»Akkumulation, Überausbeutung, Migration«

Marxistische Perspektiven auf niedrigqualifizierte Arbeitsmigration

Mareike Biesel

Wie kann eine marxistische Perspektive auf niedrigqualifizierte Arbeitsmigration aussehen? Wie machen sich die kapitalistischen Bewegungsgesetze Menschen unterschiedlicher Herkunft unterschiedlich zu Nutze? Das hier rezensierte Buch versucht, auf diese Fragen Antworten zu geben. Mit »Akkumulation, Überausbeutung, Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex« veröffentlicht Janina Puder die Ergebnisse ihrer Dissertation über die Bedeutung von systematischer Überausbeutung von Migrant_innen im kapitalistischen Weltsystem im Gesamten und die Situation migrantischer Palmölarbeiter_innen in Malaysia im Speziellen. Das methodische Vorgehen im Rahmen Michael Burawoys Extended Case Method verspricht dabei einen zirkulären Erkenntnisprozess, der von theoretischen Vorannahmen geleitet Erkenntnisse aus dem Feld generiert, welche wiederum der Erweiterung und Verfeinerung der Theorie dienen.

(Über)Ausbeutung als analytischer Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen (Kapitel 2) bietet das marxsche Ausbeutungstheorem, demzufolge Lohnarbeitende durch die eigene Arbeit mehr Wert produzieren als zu ihrer eigenen Reproduktion notwendig ist. Ausgezahlt wird von dem_der Käufer_in der Arbeitskraft jedoch nur ein Teil des geschaffenen Wertes als Lohn, der Rest wird sich als Mehrwert angeeignet. Der ausgezahlte Lohn bemisst sich dabei daran, wie viele Kosten zur Reproduktion der Arbeitskraft aufgebracht werden müssen. Um Überausbeutung handelt es sich, wenn ein gesellschaftlich ausgehandeltes Level der Reproduktion nicht erreicht werden kann, weil etwa eine übermäßige Abnutzung der Arbeitskraft vorliegt oder ein zu geringer Lohn zur Verfügung steht.

Ausbeutung wird also verstanden als die Diskrepanz zwischen dem Wert, der produziert wird und demjenigen, der in Form von Lohn ausgezahlt wird. Ausbeutung und im weiteren Verlauf auch Überausbeutung wird somit entgegen populären Auffassungen des Begriffs als analytische, nicht etwa moralische Kategorie genutzt. Statt besonders eklatante oder erniedrigende Arbeitsbedingungen zu bezeichnen, wird Ausbeutung als Strukturbedingung von Kapitalakkumulation und somit kapitalistischen Gesellschaften analysiert. Diese arbeitssoziologische Positionierung bestimmt die Perspektive, mit welcher sich die Autorin theoretisch wie empirisch dem Themenkomplex Arbeitsmigration nähert. Die Frage, durch welche Mechanismen Überausbeutungsverhältnisse organisiert, (re-)produziert und stabilisiert werden, ist dabei forschungsleitend.

Dafür entwirft die Autorin ein weltsystem- und dependenztheoretisch informiertes Verständnis eines globalen Kapitalismus, welches zwischen Zentren und Peripherie unterscheidet und die je herrschenden Aus- und Überausbeutungsformen an eine globale Arbeitsteilung zwischen und die Hierarchisierung verschiedener Gruppen von Lohnarbeiter_innen innerhalb von Nationalstaaten rückbindet. Neben die fundamentale Strukturkategorie der Klasse werden die intersektionalen Kategorien der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts gestellt, um die spezifische Situation von Arbeitsmigrant_innen in der Verschränkung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen zu verorten. So gelingt es, verschiedene Ungleichheitsverhältnisse in ihrem Zusammenwirken zu betrachten und sowohl ökonomische als auch außerökonomische Mechanismen in den Blick zu nehmen, die der Durchsetzung und Stabilisierung des jeweiligen Ausbeutungsmodus dienen.

Die Reproduktion migrantischer Arbeiter_innen in der malaysischen Palmölindustrie

Ausgehend von der theoretisch hergeleiteten These einer systematischen Überausbeutung niedrigqualifizierter migrantischer Arbeit im globalen Kapitalismus überprüft die Autorin diese anhand der konkreten Situation migrantischer Palmölarbeiter_innen in Malaysia. Über drei Kapitel wird der Zuschnitt schrittweise verengt von der historisch hergeleiteten Darlegung des malaysischen Arbeitsmigrationsregimes (Kapitel 3) über die Verortung der Beschäftigtengruppe innerhalb dessen (Kapitel 4) bis hin zur Analyse der tatsächlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse (Kapitel 5).

Während Kapitel 3 und 4 die institutionellen Rahmenbedingungen beschreiben, widmet sich das fünfte Kapitel der zentralen Forschungsfrage, wie es den Individuen innerhalb dieser Überausbeutungsverhältnisse dennoch gelingt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren. Dabei kann auf eine Fülle empirischer Daten zurückgegriffen werden, die aus einer Kombination von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen, sowie stärker ethnographisch generierter Beobachtungen aus den Besuchen von Plantagen, Schulen migrantischer Kinder, Gewerkschaftsversammlungen und überregionalen Vernetzungstreffen bestehen. Bereits bestehende Kooperationen zwischen deutschen und indonesischen Wissenschaftler_innen und Gewerkschaftsaktiven ermöglichten den Kontakt zu den Arbeitsmigrant_innen sowie den Zugang zu den für sie elementaren Produktions- wie Reproduktionsstätten. Dabei reflektiert die Autorin ihre soziale Position als weiße, westliche Wissenschaftlerin als forschungspraktisch herausfordernd, da die damit einhergehenden Machtdynamiken ihr zwar einen privilegierten Zugang ermöglichen, aber auch zu Misstrauen seitens der Interviewten führten. Die aus den intensiven Feldaufenthalten entstandene eindrucksvolle Beschreibung der Arbeits- und Lebensbedingungen der häufig auf den Plantagen selbst lebenden Arbeiter_innen reichen von ihrer räumlich-sozial isolierten Wohnsituation über (fehlende) Arbeitsschutzmaßnahmen bis hin zu Kontrollmechanismen, denen sie durch die Verknüpfung von Arbeit und Aufenthalt – bzw. klassenspezifischer Ausbeutung und Unterdrückung aufgrund von Staatsangehörigkeit – besonders ausgesetzt sind.

Der Fokus auf den Haushalt als Analyseebene erweist sich als gewinnbringend, wenn die Migrationsentscheidung in erster Linie als ökonomisch motivierte Haushaltsentscheidung beschrieben werden kann und die Arbeit in Malaysia in die Reproduktion transnationaler Familienhaushalte integriert ist. Mit Blick auf die Möglichkeiten und Herausforderungen ihrer Reproduktion lassen sich verschiedene Mechanismen des Umgangs finden: Die einen können ihre Reproduktion nur durch das Leisten von Überstunden sicherstellen, was insbesondere in Zeiten von Unterbeschäftigung zum Problem wird. Die anderen müssen neben ihrer Lohnarbeit noch Subsistenzwirtschaft betreiben, um sich zu ernähren. Oder aber man lässt im lokalen Kiosk anschreiben und leiht sich von anderen Arbeiter_innen Geld. Es eint sie eine soziale Immobilität, die im Wirkungsfeld von Ausbeutung und Unterdrückung unüberwindbar wird. Die Autorin schafft es, die vielfältigen Arbeits- und Lebensverhältnisse strukturiert, präzise und detailreich immer mit Blick auf ihre Reproduktionsbedingungen darzustellen. Die Vielfalt der generierten Daten zeugt von einem breiten Einblick in die Arbeits- und Lebensverhältnisse der migrantischen Arbeiter_innen und lässt das theoretische Konzept der Überausbeutung lebendig und greifbar werden.

Die Erkenntnisse der Analyse zum einen der institutionellen Rahmenbedingungen und der tatsächlichen Strategien der Arbeiter_innen werden im sechsten Kapitel wieder in die Theorie zurückgespielt und zentrale Mechanismen aufgezeigt, wie Überausbeutungsverhältnisse auf institutioneller wie betrieblicher Ebene organisiert, (re-)produziert und stabilisiert werden. Damit entwirft die Autorin ein theoretisch hergeleitetes und empirisch unterfüttertes Konzept für die Untersuchung von Überausbeutungsverhältnissen, dessen Anwendbarkeit im siebten Kapitel abschließend diskutiert wird.

(Über)Ausbeutung als migrationssoziologisches Konzept?

Insgesamt ist es der Autorin gelungen, das anspruchsvolle analytische Theorem der Ausbeutung in einem globalen Zusammenhang zu theoretisieren und zu erweitern, um es dann analytisch nachvollziehbar in einem konkreten Wirkungszusammenhang zu untersuchen und anschaulich zu präsentieren. Die ausbeutungstheoretische Perspektive birgt dabei den Vorteil, mit Blick auf die Reproduktionsmöglichkeiten die Arbeits- und Lebenssphäre miteinander zu verbinden und damit die komplexe Verflechtung von Ausbeutung und Unterdrückung, der Arbeitsmigrant_innen ausgesetzt sind, greifbar zu machen. Mit dem Konzept der Ausbeutung wird ein Forschungsfeld bearbeitet, was sich aktuell im Nachdenken über Migration, Arbeit und Rassismus zunehmender Beliebtheit erfreut, wie etwa die bereits vierte Auflage des Sammelbandes »Diversität der Ausbeutung« (Mendívil/Sarbo 2022) zeigt. Ausgehend von den gleichen marxistischen Grundannahmen, nehmen die Herausgeberinnen einen weniger werttheoretischen Zugang, sondern bedienen sich insbesondere der Sozialen Reproduktionstheorie (vgl. Bhattacharya 2017), um die Situation von Migrant_innen zu theoretisieren. Eine systematische Gegenüberstellung dieser beiden Herangehensweisen könnte für die weitere Theoriebildung erkenntnisreich sein.

Auf der empirischen Ebene liegen die Anknüpfungspunkte vor allem in der Widerständigkeit der arbeitenden Migrant_innen, die im Rahmen dieser Arbeit nur randständig behandelt wird. Der entworfene analytische Rahmen stellt die Verknüpfung von Ausbeutung und Unterdrückung in den Fokus, verbleibt jedoch bei einer Positionsbestimmung migrantischer Arbeit. Inwiefern auch widerständige Momente Teil dieser Position und durch das Überausbeutungsverhältnis strukturiert sind oder sich im Kampf auch über eben diese hinwegsetzen können, bleibt aus. Wenn sie aber als Ausgangspunkt genommen wird, kann die vorgeschlagene Perspektive dazu beitragen, Kämpfe arbeitender Migrant_innen und migrantischer Arbeiter_innen in ihrer doppelten Ausrichtung zu verstehen. Aus dem Zusammenspiel von Überausbeutung und Unterdrückung muss ein Zusammendenken von Arbeitskämpfen und Kämpfen um Migration folgen. Für Schwerpunktbranchen migrantischer Arbeit in Deutschland wie etwa der Fleischindustrie oder dem Online-Versandhandel lassen sich bei Peter Birke (2022) bereits solche Ansätze finden. Und will man im Anschluss an Sabrina Apicella (2021) in ihrer Untersuchung der Streikmotive bei dem ebenfalls stark migrantisch geprägten Tech-Giganten Amazon die Frage stellen »Warum streiken migrantische Menschen?«, dann müssen sowohl die Rahmenbedingungen von Überausbeutung und Unterdrückung als auch deren subjektive Verarbeitung Teil der Analyse sein.

Puder, Janina (2022): Akkumulation, Überausbeutung, Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex. Frankfurt am Main: Campus, 347 Seiten.

Literatur

Apicella, Sabrina (2021): Das Prinzip Amazon. Über den Wandel der Verkaufsarbeit und Streiks im transnationalen Versandhandel. Hamburg und Berlin: VSA Verlag und Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Bhattacharya, Tithi (2017) (Hrsg.): Social Reproduction Theory. Remapping Class, Recentering Oppression. London: Verso.

Birke, Peter (2022): Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Wien/Berlin: Mandelbaum.

Mendívil, Eleonora Roldán / Sarbo, Bafta (2022) (Hrsg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Berlin: Dietz.

  • Volume: 7
  • Issue: 2
  • Year: 2023


Mareike Biesel arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen.