»Hier sehe ich ein Muster«

Ein Interview zu antiziganistischen Zuständen in Deutschland

Violeta Balog, Yücel Meheroğlu, Céline Pellicer, Lisa Riedner, Katharina Schwaiger

Am Rande der Tagung »Antiziganismus - Aktuelle Dynamiken in Deutschland«1, die am 18.11.2022 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München stattfand, trafen wir uns mit Violeta Balog, Yücel Meheroğlu und Katharina Schwaiger zu einem Gespräch über ihre Arbeit in Beratungs- und Meldestellen, die mit antiziganistischen Zuständen in Deutschland befasst sind. Sie berichteten von antiziganistischen Vorfällen gegenüber geflüchteten Menschen aus der Ukraine, erklärten ihre konzeptuellen Zugänge und machten auf Erfolge und Forderungen der Bürgerrechtsbewegung der Sinti:zze und Rom:nja aufmerksam.

Céline: Violeta, Du bist seit mehr als 10 Jahren bei Amaro Foro aktiv, einem Interessensverband von Rom:nja und Nicht-Rom:nja in Berlin. Yücel, mit der neuen Meldestelle Antiziganismus (MIA) hast Du letztes Jahr den Bericht »Zur Lage aus der Ukraine geflüchteter Roma« veröffentlicht. Katharina, Du arbeitest als Sozialarbeiterin in einer Beratungsstelle für Sinti:zze und Rom:nja in München. Antiziganistische Vorfälle in München haben in letzter Zeit bundesweit für Wellen gesorgt.

Könnt ihr erst kurz Eure Arbeit vorstellen und dann berichten, wie Euch Antiziganismus gegenüber geflüchteten Romn:ja und als solche gelesenen Personen in Deutschland begegnet ist?

Violeta: Wir haben Amaro Foro 2010 in Berlin gegründet. Angefangen hat es so 2007 im Zuge der EU-Osterweiterung mit Rumänien und Bulgarien. Da kamen dann viele Menschen nach Deutschland und überwiegend auch nach Berlin. Es war unglaublich schwer für die Menschen, selbst als EU-Bürger:innen, von ihren Rechten Gebrauch zu machen und überhaupt an die sozialen Zugänge ranzukommen. Viele Menschen wurden direkt in die Obdachlosigkeit gedrängt. Es gab von Anfang an schon diese Ausschlüsse. Dementsprechend sind wir tätig geworden und haben diese Menschen beraten. Wir haben sie unterstützt, an Leistungen zu kommen und untergebracht zu werden. Im Zuge der Beratungsarbeit sind immer mehr Diskriminierungsmechanismen sichtbar geworden. Deshalb haben wir 2014 die Dokumentationsarbeit entwickelt. Wir sind damals an die Politik und die Verwaltung herangetreten und haben von der Problematik berichtet, wurden aber kaum ernst genommen. Es wurde uns sogar vorgeworfen, wir nähmen alles zu emotional und es würde uns an belegbaren Daten fehlen. Es gäbe keine Statistik. Aus diesem Grund haben wir angefangen, solche Fälle systematisch zu erfassen und auszuwerten.

Seitdem veröffentlichen wir jährlich eine Auswertung mit Fallbeispielen, um einen Ein- und Überblick zu den Diskriminierungsmechanismen, die sehr unterschiedlich sind, zu schaffen. Die Fälle, die uns erreichen, erstrecken sich über alle Lebensbereiche, die man sich vorstellen kann. Durch unsere Beratungstätigkeit sind gerade die Fälle im Kontakt mit Behörden hoch, weil die Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, auch meist einwilligen, dass diese Vorfälle gemeldet werden. Wir haben uns auch mit anderen Träger:innen und Vereinen vernetzt, von denen uns auch Meldungen über solche Vorfälle erreichen, aber auch Vorfälle in anderen Lebensbereichen, wie Bildung, medizinische Versorgung, Alltag und öffentlicher Raum.

Die Fallzahl ist eine Dunkelziffer, man kann nicht sagen, dass sie repräsentativ ist. Die Vorfälle auf institutioneller Ebene werden immer subtiler. Unsere Dokumentationsarbeit kann insofern auch von Nachteil sein, dass die Leute, die in den Institutionen arbeiten, sich das anschauen und daraus schließen, wie sie noch subtiler vorgehen können. Das erschwert es auch für die Sozialberater:innen, den Antiziganismus besser zu erkennen.

Die letzten Monate waren wir mit der Situation von Geflüchteten aus der Ukraine beschäftigt. Darauf kommen wir ja gleich noch zu sprechen.

Yücel: Wir von der Meldestelle Antiziganismus entwickeln gerade ein bundesweites, zivilgesellschaftlich aufgestelltes, systematisches Monitoring von antiziganistischen Vorfällen in Deutschland. Darüber hinaus bieten wir eine Verweisberatung an. Wir vermitteln je nach Bedarf an Vereine bzw. Antidiskriminierungsbüros, die die Betroffenen ausführlicher beraten bzw. unterstützen werden. Die Zielgruppe von MIA ist eine sehr heterogene Gruppe, sie beinhaltet von Diskriminierung betroffene Sinti und Roma aber auch Menschen, die durch stereotype Zuschreibungen als solche gelesen werden, ohne diesen Gruppen anzugehören, wie Jenische2. Wir möchten das Dunkelfeld erhellen, weil wir wissen, dass viele Vorfälle aus diversen Gründen gar nicht erst gemeldet werden.

Zusätzlich bieten wir auch Sensibilisierungs-Workshops und Empowerment Angebote für die Community, aber auch für staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen an. Wir wollen zum Thema Antiziganismus sensibilisieren, insbesondere politische Entscheidungsträger, Verwaltung und Medien.

MIA startete Anfang 2022. Das war ein besonderer Zeitpunkt, weil bald darauf der Krieg in der Ukraine begonnen hat. Viele ukrainische Geflüchtete sind nach Deutschland gekommen und dadurch ist ein neuer Kontext entstanden. Wir haben auch einen eigenen Bericht zur Situation geflüchteter Roma aus der Ukraine veröffentlicht. Unsere Meldestelle in Sachsen hat darüber hinaus einen Bericht speziell zur Situation geflüchteter Roma in Sachsen veröffentlicht. Beide Berichte sind online abrufbar.

Katharina: Im Kontext der Beratungsarbeit aber auch im Bereich der Seminartätigkeit ist aktuell das Thema Antiziganismus gegenüber geflüchteter Rom:nja aus der Ukraine sehr präsent. Hier ist die Nachfrage sehr groß. Den Fokus auf den Antiziganismus zu lenken, im Sinne konstruktiver Kritik, ist hier sehr wichtig. Zudem geht es natürlich auch darum einen diskriminierungssensiblen Ansatz innerhalb der Pädagogik zu vermitteln - der auch in andere Bereiche übertragbar ist.

Lisa: Der Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine hat viele Menschen gezwungen, zu fliehen. In Deutschland kam es, ähnlich wie schon im Jahr 2015, zu einer großen Welle der Solidarität mit den Geflüchteten. Trotzdem müssen sich viele Menschen aus der Ukraine mit dem deutschen Asylsystem herumschlagen. Das bedeutet Sammelunterkünfte, mühsame bürokratische Prozesse, staatlich verordnete Armut und Unsicherheit. Ihr habt in den letzten Monaten immer wieder auf antiziganistische Vorfälle gegenüber Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, aufmerksam gemacht. Könnt ihr uns davon berichten?

Yücel: Wir hatten im Kontext der Flucht aus der Ukraine sehr viele Meldungen von Vorfällen. Nicht nur von Roma, sondern auch von Sinti, die leider oftmals vergessen werden.

Den Flüchtlingen wurde mit verschiedenen Argumenten die Legitimität ihrer Präsenz angezweifelt: »Es sind keine Flüchtlinge, es sind Roma«, »Sie haben keine legitimen Gründe«, »Es sind unechte Flüchtlinge«. Es gab Fälle, wo vorgelegte Pässe direkt an das Landeskriminalamt zur Prüfung weitergegeben wurden, was ein Ausdruck dieser Zweifel und Unterstellungen ist. Es fand eindeutig eine Kategorisierung von erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen statt. Diese Zuschreibungen gingen mit ethnisierenden, kulturalisierenden Wahrnehmungsmustern Hand in Hand: »Kinder sind auffällig, sie verhalten sich auffällig« oder »Sie sind einfach nicht zu integrieren«, »Wohnungen, die gegeben werden, müssen grundsaniert werden«, also das ganze Spektrum an Unterstellungen, die man häufig hört.

Ein weiterer Punkt ist die Segregation. Die Geflüchteten werden beispielsweise in ›Ghostcities‹ untergebracht, Orte mit fehlender Infrastruktur und schlechter öffentlicher Verkehrsanbindung.

Diese antiziganistischen Vorfälle wiederholen sich in den Bundesländern wie ein Muster. Ich kann aus meiner Arbeit sagen, dass es immer wieder bestimmte Diskurse, Narrative und Betroffenen-Erlebnisse gibt, die in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und in anderen Bundesländern die gleichen sind. Das kann kein Zufall sein. Hier sehe ich ein Muster. Die Kommunen inszenieren sich zum Beispiel als Hilflose. In Thüringen war es besonders auffällig. Hier hat sich eine gewisse Politikerin an den Ministerpräsidenten gewandt, mit den Worten: »Wir schaffen das nicht, wenn jetzt diese Großfamilien kommen, dann schaffen sie neue Problemlagen«. Daran anknüpfend gab es dann Bürgerversammlungen von Parteien, die fernab jeglicher demokratischer Regeln agieren.

Hier sieht man auch die Früchte der antiziganistischen Berichterstattung der letzten Jahre, in denen solche Codewörter wie ›Großfamilien‹ von Politikern demokratischer Parteien benutzt werden, um gegen Roma Geflüchtete zu hetzen und bei der Mehrheitsbevölkerung gewisse Assoziationen hervorzurufen.

Die Problematisierungsdiskurse sind sehr ähnlich zu denen, die im Zuge der EU-Binnenmigration in den Kommunen entstanden sind. Auch dabei ging es um ›erwünschte‹ und ›unerwünschte‹ Personengruppen. Beim Antiziganismus um die EU-Binnenmigration und den antiziganistischen Vorfällen um die Flucht aus der Ukraine handelt es sich um Kontinuitäten, die sich in verschiedenen Kontexten zeigen. Der Krieg, die Ankunft der Geflüchteten und dann die Stimmungsmache gegen diese Flüchtlinge.

Lisa: Wie ist die Situation in München?

Katharina: Was wir Anfang letzten Jahres, bis heute, in Bayern und München erlebt haben, im Kontext der Flucht aus der Ukraine und den geflüchteten Ukrainer:innen mit Rom:nja-Hintergrund, hat für mich ein Ausmaß an Antiziganismus gezeigt, das extrem schockierend ist. Antiziganismus gibt es schon sehr, sehr lange und er ist für uns in der Arbeit Alltag und leider für die Familien, mit denen wir arbeiten, eben auch. Aber die Situation im Kontext Flucht aus der Ukraine war nochmal in einer schockierenden Art und Weise sehr eindrücklich. Unter den Geflüchteten waren auch Rom:nja, die in München zum Teil auf massive und offene Ablehnung gestoßen sind. Es gab Ehrenamtliche, die sich geweigert haben, mit Rom:nja Kindern zu arbeiten, nicht nur in München, auch bayernweit. Es gab in den Unterkünften andere Geflüchtete, die sich offen geweigert haben, mit Rom:nja gemeinsam untergebracht zu werden. Es gab Dolmetscher:innen, die sich geweigert haben, für Rom:nja zu dolmetschen. Es gab in Bayern mehrere Landkreise, die offen geäußert haben, sie nehmen gerne Geflüchtete aus der Ukraine auf, aber sie nehmen keine Rom:nja auf. Das war die eine Dimension.

Dazu gab es, wie Yücel gerade schon beschrieben hat, Diskurse und Gerüchte im Helfersystem, wo sehr schnell schon unterschieden wurde, wer sind die ›echten‹ Geflüchteten, die ja auch ein Recht auf Schutz und Unterstützung haben und wer sind die ›nicht echten‹ Geflüchteten, die vielleicht nur hierherkommen, um Sozialleistungen zu erhalten. Ihnen wurde dann auch aberkannt, berechtigt hier Schutz vor dem Angriffskrieg zu suchen. Und in der Folge haben wir gesehen, dass die geflüchteten Rom:nja, oder die Menschen, die von außen als Rom:nja gelabelt wurden, in separierten oder segregierten Unterkünften untergebracht wurden. Es waren entweder eigene Unterkünfte oder segregierte Abteile in Hallen. Am massivsten war das von April bis Anfang Mai 2022 in der Messe in München, wo bis zu 2500 Rom:ja oder als solche gelabelte Personen, mehrere Wochen untergebracht waren, geschätzt dreiviertel davon waren Kinder.

Was wir in der Messe auch ganz massiv gesehen haben, war, dass die Zugänge zu Sozialberatung, die Zugänge zu Sozialleistungen, die für andere Geflüchtete ganz selbstverständlich und mit einer großen Hilfsbereitschaft – was ja gut ist – zur Verfügung standen, dass die nicht mehr in diesem Maße für die geflüchteten Rom:nja zur Verfügung standen. Es wurden zum Beispiel Spielgeräte, die anderen Kindern zur Verfügung standen, den Rom:nja-Kindern, oder denen, die so wahrgenommen wurden, nicht mehr zur Verfügung gestellt. Die Sachen wurden mit der Aussage weggenommen: »Die Kinder sind zu wild«. Auch die Kleiderausgabe wurde irgendwann eingestellt. Für die betroffenen Familien war das Schwierigste, dass der Zugang und Abruf der Sozialleistungen nicht einfach möglich war und vor allem – das haben uns viele Familien berichtet – haben sie für ihre Kinder keine Sozialleistungen mehr bekommen.

In den letzten Wochen, bevor die Messe aufgelöst wurde, kam es auch zu der sehr problematischen Situation, dass viele Menschen vor dem Amt, wo sie diese Sozialleistungen abholen oder abrufen wollten, übernachten mussten. Sie mussten drei bis vier Nächte vor diesem Amt schlafen. Es ist vorgekommen, dass sie dann ohne Leistungen, oder nur mit Leistungen für die Erwachsenen, zurückgingen. Die Folge war, dass wir von einigen Familien gehört haben, dass sie in die Ukraine zurückgereist sind.

Céline: Das ist wirklich sehr erschreckend. Was wurde unternommen?

Katharina: Es war nicht so, dass wir uns hier in München nicht bemüht hätten. Es gab Einzelpersonen, auch aus der Verwaltung, auch von freien Trägern, auch aus Helferkreisen, die sehr schockiert waren und sehr betroffen von der Situation. Andererseits denke ich, dass wir dieser antiziganistischen Dynamik sehr wenig effektiv entgegensetzen konnten und alle hilflos zugeschaut haben. Die Stadt München erklärte an verschiedenen Stellen, dass eine Ungleichbehandlung Geflüchteter von der Stadt nicht gewollt ist. Es wurde ein sehr umfangreiches Seminarprogramm aufgelegt, um Mitarbeitende zu sensibilisieren. Das alles war aus meiner Sicht nicht effektiv genug. Wir haben an der Situation, de facto, nicht sehr viel verändert.

Lisa: Vielen Dank Euch für diese Einblicke, wie sich der Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze aktuell in Deutschland im Kontext der Flucht aus der Ukraine ausdrückt. Ich würde gerne noch allgemeiner fragen, inwiefern Eurer Erfahrung nach die Situation von Rom:nja, Sinti:zze und als solchen gelesenen Personen speziell ist und was sie aber auch mit anderen rassifizierten und migrantisierten Gruppen verbindet? 

Violeta: Die Situation von Rom:nja und Sinti:zze und als solche gelesene Menschen ist in dem Sinne speziell, dass sich der Antiziganismus, das heißt die Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft, anders auswirkt als beispielsweise bei Angehörigen anderer rassifizierter Gruppen. In der Mehrheitsgesellschaft ist noch kein großes Bewusstsein für die Problematik des Antiziganismus da. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Benutzung der Fremdbezeichnung, des Z-Wortes, die immer wieder relativierend gerechtfertigt wird.

Katharina: Der Antiziganismus ist einfach auch in der breiten Gesellschaft akzeptiert. Und dadurch, dass Leute auch in Arbeitskreisen, in Arbeitskontexten oder auf offener Straße nicht einschreiten, sich nicht solidarisieren und auch nicht widersprechen, wird er eben auch mitgetragen.

Céline: Den Antiziganismus der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und Mitarbeitenden von Behörden erlebt ihr ja auch regelmäßig in euren Sensibilisierungsveranstaltungen.

Katharina: Ja, unbedingt. Da stechen zwei Extreme besonders heraus. Von einigen Fachkräften gibt es die Haltung: »Diskriminierung, Antiziganismus, das ist für uns nicht relevant, denn wir sind professionelle Fachkräfte. Wir diskriminieren nie und niemanden.« Da ist eine Abwehrhaltung, oder Verweigerung, sich mit dem Thema überhaupt auseinanderzusetzen. In den Seminaren gibt es aber auch immer wieder Rückmeldungen von einzelnen Personen, die dann wirklich sagen, sie sind jetzt sehr betroffen, weil sie selbst im Seminar gemerkt haben, sie haben sich an antiziganistischen Diskursen beteiligt, oder haben sich eben nicht positioniert und haben nicht widersprochen. Sie hatten eigentlich ein anderes Selbstbild. Ich hatte mal einen Teilnehmer, der sehr schockiert war, weil er meinte, er sei eigentlich selbst seit Jahren sehr aktiv in der Anti-Rassismus-Bewegung und merke aber jetzt, dass er im Bereich Antiziganismus völlig blind war und das auch über Monate mitgetragen hätte.

Yücel: Wir reden hier auch von deutschen Sinti und Roma, die seit 600 Jahren als Minderheit in Deutschland leben, deutsche Namen haben, und die immer noch keine gleichberechtigten Staatsbürger_innen sind. Deutsche Sinti und Roma wurden erst 1995 als nationale Minderheit anerkannt. Das ist der Unterschied zu anderen rassifizierten, migrantisierten Menschen, die eine kürzere Geschichte in Deutschland haben, zum Beispiel der Gruppe der Gastarbeiter. Es gibt natürlich auch Ähnlichkeiten in der Diskriminierung von Sinti und Roma mit anderen rassifizierten Gruppen, zum Beispiel bei der Wahrscheinlichkeit von Racial Profiling betroffen zu sein oder in Institutionen benachteiligt zu werden.

Katharina: Ich würde gerne noch ein konkretes Beispiel im Kontext der Flucht aus der Ukraine bringen. Es gab in der Messe in München einen kurzen Zeitraum, wo tatsächlich ein Bereich sichtlich markiert war und abgegrenzt, zum Teil auch mit so halbhohen Bauzäunen, der uns als Bereich für die geflüchteten Rom:nja präsentiert wurde. Im Nachgang habe ich mir die Frage gestellt, würde das 2022 in München mit irgendeiner anderen Gruppe funktionieren? Da sind Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, Sicherheitspersonal und Mitarbeiter:innen der Stadt München vor Ort gewesen und es wurde nicht problematisiert, dass es für eine bestimmte Gruppe einen extra abgetrennten Bereich gab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele andere Gruppen gibt, wo das so unwidersprochen hingenommen würde. Ich glaube, speziell Antiziganismus ist eben so weit in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert und bleibt unwidersprochen und das macht solche Vorkommnisse möglich.

Lisa: Mich interessiert auch sehr, welche Konzepte ihr in Eurer Arbeit verwendet und wieso. Vor allem der Begriff Antiziganismus, der ja auch sehr umkämpft ist, unter anderem, weil er das Z-Wort reproduziert. Wie steht ihr dazu?

Violeta: Mir ist schon bekannt, dass der Begriff sehr umstritten ist – teilweise auch zu Recht – wir haben uns bei Amaro Foro aber bewusst dazu entschieden diesen Begriff zu benutzen, weil der Begriff am besten das gesellschaftliche Konstrukt darstellt. Bei Antiziganismus geht es nicht nur um Rassismus gegen Menschen der Minderheit der Rom:nja und Sinti:zze, sondern es ist ein Konstrukt, beziehungsweise es sind Bilder, die die Mehrheitsgesellschaft mit einer bestimmten Gruppe in Verbindung bringt. Diese Bilder können auch auf andere Menschen übertragen werden. Vor allem, wenn es um institutionellen Antiziganismus geht. Es sind vor allem rassistische Praktiken, die eine ganz bestimmte Gruppe ausschließen sollen und Mechanismen umfassen, die weiter gehen und auch andere Menschen betreffen. Bei Antiziganismus geht es nicht nur um Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze, sondern Rassismus im Allgemeinen.

Yücel: Ich schließe mich Violeta an, Antiziganismus ist eine weitgefasste Definition, während zum Beispiel Antiromaismus schon sehr speziell ist. Antiziganismus richtet den Fokus auf die Mehrheitsgesellschaft und nicht auf die Betroffenen. Antiziganismus ist kein Problem der Betroffenen, sondern ein Problem der Mehrheitsgesellschaft, das ist der entscheidende Punkt. Obwohl Sinti und Roma am stärksten davon betroffen sind.

Céline: In Deutschland gibt es ja schon seit vielen Jahren eine starke Bürgerrechtsbewegung, die gegen Antiziganismus kämpft und unter anderem die Anerkennung von Sinti:zze und Rom:nja als Opfer des Nationalsozialismus fordert. Wie würde ihr Euer Verhältnis zur Bürgerrechtsbewegung beschreiben?

Violeta: Also ich finde, dass es gerade für uns, die wir in diesem Feld ja schon lange aktiv sind, auch zu unserer Verantwortung dazu gehört, die Bürgerrechtsbewegung in Ehren zu halten, indem wir nicht bei dem aufhören, was bereits erreicht wurde, sondern weitermachen. Es haben sich viele Dinge auch positiv entwickelt. In Berlin vor allem ist die politische Debatte schon ziemlich weit, es gibt einige Rom:nja-Verbände, die seit Jahren aktiv sind. Ihnen und ihrem unermüdlichen Kampf ist es zu verdanken, dass wir auch so eine gute Zusammenarbeit mit der Verwaltung und Politik hier in Berlin haben, die, ich würde schon sagen, auf Augenhöhe ist. In einige politische Prozesse werden wir auch mit einbezogen, wie beispielsweise bei der Einrichtung eines Beirates für die Angelegenheiten der Rom:nja und Sinti:zze, der im Herbst etabliert sein soll. Ich glaube, dass es in vielen anderen Bundesländern ähnliche Entwicklungen gibt. Trotzdem sind wir noch längst nicht angekommen.

Yücel: Die Meldestelle ist eine zentrale Forderung des Zentralrats der Sinti und Roma und vieler Selbstorganisationen gewesen. Nur durch dieses zivilgesellschaftliche Engagement sind wir jetzt da.

Die Bürgerrechtsbewegung hatte verschiedene Etappen und wir befinden uns jetzt, würde ich sagen, in der Phase der Anerkennung, in der die Politik zwar natürlich nicht ausreichend handelt, aber immerhin den Antiziganismus anerkannt hat und auch bekämpfen will. Die Arbeit ist aber noch nicht beendet, sie fängt jetzt erst an. Wir als Meldestelle, machen den Antiziganismus im Alltag und in den verschiedenen Lebensbereichen öffentlich, um in der Gesellschaft und der deutschen Mehrheitsbevölkerung ein Bewusstsein dafür zu schaffen und den Betroffenen zu helfen. Die meisten kennen diesen Begriff noch gar nicht. Wir arbeiten auch mit vielen verschiedenen Selbstorganisationen. Deswegen würde ich sagen, dass MIA ein Teil eben dieser Bürgerrechtsbewegung und das Ergebnis dieser Bürgerrechtsarbeit ist.

Katharina: Inhaltlich sehe ich unsere Arbeit auch genau in dieser Tradition. Aber ich muss sagen, ich habe auch wirklich einen sehr großen Respekt vor den Menschen, die sich in den Siebzigern, in den Achtzigern und davor, gegen enorme Hindernisse und in einer völlig ignoranten Gesellschaft gegen diese Widerstände eingesetzt haben und da Großes geleistet haben. Sie haben uns dazu gebracht, wo wir, oder auch die Bürgerrechtsbewegung, heute steht. Wie muss das für Menschen gewesen sein – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – die selbst Familienangehörige in Auschwitz verloren haben und dann in diese Bürgerrechtsarbeit eingetreten sind und zu dem damaligen Zeitpunkt noch viel mehr Widerständen begegnet sind? Also ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie man die Kraft aufbringt, diesen Kampf zu führen.

Persönlich bin ich nicht von Antiziganismus betroffen, das ist schon noch mal eine ganz andere Situation. Und zusätzlich, werde ich für die allermeiste Arbeit, die ich in dem Kontext leiste, ja bezahlt. Das ist auch nochmal ein Unterschied. Es gab viele Leute, die sehr viel Ehrenamt geleistet haben. Gleichzeitig, obwohl ich nicht betroffen bin, finde ich es manchmal äußerst schwierig auszuhalten, wie lange es dauert, bis sich Dinge verändern und wie groß Widerstände sind.

Céline: Zuletzt noch ein Blick in die Zukunft: Was sind Eure Forderungen? Welche Gegenmaßnahmen sollen auf institutioneller Ebene gegen Antiziganismus ergriffen werden? Was können Leser:innen ganz konkret tun?

Violeta: Ich glaube, dass sich Krisen verstärkt auf die Rom:nja und Sinti:zze Community auswirken und wünsche mir, dass man daraus dazulernt und Fehler nicht wiederholt. Ich möchte, dass Menschen von Anfang an gleichermaßen Zugang zu Unterstützungsangeboten bekommen. Deshalb ist es auch so wichtig, antiziganistische Vorfälle zu melden. Das Dunkelfeld muss erhellt und die Vorfälle sichtbarer gemacht werden, damit wir Gegenstrategien entwickeln können. Zahlen sind auch immer sehr wichtig für die Verwaltung, um Dinge überhaupt in Bewegung zu setzen. Außerdem würde ich mir wünschen, dass Gesetzgebungen eingehalten werden und bei Nichteinhaltung sanktioniert wird.

Katharina: Anforderungen an die Politik sind an erster Stelle, dass der Antiziganismus als Problem anerkannt wird, und zwar nicht nur auf der Ebene von Einzelpersonen, sondern auch auf institutioneller Ebene und als strukturelles Problem. Und dass es dann auch einen entsprechenden politischen Willen gibt, Maßnahmen dagegen zu entwickeln und auch entsprechend Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Außerdem glaube ich nicht, dass Sensibilisierungs-Workshops – so wichtig diese auch sind – uns entscheidend gegen Antiziganismus voranbringen. Da braucht es in den Institutionen Beschwerdemechanismen und Vorgaben und Richtlinien, die dann eben auch eingehalten werden müssen.

Konkret auf Bayern bezogen würde ich mir wünschen, wenn sich das wiederholen sollte, dass Landkreise offen die Aufnahme geflüchteter Rom:nja ablehnen, dass es dann ein breites Band von Politiker:innen gibt, aus demokratischen Parteien, die so etwas nicht zulassen und sich öffentlich deutlich dagegen positionieren.

Yücel: Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert die Entwicklung und Umsetzung eines nationalen Aktionsplans bzw. einer Strategie zur Bekämpfung von Antiziganismus. Dieser Plan sollte Maßnahmen beinhalten, die auf die Bekämpfung des Antiziganismus abzielen, wie die Einführung eines Verbandklagerechts im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) oder die Errichtung unabhängiger Beschwerdestellen bei der Polizei und öffentlicher Verwaltung.

Lisa: Vielen herzlichen Dank für das Interview und Eure Arbeit!

Auf den Websites von MIA und Amaro Foro stehen zahlreiche Publikationen zum Thema zur Verfügung und es besteht die Möglichkeit antiziganistische Vorfälle und Beobachtungen zu melden: https://amaroforo.de und https://www.antiziganismus-melden.de.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Violeta Balog ist Gründungsmitglied von Amaro Foro e.V. und Projektleitung von Dosta (Dokumentationsstelle Antiziganismus) in Berlin.

Yücel Meheroğlu arbeitet bei der neuen Meldestelle Antiziganismus (MIA), die im Jahr 2022 einen Bericht »Zur Lage aus der Ukraine geflüchteter Roma« veröffentlicht hat.

Katharina Schwaiger arbeitete als Sozialarbeiterin in einer Beratungsstelle in München. Sie ist im Schulungs und Seminarbereich tätig und wird ab 2023 beim Verband deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern, arbeiten.

Lisa Riedner leitet die Emmy Noether Nachwuchsforschungsgruppe Contestations of ›the Social‹ – Towards a movement-based ethnographic social (state) regime analysis an der LMU München und ist aktiv im Netzwerk Europa in Bewegung.

Céline Pellicer studiert Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU in München.