CfP | movements 10(2) | Zum Grenz-Autoritarismus-Nexus

Zum Grenz-Autoritarismus-Nexus: Anti-Migrationspolitiken und die Transformation der liberalen Gesellschaften

Die politische Debatte ist zunehmend polarisiert. Von den Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühjahr 2024 über Trumps Sieg in den Vereinigten Staaten im Herbst 2024 bis hin zu den jüngsten politischen Wahlen in Deutschland erleben wir eine Beschleunigung der autoritären Transformation liberaler Gesellschaften. Rechtspopulistische Bewegungen sind in ganz Europa und Amerika in die Parlamente und Regierungen eingezogen. Dieser Prozess zerfrisst das soziale Gefüge der Gesellschaft, untergräbt die Demokratie und stellt Vielfalt und das Streben nach (und die Aufrechterhaltung von) gleichen Rechten als Bedrohung für völkische gedachte Nationsvorstellungen dar. Liberale Parteien machen sich offen die Rhetorik und Politik der Rechtspopulisten zu eigen, was den Zusammenbruch der so genannten “politischen Mitte” deutlich macht, die einst als Bollwerk gegen alle Formen des Extremismus dargestellt wurde. Jetzt scheint sie jedoch nur noch gegen Forderungen nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, Feminismus, Umweltschutz und sogar gegen grundlegende Menschenrechte vorzugehen.

Ein gemeinsames Merkmal aktueller autoritärer, illiberaler, bzw. rechter Ideologieproduktionen und Regierungen sind eskalierende Angriffe auf die postmigrantische Gesellschaft, gegen Einwanderungsbewegungen und eine Politik der Gleichheit und der Rechte von Migrant:innen und Geflüchteten, genauso wie gegen errungene Genderrechte, gegen Demokratieprojekte und Maßnahmen der politischen Bildung. Die rhetorische Inszenierung von Migration als Bedrohung der nationalen Sicherheit ist Debatten-bestimmend geworden, wenn etwa von der Instrumentalisierung der Migration oder von Migration als “hybride Waffe” gesprochen wird. Auch hat die Verbindung von Migration mit Terrorismus in den letzten Monaten einen neuerlichen Schub erfahren, die auf etablierte islamophobe Diskursmuster aufbauen kann. Sinnbildlich dafür sind geschlechtsspezifische und rassifizierte Bildregime der „europäischen schutzbedürftigen Frau“ sowie einer migrantischen „toxischen Männlichkeit“ wie auch ein mittlerweile nahezu konsensuales Labeling der Fluchtmigration als „illegale Migration“.

Diese rhetorische Eskalationen haben handfeste Konsequenzen: Sie legitimieren den Rückzug aus Menschenrechtskonventionen und internationalem Recht; sie untergraben Asyl- und Mobilitätsrechte; sie schwächen insgesamt Grundrechte wie das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, die Pressefreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz; sie führen zu einer Politik der konstanten Verschärfung und Aufrüstung von Migrationskontrollpolitiken, verherrlichen Abschiebungen und normalisieren rassistische und sexistische Gewalt an den Außen- und Binnengrenzen. Das Ergebnis ist eine sich abzeichnende Verflechtung zwischen sich verschärfenden Migrations- und Grenzregimen und der Transformation liberal-demokratisch verfasster Gesellschaftsordnungen hin zu autoritären Staaten. Unsicherheiten über einen adäquaten Umgang mit den postmigrantischen Realitäten, zentristische Versuche, “Lösungen” für die immer allgemeiner als Problem geframte „Migration“ zu präsentieren, und rechtspopulistische Narrative von bedrohten “Identitäten” verstärken sich gegenseitig - auch ohne explizite parteiübergreifende Zusammenarbeit. Die jahrzehntelange Darstellung von Migration als Problem und Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt - statt dies als Folge der grundlegenden rassistischen Struktur der Nationalstaaten zu thematisieren - scheint sich nun derart mit rechtspopulistischen Lösungsversprechen zu verbinden, dass Migration zur Chiffre und Primer für völkisch, reaktionäre bzw. anti-liberale Politik- und Gesellschaftsvorstellungen wurde.

Mit dieser Ausgabe von movements wollen wir uns diesem Nexus, den wir als „Grenz-Autoritarismus-Nexus“ fassen, zuwenden. Wir laden Beiträge ein, die sich diesem Zusammenhang theoretisch, konzeptuell und/oder methodisch mit Blick auf verschiedene (Welt-)Regionen und Gegenstandsbereiche, empirisch gesättigt annähern. Wir wollen unser Verständnis von lokalen Prozessen, Praktiken und Strategien der Verknüpfung und des autoritären Umbaus genauso vertiefen, wie den Blick erweitern auf globale Verflechtungen autoritärer Projekte und Migrations- und Grenzpolitiken. Wir laden ebenso Beiträge ein, die sich mit den Übergängen und Zusammengehen von illiberalem, autoritärem Regieren und demokratischen Regierungsweisen im Feld der Migrations- und Grenzpolitik befassen und ausleuchten. Wir laden explizit Forscher:innen und Aktivist:innen ein, die in antifaschistischen und pro-migrantischen Bewegungen oder im Grenz-Aktivismus, tätig sind, den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und repressiven Grenzformationen zu untersuchen. Wir bitten insbesondere um Beiträge zu den folgenden Fragen:

Autoritäre Transformationen - Gebundene Gesellschaften

  • Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen autoritärem gesellschaftlichem Wandel und migrations- und geschlechterfeindlichen Narrativen, Ideologien und/oder Politiken konzeptionell, theoretisch und empirisch fassen?
  • Wie prägt der autoritäre Wandel die Gesellschaften und wie re-definiert er Konzept und Praxis der Demokratie – wie lassen sich diese Transformationen beobachten, beschreiben und interpretieren?
  • Wie verändern, untergraben oder beseitigen diese Veränderungen den Rechts- und Menschenrechtsrahmen?
  • Wie lässt sich die Neuausrichtung der EU-Migrationspolitik sowie das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedsstaaten einordnen und interpretieren; welche Transformationen lassen sich hier im Modus der Europäisierung feststellen?

Grenzdenken, Grenzpolitiken und Grenzaktivismus

  • Wie lässt sich „Grenze“ in Verbindung mit den autoritären Transformationen konzeptualisieren? Welche Art von Grenzdenken oder Grenzspektakel wird mobilisiert, um Migration als “Problem” darzustellen, das einer schnellen und dringenden “Lösung” bedarf? Welche Akteure (und expliziten oder impliziten Allianzen) sind daran beteiligt?
  • Welche neuen Blickrichtungen, Ansätze und Konzeptualisierungen im Sinn kritischer Grenzforschung erfordern diese Dynamiken? Welche alten Konzepte und Einsichten gilt es vielleicht wieder zu schärfen? D.h. was macht der Grenz-Autoritarismus Nexus mit dem Feld der critical border und migration studies?
  • Wie wirken sich autoritäre Transformationen auf Körperpolitik und Körperrechte aus? Wie werden Affekte mobilisiert, und was sind die Auswirkungen auf Migration und Geschlecht?
  • Wie verändern sich Strategien der Migration und im Feld des Aktivismus?

Intellektuelle Vorläufer und Reservoirs

  • Welche intellektuellen Vorläufer und Reservoirs (in der Literatur, der Philosophie, den Naturwissenschaften - z. B. race theories oder Eugenik) werden in der Verbindung von Grenze und Autorität mobilisiert?
  • Wie unterscheiden sich die aktuellen autoritären Narrative und Politiken von langjährigen Paradigmen der Migrationsabwehr?
  • Auf welche Weise werden diese Vorgänger überarbeitet, und warum finden sie heute so großen Anklang?

Konzeptioneller Rahmen

  • Welche Konzeptualisierungen und Terminologien sind geeignet, um die Phänomene, die wir beobachten, treffend analytisch zu bezeichnen, welche Reichweite haben derartige Konzepte wie Faschismus, Rechtspopulismus, Autoritarismus, Rechtsextremismus, Nekropolitik?
  • Wie sollten wir den Begriff der Transformation verstehen? Gibt es einen Bruch oder eine Kontinuität mit früheren Zeiten, insbesondere mit (neo)liberalen Demokratien?

Disziplinäre Reflexion über Migration- und Grenzforschung

  • Wie können und sollten kritische Migrations- und Grenzforschung und Aktivismus auf diesen Transformationen reagieren und sich hierzu positionieren?

Wir freuen uns auf Abstracts von bis zu 500 Wörtern bis zum 15. April 2025.

In der Regel werden Texte in drei verschiedenen Formaten in der Zeitschrift veröffentlicht. Wir freuen uns über Abstracts für jedes der folgenden Formate:

  1. Akademische Artikel (max. 50.000 Zeichen, einschließlich Leerzeichen)
  2. Forschungsberichte, künstlerische und politische Interventionen in narrativer und nicht-narrativer Form, einschließlich Essays, Videos, Karten usw. (max. 30.000 Zeichen, einschließlich Leerzeichen)
  3. Interviews und Buchbesprechungen (max. 20.000 Zeichen, einschließlich Leerzeichen)

Bitte geben Sie bei der Einreichung eines Abstracts an, in welchem Format Ihr Beitrag erscheinen soll. Alle Beiträge werden von der Redaktion gemeinsam geprüft. Die Frist für die Einreichung vollständiger Beiträge (Artikel, Interventionen oder Rezensionen) ist der 1. September 2025. Akademische Artikel werden von mindestens zwei anonymen Experten begutachtet (Peer-Review). Das Redaktionsteam wird einen offenen Dialog mit den Autoren führen und Feedback und Vorschläge in einem transparenten Prozess diskutieren. Die endgültige Entscheidung über die Annahme von Beiträgen trifft der Redaktionsausschuss von movements. Die Ausgabe wird im Winter 2025/26 erscheinen.

Für die Einreichung von Abstracts und weitere Fragen wenden Sie sich bitte an Frank Wolff f.wolff@willy-brandt.de.

Weitere Informationen über das Journal und den Review-Prozess: http://movements-journal.org/issues/01.grenzregime/01.editorial.html.

Stylesheet und Hinweise zu den Textformen: http://movements-journal.org/redaktion/stylesheet.html.