Editorial

Çağrı Kahveci, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek

Die vorliegende movements-Ausgabe widmet sich im Schwerpunkt den Entwicklungen rund um Flucht, Migration, Rassismus und Grenzpolitiken im Kontext des Kriegs in der Ukraine. Nachdem wir zunächst geplant hatten, schnell und mit kurzen, aktuellen Analysen zu erscheinen, haben wir uns entschieden, der differenzierteren Analyse der Verhältnisse mehr Raum und Zeit zu geben und dafür auszuhalten, late to the party zu sein. Der Krieg hält nun, während wir das Editorial schreiben, unerträglicherweise schon seit zwanzig Monaten an. In der Wissenschaft sind zwanzig Monate ein vergleichsweise kurzer Zeitraum, um Forschungsergebnisse zu generieren. Darum danken wir unseren Autor*innen in besonderer Weise für ihren engagierten Einsatz für diese movements-Ausgabe und freuen uns über die Beiträge zu Migrationspolitik, Rassismus und solidarischen Praktiken in Deutschland im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg.

Der Krieg hat globale Auswirkungen auf die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Felder – von europäischer Energiepolitik über die Getreideversorgung ärmerer Länder auf dem afrikanischen Kontinent bis hin zu neuen geopolitischen Bündnissen. All diese Entwicklungen werden vermutlich, früher oder später, Rückwirkungen auf Migrationsbewegungen haben. Diese Ausgabe beschäftigt sich erst mit einem kleinen Ausschnitt der Folgen des Krieges für Migration und Rassismus. Darum werden wir in diesem Editorial neben der Vorstellung der Beiträge auch auf Themen eingehen, deren wissenschaftliche Bearbeitung noch nicht stattgefunden hat und die die hier versammelten Perspektiven ergänzen könnten.

Juliane Karakayali und Stefanie Kron haben untersucht, mit welchen Problemen aus der Ukraine geflüchtete Drittstaatler*innen konfrontiert sind und analysieren sie mit dem Konzept des institutionellen Rassismus. Drittstaatler*innen sind von den Regelungen der Massenzustromrichtlinie ausgenommen und viele von ihnen, darunter viele internationale Studierende, kämpfen bis jetzt um einen legalen Aufenthalt. Dabei vermischen sich Probleme eines restriktiven Aufenthaltsrechts mit anti-Schwarzem Rassismus, dem die Geflüchteten in Berliner Behörden ausgesetzt sind. Die der Analyse zugrundeliegenden Interviews wurden im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts gemeinsam mit Studierenden der Evangelischen Hochschule Berlin geführt, die als Volunteers bei der Initiative CUSBU – Communities Support for BIPoC Refugees Ukraine gearbeitet haben.

Neben der Frage des Anti-Schwarzen Rassismus wäre ein weiteres zu erforschendes Thema die Geschlechterdimension der aktuellen Fluchtmigration. Achtzig Prozent der geflüchteten Erwachsenen sind Frauen (Brücker et al. 2022). Bisher bleiben Analysen dazu weitgehend aus. Die mediale Inszenierung der geflüchteten Frauen betonte deren Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit und stand im starken Gegensatz zur Dämonisierung muslimischer Männer als Bedrohung einer fortschrittlichen Geschlechterordnung während der Fluchtmigration 2015 ff. (vgl. Dietze 2016). In den ersten Wochen des Krieges dagegen waren es deutsche Männer, die zur Gefahr für ukrainische Frauen stilisiert wurden (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16.3.2022). Andere Dimensionen des Geschlechterverhältnisses scheinen nicht adressiert zu werden, z.B. die der Integration in die Arbeitsmärkte der Aufnahmeländer. Schon vor dem Krieg, war der Anteil der Frauen unter den Migrant*innen aus der Ukraine deutlich höher als der Anteil der Migranten1 (vgl. Verwimp 2022), die z.B. in Deutschland vor allem in prekären Bereichen wie der Landwirtschaft oder der Sexarbeit tätig waren (siehe Peter Birke in diesem Heft). Was bedeutet das für die jetzt Einwandernden, von denen 70 Prozent über einen Hochschulabschluss verfügen und ihre Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt? Zahlreiche Reportagen weisen darauf hin, dass auch die aktuell Flüchtenden oft Gewalt, Lohnvorenthalt und Überausbeutung in prekären Arbeitsverhältnissen ausgesetzt sind (vgl. Der Spiegel vom 18.9.2022). Auch stellt sich die Frage, welche Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen, Care-praktiken und Haushaltsstrategien entstehen, wenn Frauen mit ihren Kindern über lange Zeit getrennt von den Vätern und Ehemännern leben. Studien über ukrainische Frauen in Österreich (2013) und Italien (2015) ergaben, dass die »Flucht aus einer schwierigen Ehe« ein wichtiger Push-Faktor für die Migration von Frauen aus der Ukraine war und sehr wenige migrierte Frauen aufgrund der rigiden Geschlechtsnormen und strengen patriarchalen Strukturen in der Ukraine zurückkehren wollten (ebd.). Zu erforschen wäre, wie sich diese Verhältnisse durch die Fluchtmigration verändern. Das ist auch in Hinblick auf die Fragen der längerfristigen Migrationsstrategien relevant: Untersuchungen zeigen, dass es vielen Männern, die in Kriegen gekämpft haben, in Friedenszeiten schwerfällt, zu gewaltfreiem Verhalten überzugehen (Rehn/Johnson Sirleaf 2002, Ruger et al. 2002, nach Verwimp 2022), was die große Zahl der Frauen unter den Geflüchteten zusätzlich bewegen könnte, nicht in die Ukraine zurückzukehren.

Ein Spezifikum der Fluchtmigration stellt zudem die große Zahl der Kinder und Jugendlichen unter ihnen dar, die aufgrund der legalen Einreisemöglichkeiten nach Deutschland kommen. Die aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen treffen auf ein Schulsystem, das nach Jahrzehnten der Einsparungspolitik mit Schulplatzknappheit, Lehrer*innenmangel und Lernlücken in Folge der Corona-Politik ringt (AutorInnengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 153 ff). Auch durch diese Mangelsituation motiviert, ließ sich eine erschreckende Parallele zum Umgang mit den Kindern der Arbeitsmigrant*innen von den 1960er bis 1980er Jahren feststellen: im Horizont der Annahme einer baldigen Rückkehr der ukrainischen Geflüchteten (die von gerade erst angekommenen Eltern selbstverständlich gewünscht wurde) und befördert durch eine nationalistische ukrainische Bildungspolitik wurde viele Monate lang debattiert, inwiefern eine schulische Integration dieser Kinder und Jugendlichen in Deutschland überhaupt sinnvoll sei (vgl. Karakayali 2022). Auf die fatalen Folgen, die eben diese Politik gegenüber den Kindern der Arbeitsmigrant*innen der 1960er bis 1980er Jahre hatte, nämlich inkonsistente Beschulungsformate, für die niemand Verantwortung übernahm und die häufig auf keinerlei Schulabschluss hinausliefen, wurde in der Öffentlichkeit kaum Bezug genommen. Die Situation ukrainischer Schüler*innen in Deutschland ist prekär: Nicht einmal Plätze in den aus rassismuskritischer Perspektive problematischen Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen (vgl. Karakayali et al. 2017) stehen selbstverständlich zur Verfügung. In Berlin beispielsweise waren zeitweise bis zu 1.600 Kinder und Jugendliche ganz ohne Schulplatz (Tagesspiegel vom 1.6.2023), es etablieren sich außerschulisch Beschulungsformen, die z.T. von Stadtteilinitiativen getragen werden, Willkommensklassen werden außerhalb regulärer Schulen eingerichtet (ebd.). Auch die Beschulung in Sammelunterkünften wird inzwischen diskutiert. Hier zeigt sich eine weitere Erosion der Grundrechte Geflüchteter, indem sie systematisch vom gesetzlich garantierten Zugang zum regulären Schulbesuch ausgeschlossen werden; es bedarf dringend weiterer rassismuskritischer Forschung zu den Implikationen dieser Ersatzbeschulung.

Jens Adam und Sabine Hess präsentieren in dieser movements-Ausgabe Erkenntnisse, die sie im Rahmen einer Feldforschung im belarussischen Grenzgebiet gewinnen konnten. In ihrem Beitrag arbeiten sie heraus, wie unterschiedlich die Migration aus dem globalen Süden und der Ukraine in Polen gerahmt wird. Während die Geflüchteten aus der Ukraine mit dem Hinweis auf ihre kulturelle und geographische Nähe positiv aufgenommen wurden, wird die Migration über die belarussische Grenze – an der in den letzten Jahren viele Menschen auf ihrem Weg in die EU umgekommen sind – als Angriff auf die nationalstaatliche Souveränität interpretiert. Adam und Hess argumentieren, dass sich hier ein zweigeteiltes Migrationsregime abbildet, dass rassifizierten Migrant*innen den Grenzübertritt verwehrt und nicht-rassifizierten Migrant*innen den Grenzübertritt ermöglicht wird, eine Praxis, über die der polnische Nationalismus abgesichert wird.

Auf die zentrale Frage, die der Beitrag aufwirft, nämlich warum die massenhafte Aufnahme ukrainischer Geflüchteter trotz des weit verbreiteten antislawischen Rassismus` auf so viel gesellschaftliche Zustimmung gestoßen ist, sind noch nicht viele Antworten gefunden worden. Die Erklärung, dass die Ukrainer*innen als weiße und christliche Geflüchtete in einer rassistischen Logik als zu bevorzugende Migrant*innen gelten, ist wichtig, scheint aber nicht auszureichen, denn das sind auch Russ*innen und Moldawier*innen, die weiterhin von großzügigen Aufnahmeregeln ausgenommen sind. Deutlich wird hier vielmehr, wie flexibel der Rassismus als soziale Praxis (vgl. Hall 2000) ist, indem er Zugehörigkeitsgrenzen ziehen und verschieben kann (vgl. auch Karakayali/Kron in dieser Ausgabe). Es bräuchte eine Analyse, die diese sozialen Verschiebungspraxen rekonstruiert. Danach spielen neben antimuslimischem Rassismus auch geopolitische Gründe eine wichtige Rolle bei der unterschiedlichen bzw. bevorzugten Behandlung ukrainischer Geflüchteter im Vergleich zu denen aus dem Globalen Süden (vgl. Esposito 2022). Die Rassismusforscherin Liz Fekete bietet hier eine interessante Analyse an: aus einer eurozentristischen Perspektive wird ihr zufolge der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine medial und diskursiv von einer Frage der territorialen Integrität der Ukraine zu einem zivilisatorischen Krieg, einem Kampf der Kulturen umdefiniert (vgl. Fekete 2023). In dieser Konstruktion steht auf der einen Seite ein liberaler, demokratischer, friedlicher, vertrauensvoller Westen, auf der anderen Seite ein despotisches, autoritäres, unberechenbares asiatisches Imperium. Dies schafft, so Fekete, ein neues geopolitisches Arrangement (vgl. ebd.). Dieses framing des Krieges wird von osteuropäischen und baltischen Ländern beflissentlich vorangetrieben, um sich als Teil des Westens und als Bollwerk gegen Russland zu etablieren. Dies basiert auf einer revisionistischen Geschichtsumdeutung, in der den realsozialistischen Staaten alle historischen Lasten zugeschoben werden. Obwohl der Kommunismus im aktuellen Staatengefüge keine Rolle mehr spielt, drückt sich der Antikommunismus in einem antirussischen Ressentiment aus. Erinnerungen an den sogenannten Kalten Krieg werden laut Fekete zur impliziten und expliziten Referenz. Die revisionistische Politik Russlands verstärkt diesen Effekt. Viele osteuropäische und baltische Länder, darunter auch die Ukraine, diskriminierten ihre russischen Minderheiten. Diese Feindseligkeit gegenüber Minderheiten und die Kritik am Liberalismus richteten sich in Osteuropa auch gegen Migrant*inen und Geflüchtete aus dem Globalen Süden, schon vor dem Angriffskrieg. Die konservativen Parteien Westeuropas zögerten nicht, so Fekete, mit den rechten holocaust-leugnenden und ethno-nationalistische Verherrlichung betreibenden Parteien der osteuropäischen und baltischen Länder zusammenzuarbeiten. Mit diesem Krieg hat die Bedeutung der osteuropäischen Region zugenommen. Die Regierungen in Osteuropa haben in diesem Diskurs die Aufgabe übernommen, die Grenzen des weißen, christlichen Europas gegen vermeintliche Bedrohungen aus Asien, dem Nahen Osten und dem globalen Süden zu schützen.

Der Beitrag von Theresa Wagner und Helen Schwenken richtet den Blick auf die Folgen der Fluchtmigration aus der Ukraine in Deutschland. Die Autorinnen haben Interviews mit Menschen geführt, die sich in der Unterbringung und Unterstützung von Geflüchteten engagieren. Spannend ist, dass viele der Befragten bereits im sogenannten Sommer der Migration 2015 aktiv gewesen sind. Sie untersuchen die solidarischen Praktiken der Unterstützung Geflüchteter aus der Ukraine und setzen sie zu denen ab 2015 ins Verhältnis. Hier werden Kontinuitätslinien sichtbar, indem viele bereits 2015 aufgebaute Strukturen 2022 wieder aktiviert wurden, aber auch Brüche, die die für den Beitrag interviewten Unterstützer*innen vor allem daran festmachen, dass die Massenzustromrichtlinie zu rassistischen Trennungen in der Geflüchteten-Unterstützung führt.

Nicht realisieren liess sich ein Gespräch mit Aktivist*innen, die in den 1990er Jahren migrationspolitische Entscheidungen und Migrationsbewegungen rund um den Bosnienkrieg begleitet haben. Damals nahm Deutschland 350.000 Kriegsflüchtlinge auf, die im prekären Status der Duldung festgehalten wurden (Europäisches Forum für Migrationsstudien 1995). Ein Sechstel dieser Menschen konnte nur nach Deutschland kommen, weil Verwandte, Bekannte und engagierte Menschen eine Verpflichtungserklärung nach §84 Ausländergesetz unterschrieben und damit garantierten, alle mit dem Aufenthalt verbundenen Kosten zu tragen (Oltmer 2023). Vom Ende des Krieges 1995 bis 2002 kehrten bis auf wenige tausend Menschen alle Geflüchteten zurück – teils, weil sie abgeschoben wurden, teils, weil sie mit dem prekären Aufenthaltsstatus der Duldung keine Perspektive in Deutschland sahen. Deutschland verfolgte dabei im Verhältnis zu allen weiteren Aufnahmestaaten die restriktivste Rückkehrpolitik, 1999 kamen 80 Prozent aller Remigrant*innen in Bosnien-Herzegowina aus Deutschland (ebd.).

Die sogenannte Massenzustromrichtlinie (Carrera et al. 2023; Espositi 2022), die die Fluchtmigration aus der Ukraine zentral steuert und deren Anwendung in mehreren Artikeln in diesem Heft unter rassismuskritischer Perspektive diskutiert wird (u.a. Adam/Hess; Karakayali/Kron), ist in Folge der (ex-)jugoslawischen Kriege entworfen worden. Der Ausbruch des Bosnienkrieges jährte sich im Mai 2022 zum 30. Mal. Dieser Jahrestag fand kaum Beachtung, trotz aller Parallelen und Bezüge zwischen den damaligen und den aktuellen migrationspolitischen Entscheidungen hinsichtlich des Umgangs mit Kriegsflüchtlingen (Europäisches Forum für Migrationsstudien 1995). Im Gegenteil, diese Kriege scheinen vergessen, anders lässt sich nicht erklären, warum Anfang 2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine von vielen Politiker*innen als erster Krieg auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet wurde. Uns hätte an einem Gespräch mit damals Aktiven interessiert, wie genau die Kämpfe gegen und die Debatten um die Rückkehrpolitik ausgesehen haben – denn ein ähnliches Szenario befürchten wir nach Ende des Krieges in der Ukraine. Ebenfalls hätten wir gern in diesem nicht stattgefundenen Gespräch über die Kontinuitäten und Unterschiede zivilgesellschaftlicher Solidarität vom Bosnienkrieg über die Geflüchtetenproteste 2012-2014, die Unterstützung Geflüchteter 2015 bis hin in die Gegenwart des Ukrainekriegs diskutiert.

Auch der Beitrag von Loukia Kotronaki, Nikos Serdedakis und Samy Alexandridis beschäftigt sich mit solidarischen Praktiken, allerdings im griechischen Kontext. Ihrem Beitrag liegt eine innovative Methodologie zugrunde, nämlich die Auswertung von Posts auf der Facebook-Seite des »Panhellenic Networking of Anti-Racist and Immigration Associations«. Die Analyse zeigt, dass die Art der sozialen Praktiken, die dort diskutiert werden – von humanitärer Hilfe über Protesten an der Grenze bis hin zu internationalen Kampagnen – stark variieren, abhängig von gesellschaftlichen Diskursen und institutionellen Verfahrensweisen der (griechischen und europäischen) Grenz- und Geflüchtetenpolitik.

In unserer Rubrik »Forschungswerkstatt« geht es um den gleakten Olaf-Bericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), der vom Nachrichtenmagazin Spiegel und der NGO Frag den Staat veröffentlicht wurde. Der von Bernd Kasparek detailliert analysierte Bericht enthüllt, wie Frontex die europäischen Behörden in die Irre führt und belügt, Verstöße absichtlich vertuscht, Vorfälle herunterspielt, dem Grundrechtebeauftagten den Zugang zu Material verweigert und Mitarbeiter einschüchtert. Laut Kasparek sollte dieser Bericht die Europäische Kommission dazu veranlassen, die Mitgliedsstaaten zu zwingen, Grenzschutzverfahren einzuführen.

In der Rubrik »Interventionen« wirft Christian Jakob einen Blick auf die Aufnahmesituation der Geflüchteten aus der Ukraine in diversen Regionen Deutschlands, die sich in Größe, soziodemografischer Struktur, geografischer Lage und Migrationserfahrung voneinander stark unterscheiden. Anhand von Vignetten zeigt er, wie verschiedene Akteure – z.B. Stadtverwaltungen, Aktivist*innen, rechte Bürgerinitiativen – ihre Einstellungen und Praxen mit Diskursen und Empfindungen wie Sicherheit, Angst, Identität usw. begründen, und er setzt diese Erfahrungen mit dem Sommer der Migration 2015 in Relation. Abschließend zeichnet er, gestützt auf Aussagen der sozial Engagierten in der »Flüchtlingsarbeit«, ein realistisches Bild der gesellschaftlichen Gelingensbedingungen einer konkreten Solidarität.

Marina Hartmann und Bahar Oghalai loten, ebenfalls in der Rubrik »Interventionen«, aus, inwiefern der Ansatz der Diasporaforschung zur Analyse von aktuellen Formen der Fluchtmigration fruchtbar sein kann. Sie sehen darin eine Möglichkeit, insbesondere die Situation und Aktivitäten politischer Geflüchteter angemessen zu untersuchen. Denn die Aktivitäten bleiben einerseits auf das Herkunftsland bezogen, sind aber andererseits auch relevant für die Situation im Exil, indem beispielsweise Formen und Themen des Aktivismus aus dem Herkunftsland ins Exilland übertragen werden. Die beiden Autorinnen setzen sich in diesem Zusammenhang auch mit der Forschung zu transnationaler Migration auseinander, die ihrer Meinung nach aber eben diese politischen Praktiken nicht ausreichend berücksichtigt.

In der Rubrik Interviews findet sich ein Gespräch zwischen Violeta Balog, Yücel Meheroglu, Céline Pellicer, Lisa Riedner und Katharina Schwaiger über die von Antiziganismus geprägte Unterbringung Geflüchteter aus der Ukraine in München. Hier zeigt sich, analog zum Beitrag von Juliane Karakayali und Stefanie Kron, welche rassistischen Unterschiede in der Aufnahmesituation der Geflüchteten aus der Ukraine gemacht werden. Ebenso zeigt sich in dem Gespräch, wie schnell inzwischen antirassistische/migrantische Initiativen – in diesem Fall Amoro Foro, der bayrische Landesverband deutscher Sinti und Roma sowie die Meldestelle Antiziganismus – in der Lage sind, in einer akuten Fluchtsituation unterstützend aktiv zu werden.

Stefan Liebscher hat mit dem Sozialgeographen Christopher Darling ein Interview über sein Buch »Systems of suffering: dispersal and the denial of Asylum« (2022, Pluto Books) geführt. In dem Gespräch geht es um Darlings Forschung darüber, wie sich die Verteilung und Unterbringung von Geflüchteten und Asylsuchenden als eine Form der »slow violence« verstehen lässt. Er schlägt einen Systemwandel unter Bezug auf Praktiken der »collective« care vor.

Neu ist in dieser Ausgabe die Rubrik Rezensionen, die es bisher in movements nicht gegeben hat. Während der Lockdowns in der Corona Pandemie ist offensichtlich viel gelesen worden und wir freuen uns, einige spannende Bücher vorstellen zu können.

Peter Birke nimmt eine Einschätzung des Policy Papers »›Zeitenwende‹ bei der Arbeitsmarktintegration? Teilhabe und Prekarität von Ukrainerinnen und Ukrainern am deutschen Arbeitsmarkt« des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration vor. Dabei ordnet er die dortigen Befunde in einer Perspektive der kritischen Migrationsforschung ein.

Leon Schlüter stellt uns das Buch »Against Borders. The Case for Abolition« (2022) von Gracie Mae Bradley und Luke de Noronha vor, ein kurzes aber mutiges und engagiertes Buch, über Grenzen hinaus zu denken. Schlüter ordnet das Buch in den Kanon der kritischen Grenzforschung und des Aktivismus ein. Es zeigt anhand praktischer Beispiele, dass Grenzen nicht mehr das sind, was am »Rand des Territoriums« geschieht, sondern in das Alltagsgefüge unseres Lebens eingebettet sind und unser tägliches Leben durchdringen, indem sie interne Hierarchien schaffen, einigen Rechte einräumen und sie anderen verweigern.

Das Buch »Integrationsregime in der Arbeitswelt« von Marika Pierdicca wird von Stefania Animento rezensiert. In diesem Buch wird, auf der Grundlage von ethnographischen Untersuchungen in der migrantischen Arbeitswelt Norditaliens, das Integrationsparameter kritisch analysiert und zurückgewiesen. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass es sich bei »Integration« nicht um einen gesellschaftlichen Prozess handelt, sondern das sich hinter dem Begriff vielmehr ein Scheindiskurs sowie ein widersprüchliches Subjektivierungsregime verbergen.

»Etablierte Provisorien. Leipzig und der lange Sommer der Migration« von Philipp Schäfer wird von Sylvana Jahre rezensiert. Schäfer geht in seiner ethnologischen Studie auf die Unterbringung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften ein. Aus der Ambivalenz des Unterbringungsregimes ergibt sich ein komplexes Gefüge, dessen zeitliche, räumliche und moralische Konstitution durch eine durchaus hierarchische Beziehungsdynamik zwischen verschiedenen Akteur*innen, vor allem durch »listige« Taktiken von Geflüchteten, Sozialarbeiter*innen, Forscher*innen, Stadtverwaltung etc. immer wieder konflikthaft verhandelt wird. Jahre merkt an, dass das Forschungsfeld zur räumlichen Unterbringung von Geflüchteten im Zusammenspiel mit neuen Fragestellungen wie der Care-Ethik oder dem Postkolonialismus neues Wissen hervorbringen kann.

Schließlich wird »Akkumulation, Überausbeutung, Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex« von Janina Puder von Mareike Biesel rezensiert. Biesel zeigt, wie Puder mit einer weltsystem- und dependenztheoretischen Perspektive, die zwischen Zentren und Peripherie unterscheidet und die vorherrschenden Formen der Ausbeutung und Überausbeutung auf eine globale Arbeitsteilung und Hierarchisierung verschiedener Gruppen von Lohnarbeitern innerhalb von Nationalstaaten zurückführt, die Überausbeutung von Palmöl-Wanderarbeitern in Malaysia untersucht.

Während wir an der Ausgabe gearbeitet haben, sind viele neue Konflikte und Bewegungen entstanden, die uns derzeit viel beschäftigen. Dazu gehört die feministische Revolution im Iran, die mit dem Tod Jîna Mahsā Amīnīs in Gewahrsam der Sittenpolizei im September 2022 begann. Das Erdbeben im Februar 2023 und die Präsidentschaftswahl im Mai 2023 in der Türkei haben uns bewegt. Die aktuellen, rassistisch aufgeladenen Debatten um eine restriktive EU-Migrationspolitik und die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl erfolgen gerade jetzt während wir an der Endproduktion des Heftes arbeiten, ebenso wie die militärische Antwort Israels auf den Terroranschlag der Hamas auf israelische Zivilist*innen. Viele dieser Ereignisse werden wir in der nächsten movements-Ausgabe aufgreifen.

Wir wünschen eine informative und inspirierende Lektüre,

Die Redaktion

Literatur

AutorInnengruppe Bildungsberichterstattung 2022: Bildung in Deutschland 2022. Wbv Publikation

Brücker, Herbert; Ette, Andreas; Grabka, Markus; Kosyakova, Yuliya; Niehues, Wenke; Rother, Nina; Spieß, C. Katharina; Zinn, Sabine; Bujard, Martin; Cardozo, Adriana; Décieux, Jean; Maddox, Amrei; Milewski, Nadja; Naderi, Robert; Sauer, Lenore; Schmitz, Sophia; Schwanhäuser, Silvia; Siegert, Manuel; Tanis, Kerstin (Hrsg.) (2022): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Flucht, Ankunft und Leben // IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP Befragung (2023): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland, erste Ergebnisse

Carrera, S., Ineli-Ciger, M., Vosyliute, L., & Brumat, L. (2023). The EU grants temporary protection for people fleeing war in Ukraine: Time to rethink unequal solidarity in EU asylum policy, in: Carrera, S., & Ineli-Ciger, M. (Eds.): EU responses to the large-scale refugee displacement from Ukraine: an analysis on the temporary protection directive and its implications for the future EU asylum policy. EUI. S. 2-58

Der Spiegel (vom 18.9.2022): Wie Ukrainerinnen in Europa ausgebeutet werden.

Der Spiegel (vom 4.4.2022): Gefangen im Krieg. URL: spiegel.de.

Dietze, Gabi (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob_Narrative und die Ereignisse der Kölner Silvesternacht. Movements, Vol.2/Issue 1,

Esposito Addie (2022). The Limitations of Humanity: Differential Refugee Treatment in the EU, in: Harvard International Review. 14.9.2022 hir.harvard.edu

Europäisches Forum für Migrationsstudien (1995): Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Zielland. Bamberg: europäisches forum für migrationsstudien e.V., europäisches forum für migrationsstudien e.V.

European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) 2023: Fleeing Ukraine: Displaced people’s experiences in the EU. URL: fra.europa.eu (letzter Zugriff 13.09.23).

Fekete, Liz. (2023): Civilisational racism, ethnonationalism and the clash of imperialisms in Ukraine. Race & Class, February 2023.

FRA (2023): Fleeing Ukraine: Displaced people’s experiences in the EU. URL: fra.europa.eu.

Hall, Stuart (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. Hambur: Argument. S. 1-12.

Jonna Rock, Zeynep Yanaşmayan, Ramona Rischke, Agnès Bouché und Polina Semyonova (2022): Geflüchtete Frauen aus der Ukraine. Zwischen Ankommen und Rückkehr, DeZIMinutes 9.

Karakayali, Juliane (2022): Die Beschulung der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine. URL: heimatkunde.boell.de.

Karakayali, Juliane / zur Nieden, Birgit / Kahveci, Cagri / Gross, Sophie / Heller, Mareike / Güleryüz, Tutku (2017): Die Beschulung neu zugewanderter und geflüchteter Kinder in Berlin. Praxis und Herausforderungen. Berliner Institut für empirische Integrations und Migrationsforschung: Berlin.

Oltmer, Jochen (2023): »Geduldet« und »Rückgeführt«. Schutzsuchende aus den postjugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre in Deutschland. In: Bundeszentrale für Politische Bildung.

Süddeutsche Zeitung (vom 16.3.2022): Stadt und Polizei warnen vor unseriösen Angeboten.

Tagessspiegel (vom 1.6.2023): Unterricht für Geflüchtete. In Berlin-Schöneberg starten drei neue Willkommensklassen.

Verwimp, Philip (2022): Forced displacement, gender identity norms, and marital stability in the wake of the war in Ukraine. URL: cepr.org.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Kahveci, Çağrı (Dr. phil.) ist Sozialwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte sind kritische Migrations-, Rassismus- und Antirassismusforschung. Derzeit arbeitet er für einen Migrantendachverband mit dem Schwerpunkt Partizipation in Bildung und Schule.

Juliane Karakayali is a professor for sociology at the Protestant University of Applied Sciences Berlin (ehb). Her fields of interest are migration, racism, institutional racism, antisemititsm, education, feminist and queer-theory. Her current reserach project is on conflicts around racism in schools. She is a member of the board of Rat für Migration.

Bernd Kasparek vertritt die Professur für Migration in globaler Perspektive am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Co-Leiter der Abteilung »Soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile« am Berliner Institut für Migrationsforschung. Seine Schwerpunkte sind programmable and computational infrastructures, Europäisierung sowie Migrations- und Grenzregimeforschung. 2021 erschien seine Monographie »Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex« bei transcript. Er ist Mitglied des Vorstands des Rates für Migration.