Die Ausgabe 2(2) des Journals movements setzt sich mit zwei Facetten des europäischen Migrations- und Grenzregimes auseinander, die selten zusammengedacht werden: die Regierung der Migration von Unionsbürger*innen innerhalb der EU und der Migrationsbewegungen in die EU.
Seit den Anfängen der Europäischen Integration war die Bewegungsfreiheit zunächst für Erwerbstätige und später für alle ‚Unionsbürger*innen‘ zugleich einer ihrer politischen Eckpfeiler und ein Freiheitsversprechen. Doch spätestens seit der Debatte um die sogenannte ‚Armutszuwanderung‘ im Jahr 2013 herrscht in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses beispielsweise in Deutschland und Großbritannien der rassistische Konsens, dass zwar auch viele qualifizierte ‚Leistungsträger*innen‘ die EU-Freizügigkeit in Anspruch nehmen, der ‚ungehinderte Zuzug‘ von Personen mit weniger formaler Bildung aber eine Bedrohung der nationalen Bevölkerungen darstelle.
Dieser postliberale Konsens verdeckt, dass die Hetze gegen angeblich ‚unqualifizierte‘ Migrant*innen von rassistischen und antiziganistischen Logiken geprägt ist und dass in Teilen der Wirtschaft gerade diese als billige Arbeitskräfte gern gesehen sind. Gleichzeitig finden vielfältige Prozesse der Entrechtung statt, die sich etwa in aktuellen Einschränkungen des Grundrechts auf ein soziales Existenzminimum äußern. So knüpft etwa der britische Premierminister Cameron den Verbleib Großbritanniens in der EU an die Bedingung, die sozialen Rechte von Unionsbürger*innen zu beschränken. Auch der europäische Gerichtshof legitimierte im Sommer 2015 die deutsche Praxis, EU-Bürger*innen Sozialleistungen vorzuenthalten. Während Proteste gegen diese Entwicklungen noch selten sichtbar werden, gelangten in letzter Zeit dennoch vermehrt Kämpfe von EU-Migrant*innen an die Öffentlichkeit, wie etwa der Arbeitskampf an der ‚Mall of Berlin‘ 2014/2015.
Für mehr öffentliches Aufsehen sorgen derzeit jedoch die hartnäckigen Bewegungen nach EUropa, die wahlweise als ‚Flüchtlingskrise‘ oder ‚Sommer der Migration‘ bezeichnet werden und im vergangenen Jahr die EUropäischen Außengrenzen ins Wanken brachten. Mehrere Regierungen entschieden sich im Spätsommer 2015, den Bewegungen der Migration nachzugeben und Transportdienste für hunderttausende Menschen bereitzustellen. Im Laufe des Herbstes und Winters 2015/2016 nahmen sie diese partielle Öffnung der Grenzen schrittweise zurück: Die ungarische Regierung schloss ihre südwestlichen Landesgrenzen. Bulgarien verlängerte seinen bereits bestehenden Grenzzaun. An der griechisch-mazedonischen Grenze begannen Grenzbeamt*innen damit, Migrierende nach Logiken eines Racial Profiling zu selektieren. Die deutsche Regierung führte Kontrollen an der Grenze zu Österreich ein. An vielen Orten kam es zu Protesten gegen diese Grenzschließungen.
Mit movements 2(2) möchten wir beide Facetten in den Blick nehmen: Sowohl die aktuellen Kämpfe um das EUropäische Asyl- und Grenzregime als auch die Transformationen der EU-Freizügigkeit, Unionsbürger*innenschaft und die Kämpfe der EU-internen Migration. Neben Artikeln zu den einzelnen Teilbereichen sind uns Beiträge besonders willkommen, die diese oft getrennt voneinander betrachteten Facetten des europäischen Migrations- und Grenzregimes zusammendenken. Dies soll neue Perspektiven auf die Kontinuitäten und sich beschleunigenden Veränderungen der europäischen Migrations- und Grenzpolitik ermöglichen.
Wir möchten dabei eine Reihe von Fragen stellen, die den Zusammenhang der aktuellen Versuche des Regierens der Migration mit rassistischen Konjunkturen und kapitalistischen Dynamiken in den Blick nehmen:
- Durch welche Modi des Regierens sind die Reaktionen auf die aktuellen Bewegungen in und nach EUropa geprägt? Welche Bedeutung haben etwa Diskurse eines vermeintlichen Kontrollverlustes in den Konflikten um die Einschränkung von Rechten und Mobilität? Wie manifestiert sich dieser ‚state of emergency‘ in den beiden Teilregimen?
- Welche Rolle spielen unterschiedliche rassistische Logiken und kapitalistische Nützlichkeitserwägungen bei der ungleichen Kategorisierung von Menschen in gute und schlechte Migrant*innen – seien es schutzbedürftige Geflüchtete, die von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen unterschieden oder nützliche Arbeitsuchende, die von sogenannten Sozialtourist*innen separiert werden? Wie artikulieren sich diese neuen alten Rassismen und kapitalistischen Taktiken in konkreten Praktiken und Konflikten?
- Wie lassen sich diese Dynamiken der Migration und des Rassismus in Bezug setzen zu gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und den aktuellen Konjunkturen des Kapitalismus?
- Inwiefern werden in Folge dieser Prozesse die europäischen Migrations- und Grenzregime einerseits renationalisiert oder zurückgebaut, andererseits auf spezifische Art gestärkt oder weiter europäisiert? Wie lassen sich etwa die Veränderungen des Dublin-Regimes, der Externalisierung der Außengrenzen und der sozialen Rechte der Unionsbürger*innenschaft in diesem Kontext analysieren?
- Welche Akteur*innen sind in die Auseinandersetzungen und Kämpfe um Migration involviert und welche Praktiken und (widerständigen) Subjektivitäten entstehen hieraus?
Wir freuen uns über die Zusendung von Abstracts im Umfang von maximal 500 Wörtern bis einschließlich 6. März 2016, die sich auf alle in movements verwendeten Formate beziehen können: Wissenschaftliche Aufsätze, Debattenbeiträge, Interventionen, Interviews, Forschungsberichte, Rezensionen, usw. Wir suchen dabei auch nach Beiträgen aus dem Aktivismus und politischen Bewegungen. Die fertigen Beiträge sollen je nach Format einen Umfang von 20.000 bis 40.000 Zeichen haben und können auf Deutsch oder Englisch verfasst sein (weitere Sprachen auf Anfrage). Deadline für die vollständigen Beiträge wird der 19. Juni 2016 sein.
Alle Einreichungen durchlaufen vor der Publikation das kollaborative redaktionsinterne Review-Verfahren. Wissenschaftliche Aufsätze werden zudem von mindestens zwei Expert*innen anonym begutachtet. In jedem Fall diskutiert die Redaktion in einem transparenten Prozess Kommentare und Überarbeitungsvorschläge mit den Autor*innen und entscheidet eigenständig über die Annahme oder Ablehnung.
Erscheinungstermin der Ausgabe ist voraussichtlich Dezember 2016.
Kontakt und Zusendung der Abstracts: info@movements-journal.org
Weitere Informationen zur Zeitschrift und zum Review-Prozess: http://movements-journal.org