihr Vieh und ohne jegliche Entschädigung einem im Bau befindlichen Goldtagebau weichen mussten. Aber auch die Umleitung des gesamten zur Verfügung stehenden Wassers zur Durchspülung abgebauter Erze, die Vergiftung des Wassers durch Chemikalien im Bergbau oder beim Fracking, oder die Vernichtung der Ernte von Kleinbauern durch Glyphosat, das Flugzeuge eigentlich auf benachbarte Sojamonokulturen ausbringen. All dies beraubt die Menschen nicht nur ihrer materiellen Lebensgrundlage, sondern auch ihrer sozialen Beziehungsgeflechte und kulturellen Zusammenhänge. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen stellen in ihren Berichten einen direkten Zusammenhang zwischen Extraktivismus und Migration bzw. Vertreibung her (für Lateinamerika vgl. Grupo de Trabajo sobre Minería y Derechos Humanos 2014: 12f.; Burchardt et al. 2013). Auch die sogenannte grüne Ökonomie, also Windkraft, Photovoltaik oder Elektroautos, benötigt Rohstoffe wie seltene Erden, Kobalt, Lithium oder Kupfer, die in ihrer Gewinnung anderswo zu starken sozial-ökologischen Konflikten führen (vgl. Blume et al. 2011). Der globalisierte Weltmarkt sorgt dafür, dass diese in Konsumgüter eingeschriebenen Produktionsketten und Gewaltverhältnisse abstrakt und anonym bleiben, also systematisch unsichtbar gemacht werden. Sie bilden jedoch den direkten Zusammenhang zwischen imperialer Lebensweise im Norden und Fluchtursachen im Süden. Diese Perspektive auf Fluchtursachen, die das Recht aller Menschen auf ein Leben in Würde unterstreicht, dürfte für liberale oder konservative Positionen schwerlich anschlussfähig sein.

Migration ist meistens keine freigewählte, emanzipierte Entscheidung, sondern die Reaktion auf ein Zusammenwirken von Zwängen, beispielsweise kapitalistischen, geschlechtsspezifischen, ökologischen und/oder (neo)kolonialen. Und sicher wären viele derjenigen, die heute mit dem europäischen Grenzregime Katz und Maus spielen, lieber in ihrem kulturellen und sozioökonomischen Kontext geblieben, wenn das denn eine gangbare Perspektive gewesen wäre.

Imperiale Lebensweise und Sozialstaat: Träume, die der Norden und der Süden teilen

Ich will in diesem Zusammenhang nicht nur eine grundlegende Entwicklungskritik, sondern auch den von Ulrich Brand und Markus Wissen (2011) geprägten Begriff der imperialen Lebensweise stark machen. Bisher wurde dieser von der kritischen Migrationsforschung nur am Rand aufgenommen. Meines Erachtens bildet er einen Ausgangspunkt, um Perspektiven auf ein anderes Nord-Süd-Verhältnis zu öffnen, das zu gegenhegemonialen Gesellschaftsentwürfen rund um Migration dazugehört.

Imperiale Lebensweise meint nicht einfach einen von unterschiedlichen sozialen Milieus praktizierten Lebensstil, sondern herrschaftliche Produktions-, Distributions- und Konsummuster sowie damit verbundene kulturelle Vorstellungswelten und Subjektivitäten, die tief in die Alltagspraktiken der gesellschaftlichen Mehrheiten im globalen Norden eingelassen sind, aber zunehmend auch in die der Ober- und Mittelschichten in den Schwellenländern des globalen Südens (vgl. Brand und Wissen 2011: 88). Imperial ist diese Lebensweise insofern, als sie für eine kleine – privilegierte – Minderheit der Weltgesellschaft einen unbegrenzten Zugriff auf die Ressourcen, den Raum, die Arbeitskapazität und die Senken3 des gesamten Planeten voraussetzt. Diese Lebensweise ist nur insofern möglich, als dieser Zugriff entweder mit politischen oder rechtlichen Mitteln, oder aber militärisch und gewaltförmig abgesichert wird. Die imperiale Lebensweise verbindet den geopolitischen Norden und Süden insofern, als sie das von beiden geteilte, hegemoniale Ideal von erfolgreichem, gutem Leben unter den derzeitigen kapitalistischen Bedingungen darstellt. Andererseits trennt sie aber den Norden vom Süden, weil der Wohlstand des einen historisch auf der Ausplünderung der Lebenswelten des anderen gewachsen ist.

Wie Brand und Wissen darlegen, hat sich diese Lebensweise erst mit dem Fordismus, also in der Nachkriegszeit, in den Alltagspraktiken einer breiten Mehrheit des globalen Nordens verankert – in derselben Zeit also, in der die globalen Nord-Süd-Verhältnisse rund um das Begriffspaar Entwicklung/Unterentwicklung neu geordnet wurden: Während bis dahin die Ausbeutung der Kolonien zugunsten Europas mit rassistischen Weltanschauungen legitimiert wurde, war in der Nachkriegszeit ein neuer Legitimationsdiskurs vonnöten, der jedoch im Kern auf dieselbe internationale Arbeitsteilung und Aufteilung der Naturgüter hinauslief. Der Süden liefert Rohstoffe und billige Arbeitskraft, der Norden erzielt den Mehrwert. Doch jetzt geschah dies im Namen von Armutsbekämpfung und ›Entwicklungshilfe‹. Die Einführung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens als universeller Maßstab für den ›Entwicklungsstand‹ von Gesellschaften blendete in seiner zahlenmäßigen Abstraktion schlicht aus, dass große Teile der Ökonomien der Welt damals nicht kapitalistisch organisiert waren und also nicht vergleichbar. Im Zuge dessen wurden alle nichtkapitalistischen Lebensweisen, Ökonomien und gesellschaftlichen Organisationsformen, die nicht in die monetarisierten kapitalistischen Parameter passten, auf einen Schlag als ›arm‹ abqualifiziert, und damit auch ihre Wissensformen, ihre Kulturproduktion etc. in den Bereich des ›Rückständigen‹ und zu Überwindenden verbannt. Das Ergebnis war ein ganz neues Bild von einer Welt, in der unglaubliche Armut herrschte. Es entstand die Subjektposition der Unterentwicklung, die nicht einfach bestimmte Mängel erlebt, sondern vor allem von sogenannten ExpertInnen über Mängel definiert wird und sich letztlich dann auch selbst so definiert (vgl. Speich 2011; Escobar 2011).

Parallel dazu entstand in wenigen Teilen der Welt der Sozialstaat. Wie die feministische Ökonomin Amaia Pérez-Orozco (2014: 263f.) bemerkt, war das ein Sonderfall der Geschichte. Dennoch gehört auch dieser Typ von Sozialstaat bis heute zu den Idealen, die dem geopolitischen Norden und Süden gemeinsam sind. Dabei werden jedoch die besonderen historischen Bedingungen übersehen, die ihn erst ermöglicht haben: Erstens, der Kalte Krieg, in dem das Kapital angesichts der sozialen Kämpfe der organisierten ArbeiterInnenbewegung Zugeständnisse machen musste, um die soziale Ordnung zu gewährleisten und zu verhindern, dass weitere Teile der Weltbevölkerung sich dem realsozialistischen Lager anschlossen. Und zweitens, die koloniale und imperiale geopolitische Grundlage, auf der über Jahrhunderte hinweg die materiellen Reichtümer des Planeten auf extrem ungleiche Weise von den zentralen kapitalistischen Ländern angeeignet worden waren. Das, und ein unbegrenzter Zugang zu billigem Öl, waren die Möglichkeitsbedingungen für die Errichtung der Sozialstaaten der Nachkriegsjahrzehnte (vgl. Lang/Lander 2015: 457). Im Kontext des fordistischen Akkumulationsmodells war der Sozialstaat das Vehikel, durch das Massenkonsum und somit die imperiale Lebensweise im Norden breitenwirksam wurde. Infolge der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren erodierten jedoch seine politischen wie ökonomischen Grundlagen, die neoliberale Staatsdoktrin wurde durchgesetzt und mit dem Ende des Kalten Kriegs auf den ehemaligen Ostblock ausgeweitet. Allerdings bedeutete das Ende des Fordismus keineswegs das Ende der imperialen Lebensweise, im Gegenteil: neoliberale Subjektivierungsprozesse, die Ausweitung globaler Produktionsketten und das Diktat des Freihandels haben sie intensiviert. Der Zugang zu unbegrenzten, billigen Konsumgütern und billiger Arbeitskraft ist den Menschen im globalen Norden immer selbstverständlicher, und nicht nur das: Der wirtschaftliche Aufstieg einiger Schwellenländer wie Chinas und Indiens haben auch zu einer Ausdehnung dieser Lebensweise auf die dortigen Mittel- und Oberschichten geführt und so zu einer globalen Konkurrenz um die Nutzung von Ressourcen und Senken, die in sozialer und ökologischer Hinsicht krisenverschärfend wirkt (vgl. Wissen 2014) und wiederum Menschen zu Migrationsentscheidungen zwingt.

Wer hat ein Recht auf die imperiale Lebensweise?

Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Forderung nach offenen Grenzen und globaler Bewegungsfreiheit? Bedeutet sie, für alle Menschen auch aus dem globalen Süden das Recht einzufordern, an der imperialen Lebensweise teilzuhaben, notfalls durch Migration? Das ist aus zwei Gründen unmöglich: Einmal – wie oben bereits erwähnt – weil die damit verbundene ökologische Zerstörung noch ausgeweitet und intensiviert würde, die umfassende ökologische Krise aber jetzt schon die materiellen Bedingungen für die Reproduktion des Lebens auf unserem Planeten bedroht. Aber auch, weil die imperiale Lebensweise ja immer ein Außen braucht, das sie vernutzen und zerstören kann. Und wenn sie für alle gälte, könnte es ein solches Außen nicht mehr geben. Zweifellos kommen viele MigrantInnen in der Hoffnung nach Europa, an der imperialen Lebensweise teilhaben zu können.4 Das ist aufgrund der vielfältigen Mechanismen für eine ›selektive Inklusion‹ in den meisten Fällen illusorisch. Doch eigentlich sollte die Frage lauten: Haben sie, oder haben wir, hat überhaupt irgendjemand ein Recht auf diese Lebensweise, die die Lebensgrundlage anderer Menschen vernutzt und zerstört?

Buckel et al. (2014) verwenden in ihrem Buch Kämpfe um Migrationspolitik das Konzept der imperialen Lebensweise, um staatliche Grenzsicherungspolitiken als Abschottung und erfolgreiche Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten dieser Lebensweise gegenüber dem globalen Süden zu kritisieren. Doch richten auch sie den Blick nicht auf ihre alltägliche Dimension, den Massenkonsum billiger Waren und Arbeitskraft, der sie erst hegemonial macht – also auf den Anteil, den wir alle mit unseren Alltagspraktiken und Vorstellungswelten an der erzwungenen Migration von anderen haben. Hierzu gehört beispielsweise die Selbstverständlichkeit, ein Smartphone zu besitzen oder mit dem Flugzeug zu reisen, anstatt die Gewaltverhältnisse sichtbar zu machen, die in darin enthaltenen Rohstoffen eingeschrieben sind.

Ich erinnere mich noch gut an das Unbehagen, das ich als antirassistische Aktivistin in Deutschland angesichts dessen empfand, was wir in den 1990er Jahren als Wohlstandschauvinismus der deutschen Gesellschaft bezeichneten. Unbehagen deshalb, weil antirassistische Politik als Strategie gesellschaftlicher Veränderung demzufolge notgedrungen gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gerichtet zu sein schien, demokratische Transformation aber auf eine Mehrheit von Akteuren angewiesen ist. Aus heutiger Perspektive denke ich, dass es vielleicht doch Möglichkeiten gibt, dieses Dilemma offensiv aufzulösen.

Neue Vorstellungen von einem guten Leben

Eine kritische, linke Perspektive auf Flucht und Migration, welche die Solidarität gegenüber dem globalen Süden ernst nimmt, erfordert einen umfassenden Paradigmenwechsel. Die hegemoniale Vorstellung von einem guten, erfolgreichen Leben beruht auf einer ganzen Reihe problematischer Vorstellungen: Dass das Leben in der westlichen Welt gleichsam die höchste Entwicklungsstufe der menschlichen Zivilisation darstellt, von der ausgehend es nur noch Dinge zu verlieren gibt; dass Zufriedenheit unweigerlich mit Massenkonsum und der Anhäufung materieller Güter zusammenhängt; dass andere, weniger kapitalistisch strukturierte Lebensweisen, die auf anderen Weltanschauungen basieren, auf dem linearen Pfad der Geschichte notgedrungen rückständig und unterentwickelt sind; dass Technologieentwicklung nur durch multinationale Konzerne möglich ist; dass es zwangsläufig der Staat sein muss, der auf zentralisierte Weise für Wohlfahrt sorgt; und dass es – wie der Sozialismusgedanke im 20. Jahrhundert suggerierte – erst einen universell gültigen, allumfassenden Masterplan für gesellschaftlichen Wandel geben muss, bevor mit diesem Wandel begonnen werden kann.

Der Schlüssel liegt meiner Ansicht nach in der Verbindung antirassistischer Kämpfe der Migration mit solchen für ein anderes, weniger entfremdetes, weniger beschleunigtes und individualisiertes Leben. Solche Kämpfe existieren in Europa durchaus und haben in den vergangenen Jahren an Stärke gewonnen. Kämpfe wie die Postwachstumsbewegung oder der Ökofeminismus entziehen Wohlstandschauvinismus und Abstiegsängsten insofern die Grundlage, als sie anzweifeln, ob das, was in Westeuropa existiert, tatsächlich Wohlstand ist. In den Worten von Veronika Bennholdt-Thomsen:

»Wir Menschen der nördlichen Halbkugel mögen stofflich-materiell gut versorgt sein, vielfach auch eindeutig überversorgt, dennoch leiden wir Mangel. […] Die großen Probleme unserer Zeit sind Vereinzelung, Einsamkeit und Existenzangst, sowie, aus Mangel an emanzipatorischen Konzepten, der Rückgriff auf rassistische, völkische Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit.« (Bennholdt-Thomsen 2006)

Es handelt sich dabei um Bewegungen, die die herrschaftlichen Produktions-, Distributions- und Konsummuster der imperialen Lebensweise nicht nur als Kritik an staatlicher Politik und ökonomischen Eliten, sondern auch von unten und in ihrer Alltagsdimension in den Blick nehmen und dadurch die Möglichkeit eröffnen, dass auch Deutsche zu aktiven Subjekten der Transformation werden. Bewegungen, die vermitteln, dass ein Weniger im Materiellen nicht unbedingt als Entbehrung erfahren werden muss, sondern als Bereicherung erlebt werden kann – sofern man bereit ist, die eigenen Vorstellungen von Armut und Reichtum vom kapitalistischen Mainstream-Diskurs zu entkoppeln, der sie nach wie vor eindimensional in Geld und Konsumgütern fasst und damit dem Primat der Akkumulationslogik Rechnung trägt.

Es geht hier nicht darum zu leugnen, dass unsere Reproduktion und die Erfüllung unserer Bedürfnisse eine materielle Dimension haben. Sondern darum, dass diese materielle Dimension a) nicht unbedingt über Geld vermittelt sein muss – siehe beispielsweise die Debatte und Praxis rund um Commons und Commonismus (vgl. z.B. Baier et al. 2013) – und b) nicht die einzige Dimension von Armut oder Reichtum ist. Vorstellungen von Fülle, Wert und Reichtum, die mit der Qualität von Beziehungen, mit Selbstbestimmung, Selbstversorgung und der Fähigkeit zur Umverteilung, aber auch mit der Erfahrung von Lebenssinn und Handlungsmacht zu tun haben – all das wird durch die im Entwicklungsdiskurs dominierenden Armutsindikatoren unsichtbar gemacht; Lebensqualität wird auf Geld, Konsum und bestenfalls Zugang zu staatlichen Dienstleistungen reduziert (vgl. N’Dione et al. 2007). Gutes Leben, wenn es von unten und vor allem demokratisch entwickelt werden soll, wird in verschiedenen Kontexten zwangsläufig verschieden ausfallen, weshalb in den emanzipatorischen Debatten in Lateinamerika auch zunehmend von los buenos vivires im Plural die Rede ist.

Bewegungen wie Degrowth – die linke Variante (vgl. z.B. Muraca 2014) – oder Commonismus vermögen es, an Kämpfen um Postextraktivismus und Post-Development im globalen Süden anzuknüpfen und so eine Perspektive zu eröffnen, in der im Norden und im Süden gemeinsam an der Überwindung der Hegemonie der imperialen Lebensweise gearbeitet wird (vgl. Kliemann 2016). Mit diesen Ansätzen wird Verantwortung für imperiale Alltagspraktiken übernommen und an den Fluchtursachen angesetzt, die durch kompensatorischen Massenkonsum andernorts geschaffen werden, sowie auch an den Ursachen der globalen ökologischen Krise.

Ansätze hierfür finden sich in den vielfältigen Gemeinschaften und Netzwerken, die im Verlauf des ›Sommers der Migration‹, aber auch als Reaktion auf die schweren Wirtschafts- und Schuldenkrisen z.B. in Spanien und Griechenland entstanden sind und gesellschaftliche Veränderung unmittelbar erlebbar machen: Zeitbanken, peer-to-peer-Produktion, Gemeinschaftsgärten, Aktionen gegen Zwangsräumungen, kommunitäre und kostenlose Gesundheitsversorgung etc. (siehe für Griechenland Bekridaki/Broumas 2016). Geflüchtete können in den so entstehenden Communities vielleicht eine für sie sinnvolle Betätigung und Wertschätzung finden, während sie den Mühlen des Migrationsmanagements ausgeliefert sind.

Soziale Absicherung global denken

Und der durch Migration angeblich bedrohte Sozialstaat? Wer konsequent soziale Gerechtigkeit anstrebt, kann Wohlfahrt oder soziale Absicherung heute nur global denken. Auch wenn das zunächst bedrohlich klingt, hat meines Erachtens niemand qua Geburtsort das Recht auf bestimmte Sozialleistungen. Hier können bestimmte feministische Debatten um Care und Commons wegweisend sein (vgl. Vega 2015; Federici 2011). Wenn der Sozialstaat, wie er in einem kleinen Teil der Welt für ein paar Jahrzehnte real existiert hat, nicht verallgemeinerbar ist, dann ist es notwendig, die Utopie des Sozialstaats durch Alternativkonzepte zu ersetzen. Vielleicht ist eine Vergemeinschaftung von Care ein möglicher Weg, bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung und ohne gänzlich auf den Staat zu verzichten, der hierfür die Bedingungen gewährleisten müsste.

Kritische Migrationsforschung kann sich somit nicht damit begnügen, dem europäischen Grenzregime die Forderung nach offenen Grenzen entgegenzusetzen. Sie sollte, als offensive Strategie gegen Wohlstandschauvinismus, gleichzeitig die imperiale Lebensweise sowie die damit verbundenen Nord-Süd-Verhältnisse und hegemonialen Vorstellungen von einem guten Leben in den Blick nehmen und kritisieren. Eine internationalistische Perspektive auf der Höhe der Zeit müsste also Fluchtursachen klar analysieren und zugleich Ansätze zu einer global gedachten und nicht als Standortprivileg verstandenen sozialen Sicherung entwickeln.

Literatur

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  • Volume: 3
  • Issue: 1
  • Year: 2017


Miriam Lang ist Dozentin für soziale und globale Studien an der Universidad Andina Simón Bolívar in Quito, Ecuador. Sie hat an der Freien Universität Berlin Lateinamerikanistik studiert und in Soziologie promoviert. In den neunziger Jahren war sie in der antirassistischen Bewegung in Deutschland aktiv. Unter anderem hat sie das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin mit gegründet. Seit 2003 hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Lateinamerika und seit elf Jahren in Ecuador.