Umkämpfte Bewegungen nach und durch EUropa

Zur Einleitung

Mathias Fiedler, Fabian Georgi, Lee Hielscher, Philipp Ratfisch, Lisa Riedner, Veit Schwab, Simon Sontowski

Als wir im Frühjahr 2016 den Call for Papers für die nun vorliegende Ausgabe 3 (1) der Zeitschrift movements formulierten, befand sich EUropa1 in einem migrationspolitischen Ausnahmezustand. Im Sommer und Herbst 2015, der als »der lange Sommer der Migration« (Kasparek/Speer 2015) in die Geschichte eingehen sollte, hatten mehr als eine Million Geflüchtete die EUropäischen Außengrenzen überwunden und sich über den neu entstandenen ›humanitären Korridor‹ weiter in Richtung Norden bewegt. Als Reaktion darauf begannen verschiedene EU-Mitgliedsstaaten im Winter 2015/2016, ihre Grenzen wieder systematisch zu kontrollieren und einzelne Grenzübergänge zu schließen. Gleichzeitig war das Dublin-System, durch das vor allem die Mitgliedsstaaten im Süden und Osten für die Bearbeitung von Asylanträgen verantwortlich gemacht werden, de facto außer Kraft gesetzt. Angesichts dieser Dynamiken stand neben den Außengrenzen, deren partielle Durchlässigkeit nun endgültig sichtbar geworden war, auch das Fortbestehen des Schengenraums auf dem Spiel – und mit ihm auch die reibungslose Zirkulation von Personen und Waren im Binnenmarkt, eine der neoliberalen Grundfesten der Europäischen Union. Zudem hing das Referendum über den Brexit wie ein Damoklesschwert über dem europäischen Projekt. Der damalige britische Premierminister David Cameron forderte, die EU-Personenfreizügigkeit einzuschränken und den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Staatsangehörige, die sich in Großbritannien niedergelassen hatten, weiter zu limitieren. Die diskursiven Figuren der ›Armutsmigration‹ und des ›Sozialtourismus‹ prägten eine zunehmend nationalistisch geführte Debatte um die Zukunft EUropas.

Das Migrations- und Grenzregime der EU war zu dieser Zeit somit dreifach in die wohl größte Krise seit seiner Entstehung geraten: Erstens hatten sich die gemeinsamen Außengrenzen als de facto nicht kontrollierbar erwiesen, zweitens brach das für (nord-)westeuropäische Staaten als Kompensation zur Abschaffung der Binnengrenzen eingesetzte Gemeinsame Europäische Asylsystem in sich zusammen und drittens wurde die Personenfreizügigkeit von Unionsbürger*innen sowie die Idee der ›sozialen Union‹ massiv in Frage gestellt.

Während diese drei Krisenerscheinungen sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in weiten Teilen der Migrationsforschung meist als getrennte Themen behandelt werden, rief unser Call for Papers dazu auf, sie analytisch zusammenzubringen. Dieser Verschränkung unterschiedlicher Krisentendenzen des Migrations- und Grenzregimes lag die Erkenntnis zugrunde, dass sich die »komplexen, heterogenen und machtförmigen Realitäten der Migration« (Redaktion movements 2015) nach und durch EUropa nicht adäquat erfassen lassen, wenn nicht auch die verschiedenen Facetten des EUropäischen Migrations- und Grenzregimes zueinander sowie zu übergreifenden gesellschaftlichen Transformationen ins Verhältnis gesetzt werden. Die durch dieses Regime vorgenommenen Unterscheidungen zwischen schutzbedürftigen Geflüchteten und illegalisierten Migrant*innen, zwischen legitimen Asylgründen und ›Asylmissbrauch‹ sowie zwischen erwünschter Mobilität von Arbeitskräften und sogenannter ›Armutszuwanderung‹ bzw. ›Sozialtourismus‹ sind allesamt Effekte des umkämpften Politik- und Wissensfeldes der Migration und daher nicht unabhängig voneinander zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund drängten sich uns für das vorliegende Heft eine Reihe von Fragen auf: Wie lassen sich die grenzüberschreitenden Bewegungen nach EUropa mit der umkämpften Regulierung von Migrationsbewegungen innerhalb EUropas zusammendenken? Mit welchen Modi des Regierens wird auf die turbulenten Bewegungen nach und durch EUropa reagiert und wie artikulieren sich diese in konkreten Praktiken, Konflikten und Kämpfen? Wie verschränken sich hier sowohl ökonomische, rassistische als auch humanitäre Logiken und wie verändern diese das EUropäische Migrations- und Grenzregime?

Im vorliegenden Heft präsentieren wir nun 14 Aufsätze, Forschungsberichte, Interventionen, Interviews sowie einen Foto-Essay und eine Video-Collage, die diese umkämpften Bewegungen nach und durch EUropa2 aus der Perspektive einer kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung untersuchen. Sie zeigen, wie sich verschiedene Differenzierungen – aufenthaltsrechtliche, sozialrechtliche, rassistische, sexistische – oft widersprüchlich, aber stets wirkmächtig miteinander verknüpfen. Sie verorten die Bewegungen der Migration empirisch in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen und betten sie in soziale Fragen ein, anstatt sie als ›Problemfälle‹ von diesen abzugrenzen. Sie versuchen, die oben genannten Dualismen zu überwinden und leisten dabei mehr, als wir antizipieren konnten. Sie skizzieren ein Set an Herangehensweisen, das es erlaubt, die umkämpfte Produktion und ›Produktivität‹ solcher Differenzierungen zu untersuchen, statt sie als vorab gegeben vorauszusetzen.

Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung

Die in dieser Ausgabe von movements versammelten Arbeiten knüpfen aus unterschiedlichen Blickwinkeln an die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung an, die sich seit den 2000er Jahren im deutschsprachigen Raum entwickelt hat (vgl. Transit Migration Forschungsgruppe 2007; Hess/Kasparek 2010; Heimeshoff et al. 2014; Hess et al. 2016). Ausgangspunkt dieser heterogenen Forschungsrichtung ist nicht nur ein macht- und herrschaftssensibler Blick auf staatliche und nichtstaatliche Praktiken der Migrationskontrolle. Beteiligte Forscher*innen untersuchen dynamische Regime als Zusammenspiel unterschiedlicher Diskurse, Praktiken, Akteur*innen und Subjektivitäten im Rahmen gesellschaftlicher Machtverhältnisse und gehen davon aus, dass Migrationsbewegungen selbst einen relativ eigenständigen Einfluss auf diese Verhältnisse ausüben, der sich nicht gänzlich kontrollieren lässt (vgl. Karakayali/Tsianos 2007). Sie nehmen soziale Räume und Verhältnisse in den Blick, in denen globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduziert, aber auch infrage gestellt werden: Grenzräume in ihren unterschiedlichen de- und reterritorialisierten Formen (vgl. hierzu etwa Mezzadra/Neilson 2013; Luibhéid 1998; Rumford 2006; Walters 2011). Ziel kritischer Migrations- und Grenzregimeforschung ist es, Wissen zu produzieren, das zu emanzipatorischen sozialen Bewegungen und den Kämpfen der Migration beiträgt.

Innerhalb der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung existiert eine Vielzahl unterschiedlicher, sich zum Teil auch widersprechender Herangehensweisen, mit denen versucht wird, sich diesem Themenkomplex zu nähern. Wie in anderen Forschungsfeldern auch, gibt es etwa Differenzen und Verknüpfungen zwischen historisch-materialistischen, ethnographischen, poststrukturalistischen, gendertheoretischen bzw. feministischen, rassismustheoretischen, intersektionalen und postkolonialen Ansätzen. Diese Heterogenität der Ansätze auf Basis eines mehr oder minder konsensualen Verständnisses kritischer Wissenschaft entspricht einer Heterogenität spezifischer Methoden, die von der ethnographischen Grenzregimeanalyse über Dispositiv- und Diskursanalysen und Ideologiekritiken bis hin zu politökonomischen Analysen reicht.

Die verschiedenen Herangehensweisen eint der Anspruch, die eigene Situierung innerhalb des Forschungsprozesses und ihre Machtimplikationen stets mitzudenken. Denn es ist gerade eine offene, ständige Reflexion der Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer Forschende Wissen über Migration und ihre Regulation produzieren, die eine kritische Perspektive auszeichnet. Tatsächlich, dies sollte inzwischen klar sein, ist wissenschaftliche Tätigkeit nie politisch neutral. Ob Forschende wollen oder nicht, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, ob sie es offen zugeben und öffentlich reflektieren oder nicht – ihre soziale Stellung, ihre Finanzierung, die Funktionen und Effekte ihrer Tätigkeit haben einen zutiefst politischen Charakter: Wissenschaftler*innen »sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen« (Horkheimer 2003 [1937]: 213).

In weiten Teilen der Migrationsforschung ist eine solche reflexive Perspektive kaum vertreten. Häufig wird eine Wissensproduktion betrieben, die sich an Angebot und Nachfrage etablierter staatlicher und nichtstaatlicher Akteur*innen der Regierung von Migration orientiert – oder sich zumindest mit ihren Interessen überschneidet – und ihre Terminologien und Kategorisierungen unhinterfragt übernimmt. Zumindest teilweise trifft das auch auf die sich derzeit im deutschsprachigen Raum konstituierende »Flüchtlingsforschung« zu, die sich bewusst von einer weiter gefassten Migrationsforschung abgrenzt und sich dezidiert dem Phänomen der Zwangsmigration widmet (vgl. beispielsweise Kleist 2015; Z’Flucht. Zeitschrift für Flüchtlingsforschung, im Erscheinen). Sie vertritt eine analytisch und politisch zu treffende Unterscheidung zwischen ›Flucht‹ und ›Migration‹ bzw. zwischen den Subjektfiguren ›Flüchtling‹ und ›Migrant*in‹ und entsprechender Migrationsmotivationen, Bedürfnislagen und damit einhergehender Lebensrealitäten. Damit blendet sie nicht nur aus, dass sich in Migrationsbiografien häufig unterschiedliche Lebenssituationen und Motivationen überlagern, die eine eindeutige Trennung verunmöglichen (vgl. Castles 2007; Picozza in diesem Heft), sondern übersieht auch die kontingenten Produktionsprozesse und die Effekte solcher Differenzierungen. So läuft sie Gefahr, ein essentialisierendes und exkludierendes Verständnis von ›Flucht‹ als analytische Perspektive zu reproduzieren, das sich auch zur Legitimation von kontrollpolitischen Exklusionen instrumentalisieren lässt. Denn sie unterstützt die im derzeitigen internationalen Flüchtlingsregime angelegte Trennung in eine vermeintlich ›legitime‹, da unfreiwillige, und eine ›illegitime‹, weil angeblich nicht aus einer ›Not‹ entsprungene Mobilität (vgl. ILO 2001; UNHCR/IOM 2001; Feller 2005; kritisch zum Verhältnis von Wissensproduktion und Migrationskontrolle vgl. Hatton 2011; Chimni 1998, 2008; Hansen/Jonsson 2011; Scalettaris 2007; Scheel/Ratfisch 2014).

Dagegen ist es im Sinne einer machtsensiblen Forschung entscheidend, gerade auch die rechtliche und politische Unterscheidung zwischen ›Flüchtlingen‹ und ›Migrant*innen‹ bzw. ›Flucht‹ und ›Migration‹ (sowie ihre beständige Aktualisierung und Subversion) nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie explizit zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen und sie auf ihre Auswirkungen auf das Leben Migrierender zu befragen. Wie in den Beiträgen dieser Ausgabe von movements deutlich wird, schließt eine solche Perspektive keineswegs aus, die Lebensrealitäten und Machtverhältnisse spezifischer Migrationspraktiken und Subjektpositionen in den Blick zu nehmen. In einer gesellschaftlichen Situation, in der der Abbau des Asylrechts global vorangetrieben wird – in Deutschland etwa mit der härtesten Asylrechtsverschärfung seit zwei Jahrzehnten – ist es in unseren Augen jedoch zentral, den Blick zu weiten: Dies bedeutet, die genannten Dynamiken in Relation zur Regierung anderer ›(un-)erwünschter‹ Formen der Migration zu analysieren, und die Rechte aller Migrierender einzufordern – und zwar unabhängig davon, ob sie in institutionelle oder sozialwissenschaftliche Raster und forschungspolitische Konjunkturen passen.

In dieser Ausgabe

In dieser Ausgabe präsentieren wir Forschungsarbeiten, deren empirischer Fokus größtenteils quer zu etablierten Kategorisierungen liegt. Die Beiträge zeigen in ihrer Gesamtschau, wie Versuche des Regierens der vielfältigen und umkämpften Bewegungen nach und durch EUropa jene Kategorien konstruieren, die Migration erst als Problem konstituieren. Sie betreiben also keine ›Migrant*innenforschung‹, sondern untersuchen Prozesse der »Migrantisierung« (vgl. Labor Migration 2015; Buckel 2013: 132; Georgi/Schatral 2012: 211). Der aussagekräftige Titel einer Veranstaltungsreihe des Precarity Offices in Wien, »if the door shuts behind you, you are a migrant« (vgl. Hansen/Zechner in diesem Heft), und die Definition »Migration = Mobilität + Rassismus« (vgl. Riedner in diesem Heft) machen diesen Fokus besonders deutlich. Darüber hinaus verbinden sie die Frage, wie Bewegungen der Migration neue emanzipatorische politische Praxen hervorbringen, mit übergreifenden sozialen Fragen und betreiben Migrationsforschung damit als Gesellschaftsforschung. Sie untersuchen, wie genau als Migrant*innen problematisierte Personen durch Versuche des Regierens in intersektional vermittelten Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen verortet werden und qualifizieren damit den Begriff der differenziellen Inklusion (vgl. etwa Mezzadra/Neilson 2013), der ansonsten oft bei der fast tautologischen Feststellung stehen bleibt, dass Migrationsregime Subjekte auf unterschiedliche Weise in die Gesellschaft inkludieren.

Eine erste derartige Verschränkung nehmen Katherine Braun und Robert Matthies in ihrem Aufsatz in den Blick, der nachverfolgt, wie illegalisierte Migrant*innen aus Bolivien in Genf als Resultat selbstorganisierter Kämpfe größtenteils repressionsfrei leben können, während andere Migrant*innen rassistisch kriminalisiert werden, auch wenn sie auf dem Papier über einen legalen Aufenthaltsstatus verfügen. Als Folge einer humanitären Willkommenskultur, mit der sich nicht nur Genf als globale Einwanderungsstadt inszeniert, diagnostizieren sie eine »Ökonomisierung der Menschenrechte« und das Entstehen einer »meritokratischen Bürgerschaft«, bei der Rechte auf Grundlage von »Aktivität, Selbstsorge und unternehmerische[n] Eigenschaften und Fähigkeiten« vergeben werden bzw. erst erworben werden müssen. Auf der Kehrseite wird denjenigen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, als Anti-Bürger*innen »die Fähigkeit zur Eigenverantwortung abgesprochen«, und ihnen werden »keine vollen Rechte zugesprochen«.

Eine ähnlich widersprüchliche Zuweisung von Rechten steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Jacob Lind und Maria Persdotter über das schwedische Bildungssystem. Anhand einer Diskursanalyse verschiedener Policy-Dokumente zeigen sie, wie innerhalb des schwedischen Bildungs- und Migrationsregimes unterschiedliche Rechtsnormen aufeinandertreffen, die illegalisierten Migrant*innen in Schweden ein Recht auf Bildung zusprechen, während sie den Kindern von aufenthaltsrechtlich privilegierten EU-Migrant*innen den Schulbesuch untersagen. Damit decken die Autor*innen ein Spannungsverhältnis zwischen Aufenthalts- und sozialen Rechten auf, das die territoriale Konzeption bürgerschaftlicher Rechte in Frage stellt. Ähnlich wie im Beitrag von Lisa Riedner zeigt sich hier, wie soziale Rechte auf scheinbar paradoxe Weise von aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit bzw. »deportability« (De Genova 2002) abhängen: Menschen, die leicht abgeschoben werden können, bekommen mitunter soziale Rechte eher zugesprochen als solche, deren Aufenthaltsrecht stabiler ist.

Wie produktiv es sein kann, die Bewegungen nach und durch EUropa analytisch zu verschränken, zeigt Fiorenza Picozza in ihrem Artikel über die fragmentierten Geographien des Dubliner Asylregimes während des langen Sommers der Migration. Indem sie den Reisen sogenannter ›Dubliners‹ folgt, die zuweilen als Asylsuchende, oft aber auch als illegalisierte Migrant*innen, als Arbeitsmigrant*innen oder als anerkannte Flüchtlinge in EUropa unterwegs sind, kann sie deutlich machen, wie fluide und wandelbar die (rechtlichen) Kategorisierungen innerhalb des Dublin-Regimes sind. Indem sie diese Fluidität jedoch nicht als Versagen, sondern als konstitutiven Bestandteil des differenzierenden EUropäischen Migrationsregimes deutet, zeigt sie gleichzeitig die Produktivität dieses Regimes auf, das mit Hilfe spezifischer räumlicher und zeitlicher Formen des Regierens manche Migrant*innen innerhalb der EU erst zu Flüchtlingen werden lässt.

Lisa Riedner fokussiert in ihrer Analyse hingegen auf die EU-interne Migration von Unionsbürger*innen. Mit Blick auf das deutsche und EUropäische Workfare-Regime arbeitet sie heraus, dass Freizügigkeitsrechte und daran geknüpfte Sozialleistungen für EU-Migrant*innen zunehmend vom Grad ihrer Aktivität auf dem Arbeitsmarkt abhängig gemacht werden. Auf der Basis ethnographischen Materials, von Interviews und der Analyse von Policy-Dokumenten sowie mit Blick auf die lokale, nationale und EUropäische Ebene kann sie zeigen, wie soziale Rechte selektiv vorenthalten und die deutschen Sozialämter zu neuen ›Grenzbehörden‹ werden. Sie entscheiden über das Recht auf Freizügigkeit und lassen sich dabei vor allem von Kriterien der ökonomischen Verwertbarkeit leiten.

Der darauf folgende Artikel von Bue Rübner Hansen und Manuela Zechner widmet sich dezidiert der aus dieser Entrechtung entstehenden Prekarisierung. Die Autor*innen fragen danach, wie EU-Migrant*innen aus Südeuropa neue Politiken der informellen Reproduktion schaffen. Dabei analysieren sie, inwiefern diese Reproduktionsstrategien mit den Erfahrungen von Menschen verbunden sind, die zuvor der Mittelschicht angehörten, aber im Zuge der Krisen und ihrer eigenen Migration ›deklassiert‹ wurden. Sie beziehen sich dabei auf die politischen Praxen in verschiedenen Organisierungen prekärer EU-Migrant*innen, unter anderem auf ihre eigenen Erfahrungen im Prekär Café Wien.

Gabriella Alberti komplementiert die in diesem Heft versammelten Analysen mit einem nur auf unserer Homepage movements-journal.org publizierten Artikel, der sich sozio-ökonomischen Dynamiken zwischen Großbritannien und der EU widmet. Sie zeigt auf, wie die sozialen Rechte von EU-Migrant*innen in Großbritannien immer mehr auf das Workfare-Paradigma zugeschnitten werden. Die aktive Teilnahme am Arbeitsmarkt wird dort zur Bedingung für soziale Rechte. Sie argumentiert, dass auf diese Weise ein Pool an prekärer Arbeitskraft produziert wird, um in Zeiten der Krise Lohnkosten zu drücken. Viele Unionsbürger*innen finden sich so als working poor wieder.

Auch die Beiträge der Kategorie Forschungswerkstatt widmen sich den widersprüchlichen Dynamiken der Regierung von Migration nach und durch EUropa. Laura Scheinert untersucht, wie in den temporären Humanitären Aufnahmeprogrammen in Deutschland binäre Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen und Migrant*innen einerseits konstruiert, andererseits aber auch unterlaufen werden. Dabei stellt sie fest, dass die Programme eine Hierarchisierung von Rechten fortschreiben und es ihnen nicht gelingt, Fragen der politischen Partizipation und der demokratischen Legitimität adäquat zu adressieren.

Kiri Santer und Vera Wriedt analysieren in ihrem Artikel die umkämpften Bewegungen entlang des sogenannten ›humanitären Korridors‹ auf dem Westbalkan 2015/2016. Sie zeigen, wie sich zwischen Mitte 2015 und Frühling 2016 entlang des Korridors massive Widersprüche zwischen dem Recht de jure und dem Recht de facto artikulierten, durch die tausende Flüchtende dazu in die Lage versetzt wurden, verhältnismäßig schnell und sicher zahlreiche Grenzen zu überwinden. Einerseits operierten staatliche Behörden als effektive Schlepper oder Fluchthelfer, andererseits übten andere Behörden immer wieder Repression gegen bestimmte Gruppen von Migrant*innen aus, woran sowohl die Fragilität als auch die repressive Grundstruktur des Migrations- und Grenzregimes sichtbar wird.

Fritz Rickert arbeitet die Entstehungsgeschichte des türkischen Migrationsgesetzes von 2014 auf und zeigt, welchen Einfluss die EU, die IOM sowie der UNHCR auf die Ausgestaltung dieses Gesetzes ausübten. Gleichzeitig analysiert er, wie und warum das Gesetz zu einer Voraussetzung für den menschenrechtlich problematischen EU-Türkei-Deal vom März 2016 werden konnte, der die tausendfachen Überfahrten auf die griechischen Inseln stark einschränkte. Der Text leistet einen wichtigen Beitrag, um die Vorgeschichte des türkisch-europäischen Abkommens zu verstehen und zeigt deutlich die hegemonialen Ansprüche des Projekts EUropa auf.

Mathias Fiedler und Lee Hielscher untersuchen die Arbeitsverhältnisse der Fleischindustrie in Niedersachsen und zeigen, wie die deutschen Regelungen der Werkvertrags- und Leiharbeit extreme Ausbeutungsverhältnisse ermöglichen und wie Beratungsstellen zu widerständigen Orten der Wissensproduktion und Organisierung werden können. Zusammen mit dem Interview mit Bogdan Droma am Ende dieses Heftes, der vom Arbeitskampf gegen die Berliner ›Mall of Shame‹ berichtet, geben sie anschauliche Einblicke in aktuelle kapitalistische Konjunkturen. Beide Texte zeigen aus der Perspektive der Arbeitskämpfe, welche Folgen die Konditionalisierung sozialer Rechte auf Ausbeutungsverhältnisse hat, und schärfen den antirassistischen Blick auf die Zwänge kapitalistischer Reproduktion.

Die drei Beiträge in der Kategorie Interventionen machen deutlich, auf welch vielfältige und komplexe Art kritische Wissensproduktion mit emanzipatorischem Veränderungswillen verbunden ist. Die Kritik des Textes von Miriam Lang richtet sich auf die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung im deutschsprachigen Raum. Lang wirft dieser vor, implizit eurozentristisch zu agieren, da sie den globalen Süden und Fluchtursachen bislang fast völlig ausgeblendet habe. Sie plädiert für eine intensive Auseinandersetzung mit Fluchtursachen, ohne der in Mainstream-Diskursen damit assoziierten Verhinderung von Migration das Wort zu reden. Stattdessen könne die Analyse und Kritik von Fluchtursachen aus der Perspektive von Degrowth-Debatten geleistet werden: Durch den Übergang zu einem Postwachstums-Paradigma könnten Fluchtursachen aufgehoben und zugleich ein besseres Leben für Menschen im globalen Süden und Norden erreicht werden.

Aino Korvensyrjä regt in ihrer Intervention hingegen eine kritische Selbstreflektion der Forschungen zur Externalisierung von Grenzkontrollen an. Am Beispiel der EU-Afrikanischen Migrationsabkommen arbeitet sie die geopolitischen und souveränitätstheoretischen Imaginationen der kritischen Externalisierungsforschung heraus und macht gleichzeitig deren impliziten Eurozentrismus und ihre Geschichtsvergessenheit sichtbar. Dem stellt sie eine postkoloniale Perspektive auf die umkämpfte Geschichte europäischer Migrationskontrollpolitiken entgegen, die sich explizit auch auf kritische und emanzipatorische Wissensproduktionen migrantischer sozialer Bewegungen bezieht.

Anja Breljaks Essay widmet sich dem Thema Grenze aus subjektivationstheoretischer und phänomenologischer Perspektive. Als Ergänzung zu einer kritischen Auseinandersetzung, die die komplexe Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Praxis von Grenzen im Gegensatz zu starren und abstrahierenden Perspektiven hervorhebt, wirft die Autorin einen genauen Blick auf die ambivalenten Positionierungen zwischen Autonomie und Heteronomie, die in der Alltagspraxis der Grenzkontrolle entstehen.

Bethi Ngari von Women in Exile spricht in dem von Nina Kullrich geführten Interview darüber, wie schwierig es ist, geflüchtete Frauen politisch zu mobilisieren und zu ermächtigen, da häufig sie diejenigen sind, die sich um die Familien kümmern müssen. Sie erzählt, wie es der von geflüchteten Frauen gegründeten feministischen Gruppe dennoch immer wieder gelingt, indem sie die Frauen in den Lagern aufsucht und mit ihnen ins Gespräch kommt, Workshops organisiert und gemeinsam mit ihnen auf Demonstrationen geht. Zudem berichtet Ngari von den Möglichkeiten, aber auch genderpolitischen Herausforderungen einer Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, wie sie sich beispielsweise in den Konflikten während der in Hamburg stattgefundenen »International Conference of Refugees and Migrants« im Februar 2016 kristallisiert haben, und geht der Frage nach, warum die Gruppe den Begriff ›friends‹ benutzt, um verbündete Gruppen in die eigene Arbeit einzubeziehen.

Beginnen möchten wir diese movements-Ausgabe aber mit dem Foto-Essay Bitter Oranges von Carole Reckinger, Gilles Reckinger und Diana Reiners, der einen Einblick in die Arbeits- und Lebensverhältnisse migrantischer Arbeiter*innen auf den Orangenplantagen Süditaliens im Sommer 2012 gibt. In der Online-Ausgabe findet sich zudem eine Video-Collage von Mathias Fiedler, der den Arbeitskampf von Bauarbeitern der ›Mall of Berlin‹ (bzw. ›Mall of Shame‹) dokumentarisch begleitet hat, von dem Bogdan Droma in seinem von Nadiye Ünsal, Leila Saadna und Emal Ghamsharick produzierten Interview berichtet.

Wir danken allen Autor*innen und den an den Peer-Reviews der Aufsätze beteiligten Gutachter*innen sowie unserer Englisch-Lektorin Christina Rogers für die engagierte Zusammenarbeit. Wir hoffen, mit der vorliegenden Ausgabe von movements zur Diskussion und Reflexion des EUropäischen Migrations- und Grenzregimes sowie zu einem kritischen Verständnis von dessen kapitalistischen und humanitären Logiken des Regierens beitragen zu können.

Literatur

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  • Volume: 3
  • Issue: 1
  • Year: 2017


Mathias Fiedler ist Soziologe und Kulturanthropologe. Er erforscht Migrationsmanagement und richtet sein Hauptaugenmerk auf die Überschneidungen von Humanitarismus, Arbeitsregimen und Asyl. Er ist ein aktives Mitglied bei der Forschungsassoziation bordermonitoring.eu.

Fabian Georgi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Er ist Mitglied der Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹ und arbeitet aus materialistischer Sicht zu Migrationspolitik und zur Eurokrise.

Lee Hielscher arbeitet ethnographisch und aktivistisch zu Mobilitäten von Arbeiter*innen und struktureller Ausbeutung in der EU, dem Regieren von Migration in der Stadt sowie rassistischen Dynamiken, Figuren und Wissensarchiven.

Philipp Ratfisch promoviert am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück.

Lisa Riedner hat zu der Frage promoviert, wie EU-interne Migration in München regiert wird. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zum Verhältnis von migrantischen Selbstorganisationen und Gewerkschaften an der Universität Göttingen. Sie ist Gründungsmitglied der Initiative Zivilcourage und der Gruppe Workers’ Center in München, des kritnet und des Netzwerks e4a.

Veit Schwab promoviert am Centre for Applied Linguistics (CAL) und Department for Politics and International Studies (PaIS) an der University of Warwick (Großbritannien) und forscht zur Praxis konzeptueller Grenzziehungen, mit besonderem Fokus auf die Unterscheidung zwischen ›Arbeits-‹ und ›Fluchtmigration‹.

Simon Sontowski arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Zürich. Er ist Gründungsmitglied der movements-Redaktion und forscht zu aktuellen Transformationen des europäischen Grenzregimes.