»Against Borders«

Wie eine Welt ohne Grenzen gedacht und erstritten werden kann

Leon Schlüter

»No Borders«, »Abolish all Camps«, »Freedom of Movement for all« – Forderungen wie diese haben in den letzten Jahren vor allem in den vielstimmigen Kämpfen der Migration eine konkrete Gestalt angenommen; sei es in den Kämpfen selbstorganisierter migrantischer Gruppen oder in den alltäglichen Akten der Missachtung, Verweigerung und Überschreitung von Grenzen (vgl. z.B. King 2016; Squire 2021). In den herrschenden öffentlichen Diskursen trifft man angesichts solcher Forderungen hingegen vielfach auf ein beredtes Schweigen. Die Institution der Grenze wird als gegeben vorausgesetzt und bleibt in der Regel unterhinterfragt. Sie wird als notwendig präsentiert, um das Verlangen nach Sicherheit und Ordnung zu befriedigen und den Wohlstand der ›eigenen‹ Staatsbürger:innen zu sichern. Diese Naturalisierung der Grenze spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung wider, in der verschiedene Formen der Mobilitätskontrolle zunehmend zu einem allgegenwärtigen Bestandteil des täglichen Lebens werden.

Konfrontiert mit einer solchen »Proliferation der Grenzen« (Mezzadra/Neilson 2013) ist das zentrale Argument von Gracie Mae Bradleys und Luke de Noronhas neuem Buch Against Borders: The Case for Abolition klar und deutlich: Es muss nicht so sein – »borders harm us all, which is why we must all be committed to their abolition« (7). In einer beeindruckenden Tour de Force zeigen Bradley und de Noronha, dass Grenzen nicht nur rassistische und koloniale Gewaltverhältnisse reproduzieren und oftmals die Orte sind, wo neue Formen der staatlichen Kontrolle und Überwachung erprobt werden. Sie zeichnen auch nach, wie Grenzkontrollen bis in unsere intimsten Beziehungsweisen hineinreichen und unsere Vorstellungen von Familie und Freundschaft, den Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen oder Arbeits- und Wohnverhältnisse bestimmen. Im Anschluss an abolitionistische Arbeiten (für einen Überblick: Loick/Thompson, Hg. 2022) fragen Bradley und de Noronha, wie eine Welt ohne Grenzen gedacht und erstritten werden kann. Was von den beiden als »border abolition« bezeichnet wird, erschöpft sich dabei nicht in der Aufhebung oder Aussetzung von Grenzkontrollen. Es handelt sich um eine revolutionäre Politik, in deren Zentrum der Kampf für die Ausdehnung und Vertiefung der Bewegungsfreiheit aller steht. Es geht um nichts Geringeres als um die Transformation aller gesellschaftlichen Verhältnisse, vor deren Hintergrund Grenzen und Mobilitätskontrollen notwendig erscheinen (10).

Ihr Argument entwickeln Bradley und de Noronha über sieben (von insgesamt acht) Kapitel, die gleichzeitig als kompakte Einführungen in die multiplen Verschränkungen zwischen Grenzregimen einerseits und Race, Geschlecht, Kapital, Polizei, Terrorismusbekämpfung, Datenbanken und Algorithmen andererseits gelesen werden können. Dabei suchen sie den Blick weg von den Szenen spektakularisierter Gewalt zu lenken, die mit Ortsnamen wie Melilla, Evros oder Lesbos überschrieben sind, und stattdessen den Blick für die alltägliche Gewalt von Grenzkontrollen zu öffnen. Denn die Fixierung auf militarisierte, physische Grenzanlagen, argumentieren sie, drohe nicht nur diese alltägliche und langsame Gewalt zu normalisieren; sie laufe auch Gefahr den grundlegend produktiven Charakter von Grenzen zu verkennen, welche von den Autor:innen als zunehmend beweglich, flexibel und im digitalen Raum operierend beschrieben werden (122f.). Exemplarisch lässt sich dies anhand ihrer Diskussion des Nexus zwischen Grenzen und Praktiken des Polizierens nachvollziehen.

So werden Grenzen und Strafsysteme von Bradley und de Noronha als »connected forms of racist state violence« begriffen (75). Während die Figur des ›kriminellen Ausländers‹ (typischerweise in einer explizit vergeschlechtlichten Form) oftmals mobilisiert wird, um die Verschärfung von Grenzkontrollen zu rechtfertigen, werden Migrant:innen entlang rassifizierter Linien als Kriminelle konstruiert und zu einer bevorzugten Zielscheibe von Polizeigewalt gemacht. Beiden – Migrant:innen und jenen, die als Kriminelle gebrandmarkt werden – werden grundlegende staatsbürgerliche Rechte vorenthalten (ebd.). Diese Verbindungslinien anzuerkennen, argumentieren Bradley und de Noronha, heißt auf Dichotomisierungen zu verzichten, welche ›unschuldige Migrant:innen‹ mit ›echten Kriminellen‹ kontrastieren; wie zum Beispiel in dem Slogan »Migration ist kein Verbrechen«. Anstatt eine Seite gegen die andere auszuspielen, ginge es vielmehr darum, den Kampf für die Abolition von Grenzen und den Kampf für die Abolition des Strafsystems als Teil ein und desselben politischen Projekts zu begreifen. Konkret könnte dies bedeuten, mit der Frage zu beginnen, welche Strategien und Argumente auch für kriminalisierte Menschen, die sich im Fadenkreuz des Grenzregimes befinden, Gültigkeit besitzen (76). Ein Beispiel hierfür wären Kampagnen für die Abschaffung von Charter-Abschiebeflügen, deren (vermeintliche) Notwendigkeit oft mit Verweis auf die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet wird. Eine Beendigung dieser Praxis käme nicht nur jenen mit einem Vorstrafenregister zugute, sondern allen die vom Grenzregime als abschiebbar konstruiert werden (vgl. auch De Genova 2002).

Wie die letzten Ausführungen bereits andeuten, wird »border abolition« hier nicht nur als eine kritische Linse auf die vielfältigen gewaltvollen Bestimmungen und Beziehungen des Grenzregimes verstanden. Den Autor:innen zufolge ist »border abolition« zuallererst eine radikale politische Orientierung, die der Transformation des Bestehenden verpflichtet ist (162). Es ist eine Methode, die ihre eigentliche Bedeutung erst in der politischen Praxis gewinnt (vgl. Gabriel 2022). In diesem Sinne schreiben Bradley und de Noronha, dass im Zentrum einer abolitionistischen Politik die Identifizierung dessen stehen sollte, was sie als nicht-reformistische Reformen bezeichnen (11). Die Unterscheidung zwischen reformistischen und nicht-reformistischen Reformen geht auf André Gorz zurück, der diese in den 1960er Jahren formulierte, um die verhärtete Frontstellung zwischen Reform und Revolution in der Arbeiter:innenbewegung zu unterlaufen (Gorz 1967). In Bezug auf Grenzen definieren Bradley und de Noronha nicht-reformistische Reformen als »changes in the here-and-now that can reduce the power and permancence of borders« (11). Im Gegensatz zu reformistischen Reformen geht es dabei nicht um eine Rekalibrierung des Status Quos, sondern um die Eröffnung eines Raums, in dem weitere strukturelle Veränderungen möglich gemacht werden. Ausführlich entwickelt wird diese Unterscheidung im abschließenden achten Kapitel des Buches. Dort wird aufbauend auf der Arbeit von abolitionistischen Gruppen wie Critical Resistance eine Heuristik zur Differenzierung beider Reform-Typen präsentiert und anhand einer Reihe von Fallbeispielen eindrücklich illustriert. So werden etwa technologiegestützte Maßnahmen, welche Mobilitätskontrollen standardisieren und den Einfluss rassistischer Vorurteile reduzieren sollen, als reformistische Reformen lesbar gemacht. Letztlich würden dadurch nur mehr Ressourcen in das Grenzregime fließen und dessen Kapazitäten zur Überwachung und Kontrolle von Migrationsbewegungen weiter ausgebaut. Demgegenüber werden Forderungen für einen universellen Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen (z.B. Gesundheitsleistungen) unabhängig von dem Aufenthaltstitel als Beispiel für eine nicht-reformistische Reform angeführt. Forderungen wie diese stellen die Vorstellung in Frage, dass Rechte nur auf Grundlage eines formell anerkannten Status eingefordert werden können; sie sind, wie Bradley und de Noronha überzeugend darlegen, wesentlicher Teil einer abolitionistischen Politik.

Obwohl es sich um ein relativ kurzes Buch handelt, ist das zentrale Anliegen, das Against Borders verfolgt, weitreichend und radikal in seinen Konsequenzen. Es verbindet eine rigorose Analyse der gewaltsamen Verstrickungen des Grenzregimes mit einem eindringlichen Plädoyer für eine Welt, in der Grenzen obsolet sind. Unterlegt wird die Dringlichkeit dieses Anliegens mit zwei literarischen Zwischenspielen, die das letzte Kapitel des Buches einrahmen. Dort wird die Dystopie einer Welt mit immer feinmaschigeren Mobilitätskontrollen und intensivierten Formen der Ausbeutung mit der Vorstellung einer Welt kontrastiert, in welcher der gesellschaftliche Reichtum auf eine befriedigendere Weise geteilt wird und die Bewegungsfreiheit aller zu einer gelebten Realität geworden ist. Zuweilen kann bei der Lektüre des Buches der Anschein entstehen, dass das, was von den Autor:innen beschrieben wird, eine »win-win-win« Situation wäre, die allen zugutekäme – als ob eine Politik für die Abolition von Grenzen nicht mächtige Interessen und Akteure überwinden müsste (Heller/Pezzani/Stierl 2019: 58). Letztlich machen die beiden jedoch immer wieder deutlich, dass die Aussicht Fortschritte zu erzielen, am Ende von der Fähigkeit abhängt, sich kollektiv zu organisieren und verschiedene soziale Kämpfe zusammenzuführen – entgegen institutionalisierten Formen der Gewalt. Dass es dafür vielfältige Anknüpfungspunkte gibt, so legen Bradley und de Noronha nahe, bezeugen eindrucksvoll die Klimaproteste der letzten Jahre, die Massenmobilisierungen durch Black Lives Mater und nicht zuletzt die Hartnäckigkeit derjenigen, die dem Grenzregime täglich trotzen (vgl. Mezzadra 2020: 433f.). Against Borders ist ein kühnes und stringent argumentierendes Buch, das dazu aufruft über die Grenzen hinaus zu denken, die diese Welt zerstückeln und festzulegen versuchen, wer wir sind.

Gracie Mae Bradley / Luke de Noronha (2022): Against Borders. The Case for Abolition. London: Verso, 184 Seiten.

Literatur

De Genova, Nicholas (2002): Migrant ›Illegality‹ and Deportability in Everyday Life. In: Annual Review of Anthropology 31. 419–447.

Gabriel, Kay (2022): Abolition as Method. In: Dissent. URL: dissentmagazine.org [14.12.2022].

Gorz, André (1967): Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus. Hamburg.

Heller, Charles / Pezzani, Lorenzo / Stierl, Maurice (2019): Towards a Politics of Freedom of Movement. In: Jones, Reece (Hg.): Open Borders. In Defense of Free Movement. Athens, GA. 51–76.

King, Natasha (2016): No Borders. The Politics of Immigration Control and Resistance. London.

Loick, Daniel / Thompson, Vanessa E. (Hg.) (2022): Abolitionismus. Ein Reader. Frankfurt am Main.

Mezzadra, Sandro / Neilson, Brett (2013): Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham, NC.

Mezzadra, Sandro (2020): Abolitionist Vistas of the Human. Border Stuggles, Migration and Freedom of Movement. In: Citizenship Studies 24 (4). 424–440.

Squire, Vicki (2021): Unruly Migrations, Abolitionist Alternatives. In: Behemoth 14 (3). 14–24.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Leon Schlüter hat im Master Philosophie an der Freien Universität Berlin studiert. Aktuell beendet er den »MA Research Training Program in Social Sciences« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Leons Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen kritischer Theorie, Sozialphilosophie und politischer Theorie. In seiner Forschung interessiert er sich insbesondere für die Geschichtlichkeit von Grenzen und wie diese bestehende soziale Verhältnisse gewaltsam formen.